Einfluss des Reifenalters
Zum Auftakt ziehen wir zwei vermeintlich identische Reifensets auf. Eine Paarung wurde fachgerecht gelagert, die andere wurde ein Jahr lang hochdosiert mit UV-Licht beschossen. Wie fährt sich die künstlich gealterte Reifenpaarung im Vergleich?
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Reifenalter, Reifenfülldruck, Reifen wuchten
Motorradreifen und ihre Probleme
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Reifenhändler können ein Lied von kritischen Kunden singen, die den neuen Satz an der Ladentheke prüfend beäugen und ihn mit den Worten „Der ist mir schon zu alt!“ zurückgehen lassen. Das tatsächliche Reifenalter kann jeder Laie auf einen Blick entschlüsseln. Doch ab wann ist ein Neureifen wirklich zu alt, und wie verändern sich seine Qualitäten mit zunehmendem Alter?
Um dies einmal im Vergleich zu klären, lagerten wir ein Jahr lang zwei fabrikneue Sätze des beliebten Michelin Pilot Power 2 CT an zwei unterschiedlichen Orten: das eine Set kühl, trocken und dunkel – so wie es auch vom Hersteller empfohlen wird – im MOTORRAD-Reifenlager, das andere dagegen mit direktem Sonnen- und Hitzebeschuss in einem Gewächshaus.
Ziel war es, die zweite Reifenpaarung möglichst schnell altern zu lassen. Bislang, so jedenfalls die Erkenntnis von MOTORRAD-Autor und Gewächshaus-Eigner Ralf Schneider, hat die Einfachverglasung Kunststoffe aller Art in kürzester Zeit mächtig mürbe machen können. Gummidichtungen sind schon nach wenigen Monaten so porös, dass sie in der Hand förmlich zerbröseln. Spannend also, wie sich der so malträtierte Pilot Power 2 CT im Vergleich zur mehr oder minder fabrikneuen Paarung auf der Teststrecke schlagen wird.
Wie lässt sich erkennen, wann der Reifen hergestellt wurde?
Auf jedem Reifen ist eine sogenannte DOT-Nummer (Abkürzung für Department of Transport, das US-Verkehrsministerium) aufgebracht – siehe auch auf dem Foto hier oben rechts. Die vier Ziffern stehen für Produktionswoche und -jahr, folglich ist dieser Reifen in der 25. Kalenderwoche 2015 hergestellt worden.
Ab wann gilt ein Neureifen als zu alt?
Das ist inzwischen rechtlich einwandfrei geklärt: Ein fabrikneuer Reifen gilt auch fünf Jahre nach seiner Fertigstellung noch als neu. Insofern kann ein Händler in diesem Jahr noch Reifen, die im Sommer 2012 hergestellt wurden, als Neuware verkaufen. Sofern die Reifen ordnungsgemäß gelagert wurden, ist das nach Herstellermeinung auch nicht problematisch: Den Gummimischungen werden dazu Substanzen wie Weichmacher und UV-Schutzmittel beigemischt, die einen alterungsbedingten Leistungsabfall reduzieren sollen. Manche Hersteller wie z. B. Bridgestone geben Reifen, die älter als drei Jahre sind, bereits mit entsprechendem Nachlass an den Handel ab. Bevor man also den Reifen wegen seines Alters zurückweist, sollte man den Händler eher auf einen möglichen Rabatt ansprechen.
Wann spätestens sollte ein montierter Reifen getauscht werden?
Rechtlich relevant ist zunächst nur das Erreichen der Mindestprofiltiefe: Unter 1,6 Millimetern muss der Reifen gewechselt werden – das gilt bei Autos wie Motorrädern gleichermaßen. Übrigens sollte man sich dazu nicht an den in den Profilrinnen sichtbaren Verschleißmarken orientieren. Diese TWI-Stege („Tread Wear Indicator“) sind nach US-amerikanischer DOT-Norm nämlich nur 0,8 Millimeter hoch. Auf der Felge altert ein Reifen natürlich anders als im Reifenlager. UV-Strahlen, Ozonbelastung, Feuchtigkeit und Hitze knabbern an der Performance, sodass der Reifen trotz ausreichend vorhandenem Restprofil bereits nach sieben Jahren in seiner Leistungsfähigkeit spürbar nachgelassen hat. Verfärbungen im Gummi sind erste Anzeichen. Spätestens aber wenn sich Risse in der Seitenwand gebildet haben, gehört ein frischer Reifen auf die Felge.
Wie stark lässt die Performance von zu alten Reifen nach?
Unsere Gewächshaus-Simulation hat das eine Testreifenpaar um zirka vier bis fünf Jahre altern lassen – nach Einschätzung von Herstellern wäre solch ein Reifen auch im tatsächlichen Leben noch bedenkenlos verwendbar. Auf dem Handlingparcours simulieren wir eine flotte Landstraßenrunde. Unterschiede sind zwischen unserem „Neu-“ und „Altreifen“ nicht messbar. Beide Power-Sätze überzeugen mit ihren bekannt guten Alltagseigenschaften. Etwas habhafter wird die Leistungsmessung auf der Nassteststrecke, die den Rückschluss zulässt, dass der Aushärtprozess in vollem Gange ist.
Fazit: Stimmen die Lagerbedingungen, sind Reifen über viele Jahre haltbar. Im Einsatz altern sie natürlich deutlich schneller. Verfärbungen sind erste Anzeichen des Alterungsprozesses, bilden sich Risse, ist der Reifen austauschreif. In unserem Testlauf konnte das künstlich gealterte Reifenpaar erstaunlich gut mithalten. Nur im Extremtest bei Regen fiel die Leistung leicht ab.
Optimaler Reifenfülldruck
Immer wieder fragen Leser nach dem optimalen Luftdruck für ihr Bike. Wir haben bei unserer Test-Kawasaki ZX-10R deshalb Luft rausgelassen und Druck aufgebaut. Kann man mit abgesenktem Fülldruck plötzlich neue Bestzeiten auf der Hausstrecke fahren?
Befragt man Motorrad- und Reifenhersteller zum optimalen Luftdruck, gibt es meist nur eine Standardantwort: 2,5 bar vorn, 2,9 bar hinten – so (viel) muss es sein, wenn es sich um weitverbreitete Sportreifen in Radialbauweise handelt. Allerdings gibt es für den Rennstreckeneinsatz meist andere Empfehlungen, die zum Teil deutlich unter den extrem harten Alltagsvorgaben liegen. Kann damit nun auch ein sportlich engagierter Straßenfahrer etwas anfangen, oder ist Absenken ein absolutes No-Go? Rollen wir mit unserem Michelin Power 3-Pärchen (dem neuen, top gelagerten versteht sich) deshalb einmal mit unterschiedlicher Druckbefüllung auf die Teststrecke.
Wie setzt sich eigentlich der Standardluftdruck zusammen?
Die Reifen-Fülldruckempfehlung wird in der Regel von den Fahrzeugherstellern in Absprache mit den Reifenlieferanten festgelegt. In erster Linie folgt diese Luftdruckabstimmung gesetzlichen Normen, mit denen ein bestmögliches Maß an Sicherheit gewährleistet werden soll. Praktische Aspekte werden an dieser Stelle mehr oder minder ausgeblendet. Denn nur so ist zu erklären, dass sich dieser „Radial-Normfülldruck“ mit 2,5 bar vorn und 2,9 hinten bei leichten Sportbikes und schweren Tourenkrädern nicht unterscheidet. In erster Linie geht es bei dieser harten Abstimmung darum, dass die maximal zulässige Traglast in Verbindung mit der erreichbaren Höchstgeschwindigkeit sichergestellt ist. Die Luftdruckangabe kann in der Bedienungsanleitung nachgeschlagen werden, dazu finden sich meist auch Hinweise am Motorrad selbst, etwa an der Schwinge, unter der Sitzbank oder am Rahmen. Und auch ganz wichtig: Die Angaben gelten für kalte Reifen. Wer misst bzw. nachfüllen will, muss dieses auf jeden Fall vor der Fahrt machen.
Darf man den Luftdruck eigenmächtig absenken?
Eine Vorschrift, mit welchem Fülldruck man unterwegs sein muss, gibt es nicht. Also lautet die klare Antwort: Ja! Alle Angaben haben reinen Empfehlungscharakter. Allerdings übernehmen die Hersteller natürlich keine Gewähr, wenn es mit abgesenktem Luftdruck zu Problemen oder gar Schäden am Reifen oder am Motorrad kommt. Im Idealfall legen Fahrzeughersteller tatsächlich mehrere Empfehlungen fest (beim Auto ist dieses Usus): Zusätzlich zu der Volllastempfehlung (2,5/2,9 bar) kann es z. B. noch eine für die Solo-Fahrt auf der Landstraße oder eine für den Teillastbetrieb (z. B. mit Beladung/Koffern) geben.
Können sich sportliche Fahrer am Rennstrecken-Fülldruck orientieren?
Grundsätzlich ist es natürlich sinnvoll, den Luftdruck an die tatsächliche Belastung anzupassen. Mit mehr Luftdruck gewinnt man vor allem an Stabilität, dazu kann sich das Motorrad auch präziser steuern und handlicher bewegen lassen. Senkt man den Fülldruck, gewinnt man an Auflagefläche und damit an Grip und Traktion. Dazu steigen auch die Eigendämpfung und der Abrollkomfort. Je niedriger der Luftdruck ist, desto schneller kann aber die Reifentemperatur ansteigen – womit schlimmstenfalls der Reifen überhitzen kann; dann drohen strukturelle Schäden . Die Rennstrecken-Fülldrücke sind sehr individuell auf die Reifenkonstruktion und Temperaturen bis zu 80 Grad Celsius ausgelegt, die man im Alltag normalerweise nicht erreicht.
Gibt es den idealen Luftdruck für Alltagsfahrer?
Es gibt keinen Wert, den man pauschal und ähnlich wie die berühmten 2,5/2,9 bar in Stein meißeln kann. Selbst beim Test auf unserem Handlingparcours, der zwar keine echte Rennstrecke ist, aber schon sehr sportliches Fahren erlaubt, ist der für Power 3 empfohlene Rennstreckenwert (2,1/1,9 bar) keine optimale Wahl. Trotz kerniger Landstraßenhatz fehlt es dem Reifen an Stabilität und Lenkpräzision. Weiterhin sind nun höhere Lenkkräfte erforderlich, und der Aufstellimpuls beim Bremsen in Schräglage ist deutlich ausgeprägter zu spüren. Einen Vorteil, dass sich der Reifen schneller aufheizt und sich Haftung und Rückmeldung verbessern, kann man dagegen nicht wirklich wahrnehmen.
Fazit: Wer stets auf der sicheren Seite unterwegs sein will, sollte sich tatsächlich nur auf die Fülldruckempfehlungen der Hersteller verlassen. Für jemanden, der zwischendurch immer wieder mit Highspeed unterwegs ist, macht Absenken keinen Sinn. Genauso wenig kann man Rennstrecken-Fülldrücke für die Landstraße adaptieren. Bei Top-Konditionen (heiß, sonnig, trocken) können sportliche Landstraßenfahrer ausloten, ob sie den Druck vorne um bis zu 0,3 bar und hinten bis zu 0,4 bar reduzieren.
Unwuchten beseitigen
Zum Abschluss unseres Drei-Probleme-Tests geht's mit der Supersportrakete ins Hochgeschwindigkeitsoval. Wir haben dafür künstlich Unwuchten an den Rädern erzeugt und mehr Auswuchtgewichte als nötig aufgeklebt.
Einen perfekt ausbalancierten Motorradreifen wird man in der Realität kaum finden. Fertigungstoleranzen sind natürlich zulässig, stellen normalerweise aber kein Problem dar, sofern das Rad vor dem Einbau korrekt gewuchtet wurde. In diesem Testabschnitt geht es mit unserer Test-Kawasaki ZX-10R zunächst direkt auf die Piste. In der Praxis versuchen wir auszuloten, gegen welche Gefahren der Ninja-Pilot zu kämpfen hat, wenn die Räder nicht korrekt gewuchtet sind.
Wie erkennt man, ob die Räder überhaupt gewuchtet wurden?
Bei der Sichtprobe zunächst einmal daran, ob auf den Felgen Wuchtgewichte angebracht sind. Theoretisch ist es natürlich denkbar, dass der Reifen bei der Montage so geschickt positioniert wird, dass ein Anbringen von Ausgleichsgewichten überflüssig wird („Matching“). Doch die Wahrscheinlichkeit, dass sich Fertigungstoleranzen an Felge und Reifen durch geschickte Montage nahezu ausgleichen, ist sehr gering. Ob nun die Ausgleichsgewichte exakt positioniert sind, lässt sich tatsächlich nur im Fahrbetrieb feststellen
Welche Kräfte wirken auf nicht korrekt gewuchtete Räder ein?
Ein typischer Radial-Touren- oder Sportreifen in der weitverbreiteten 120er/180er-17-Zoll-Dimension wiegt vorne knapp fünf, hinten zum Teil über sieben Kilogramm. Auf den ersten Blick hört sich eine Ungleichheit bei der Gewichtsverteilung im Reifen, die ab Werk bis zu 50 Gramm betragen kann, noch recht harmlos an. Schließlich macht das gerade einmal ein Prozent vom Gesamtgewicht aus. In Fahrt wird das allerdings ein Riesenproblem. Und je schneller man fährt, desto gewaltiger wird’s. Ein Rechenbeispiel: Beträgt die Unwucht nur 20 Gramm, zerren durch die Fliehkraft bei Tempo 150 bereits zirka 120 Newton am Radumfang. Drehen wir unsere Test-Ninja zur Höchstgeschwindigkeit auf, beträgt die Kraft bei 300 km/h 460 Newton, das entspricht dem Gewicht einer sehr, sehr schlanken Sozia, knapp 46 Kilogramm.
Kann man mit nicht korrekt gewuchteten Rädern überhaupt fahren?
Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Natürlich kann es im Alltag passieren, dass sich die inzwischen weitverbreiteten Klebegewichte von der Felge gelöst haben. Das sollte man auf jeden Fall als Erstes prüfen, falls man plötzlich und unvermittelt gegen rätselhafte Fahrwerksunruhen oder das Lenkerflattern ankämpfen muss. Um die Belastungen einmal im schlimmsten Fall zu simulieren, haben wir unsere Reifentest-Kawasaki mit einer asymmetrischen Gewichtsverteilung am Rad ins Hochgeschwindigkeitsoval geschickt. 70 Gramm Mehrgewicht rotieren nun an der Vorderradfelge. Bereits ab Tempo 120 sind die Auswirkungen durch starke Vibrationen extrem zu spüren. Ab 180 km/h ist die ZX-10R unfahrbar. Die Erschütterungen sind so stark, dass sich nach vier Kilometern bereits Schrauben aus der Verkleidung losgerüttelt haben. Schrittweise reduzieren wir jetzt das Mehrgewicht. Die Probleme bleiben, treten aber erst bei etwas höherem Tempo auf: Unruhe ab 150, unfahrbar ab 200 km/h!
Welche Schäden drohen durch schlecht gewuchtete Räder?
Selbst leichte Vibrationen, die noch bei 15 Gramm Unwucht zu spüren sind, können auf Dauer Lager zerstören und Risse – sogar im Rahmen – verursachen. Auch die Reifen nutzen ungleichmäßig ab, was die Unwucht weiter verstärkt.
Fazit: Ohne korrekt gewuchtete Räder geht gar nichts vorwärts. Selbst Abweichungen im Zehn-Gramm-Bereich sind bereits bei Landstraßentempo durch Lenkerflattern zu spüren. Steigt die Geschwindigkeit, nehmen auch die Vibrationen deutlich zu. Beträgt die Unwucht mehr als 15 Gramm, drohen auf Dauer schwere Schäden am ganzen Motorrad.
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