Wollen Sie einmal Motorradtestfahrer sein? Ein tolles Leben, denken Sie jetzt: Reisen in ferne Länder, einchecken in piekfeinen Hotels, die Flotten-Tankkarte im Portemonnaie und stets ein picobello aufbereitetes Motorrad unterm Hintern. Hat die Sache einen Haken? Natürlich. Und den beschreiben wir jetzt: Ortstermin auf dem Circuit Paul Ricard in Le Castellet, Südfrankreich. Raus aus dem muckelig warmen Fahrerhaus des Sprinters, draußen empfängt uns ein trüber, feuchtkalter Wintertag. Bonjour Tristesse! Definitiv kein Wetter, um auf dem legendären Racetrack auf Zeitenjagd zu gehen, aber das war eh nicht der Plan.
Knie auf dem Boden und dann: Voll in die Eisen!
Denn abseits der Rennstrecke haben wir per Google Maps die perfekte Kreisbahn gefunden (siehe vorangegangene Doppelseite), die mit glatt geschmirgelter Asphaltdecke schon sehr bescheidene Gripverhältnisse bietet. Auch das widrige Wetter und die niedrigen Temperaturen spielen uns in die Karten. Schließlich wollen wir die Kurvenfunktion vier verschiedener Antiblockiersysteme vergleichen und das nicht bei eitel Sonnenschein, sondern in Situationen, wo es besonders gefragt und gefordert ist: Im Worst Case, beim Super-GAU, eben dann, wenn’s einfach brenzlig wird.

Der Versuchsaufbau steht, was fehlt? Natürlich, der willige Testfahrer. Der muss nun besonders abgebrüht sein, denn das, was gefordert ist, würde kein Otto Normalfahrer "auf Befehl" machen. Einrollen, Schräglage, Knie auf dem Boden und dann: Voll in die Eisen! Nicht dosieren! Blind bis zum Anschlag durchziehen! Einfach so! Zurück zur Eingangsfrage: Wollen Sie immer noch Motorradtestfahrer sein?
Gnadenlos zupacken, nicht dosieren
Natürlich widerspricht das unserer zum Teil jahrzehntealten Konditionierung als Motorradfahrer – einfach so in voller Schräglage voll in die Bremse zu langen. Dennoch kann es genug Schrecksituationen geben, die den überlebensnotwendigen Impuls in uns auslösen: BREMSEN!!! JETZT!!! Dann dosiert keiner mehr, dann greift jeder instinktiv zum Hebel und packt gnadenlos zu.

Rein physikalisch betrachtet ist natürlich auch die Standard-ABS-Bremse mit dieser Situation überfordert. Bei widrigem Wetter droht bereits unter 30 Prozent Schräglage bei einer Schreckbremsung durch zu viel Schlupf am Vorderrad die Sturzgefahr. Nun schlägt aber die große Stunde der ABS-Bremsanlagen, die mit einer Kurvenfunktion ausgestattet sind. In Sachen Hardware unterscheiden sich diese Systeme nicht großartig von herkömmlichen Antiblockersystemen, unverzichtbar ist aber ein Gyrosensor (auch IMU, inertiale Messeinheit genannt), mit dem die Schräglage erfasst wird. Die eigentliche Komplexität ist per Bits und Bytes in den Steuergeräten abgelegt. ModusOperandi: Wie viel Bremsdruck wird in der jeweiligen Fahrsituation zugelassen?
Einfachere und komplexere Kurven-ABS
Dazu können sich die Bremssysteme beispielsweise auch mit der Traktionskontrolle des Fahrzeugs kurzschließen. Damit genug der grauen Theorie, viel mehr interessiert uns an diesem grauen Tag, wie vier unterschiedlich aufgebaute Systeme von zwei führenden Anbietern (Bosch, Continental) in der Praxis funktionieren.
Im Wesentlichen handelt es sich bei beiden Zulieferern jeweils um ein "einfacheres" und ein "komplexeres" Kurven-Antiblockiersystem. Das Bosch MSC plus sowie das Conti MK100 MAB erfassen den Bremsdruck noch mit je einem Sensor, das MSC enhanced sowie das MK100 MIB EVO stellen mit vier Drucksensoren und Teil- bzw. Vollintegralfunktion derzeit das Nonplusultra an Regelperformance dar. Schaffen wir nun den Extremtest ohne Schrammen und Blessuren? Versuch macht kluch …
Bosch MSC plus in der Ducati Panigale V4 S Corse
Trägerfahrzeug für unseren Versuch mit dem "einfachen" Bosch-System ist die exklusive Ducati Panigale V4 S Corse. Allerdings beschränkt sich der Stuttgarter Zulieferer nicht auf ein reines ABS, sondern koppelt es als "Motorrad-Stabilitätskontrolle" (MSC) auch mit der Traktionskontrolle. Per CAN-Datenbus sind beide Regelsysteme so miteinander vernetzt, dass das ABS auch Drehmomentvorgaben senden kann, um z. B. in Schräglage die optimale Traktion sicherzustellen. In der Version "plus" arbeitet das Bosch-MSC mit einem Drucksensor, der den tatsächlich anliegenden Druck in der Handbremspumpe misst. Alle weiteren Drücke (hinten, Bremssättel) werden berechnet. Das MSC plus arbeitet bremskreisunabhängig, allein der Fahrer aktiviert die Vorder- und/oder Hinterradbremse. Bei der Konzeption standen auch kompakte Bauweise und geringes Gewicht (ca. 650 Gramm) im Vordergrund.

Fazit: ln der Ducati-Applikation lässt sich das Bosch MSC plus in drei Modi von "safe" bis "extrem" abstimmen. Das ABS 3 ist auf Sicherheit getrimmt und bringt die Panigale bei einer Schreckbremsung in Schräglage sicher zum Stehen. Beim ABS 2 wird’s deutlich heikler (Schlupf, Stoppie-Neigung, siehe Diagramm), ABS 1 ist als Versuch nicht zu simulieren.
Conti MK100 MIB EVO in der BMW S 1000 RR
Der zweite Supersportler in unserem ABS-Vergleich setzt auf ein deutlich komplexeres System vom Zulieferer Continental. Bei der 2019 neu erschienenen BMW S 1000 RR wird das MK100 MIB EVO verbaut, das neben der Kurven-ABS-Funktion auch eine Teilintegralregelung beinhaltet – erkennbar am Kürzel MIB, das für Motorrad-Integral-Bremssystem steht. Das Conti-ABS bezieht zur optimalen Bremskraftverteilung Informationen von gleich vier Drucksensoren, die an den Hauptbremszylindern sowie an den Rädern (Bremszangen) positioniert sind. Auch wenn der Fahrer nur die Vorderradbremse betätigt, wird das Hinterrad zur optimalen Kraftverteilung mit abgebremst. Die zur Schräglagenerkennung notwendige IMU-Einheit könnte auch auf der Platine des rund 1100 Gramm schweren Systems integriert werden – was aber von BMW-Seite aus nicht realisiert wurde.

Fazit: Mit bis zu fünf ABS-Einstellmöglichkeiten deckt die BMW nahezu jede Bremssituation ab. Die Kurven-Funktion in den Modi Rain, Road und Dynamic (nicht vorhanden in Race/Race Pro) ist sehr überzeugend. Die simulierte Schreckbremsung in hoher Schräglage bleibt selbst im scharfen Dynamic-Modus kontrollierbar. Rain und Road setzen auf absolute Sicherheit.
Conti MK100 MAB in der Triumph Speed Triple RS
Testmotorrad Nummer drei ist ebenfalls mit einem Conti-System bestückt, allerdings kommt in der Triumph das "einfachere" MK100 MAB zum Einsatz. Wie auch das Bosch MSC plus in der Ducati Panigale V4 S setzt dieses Conti-Modell in der Speed Triple RS auf lediglich einen Drucksensor, der im vorderen Radbremskreis verbaut ist. Die Standard-ABS-Funktionen kämen zwar auch ohne einen Drucksensor aus, doch ist dieser unverzichtbar, um auch in Schräglage eine sichere ABS-Regelung zu adaptieren. Wahlweise ließe sich je nach Anforderung des Fahrzeugherstellers beim 620 Gramm schweren MK100 MAB auch ein Sport-ABS für die Rennstrecke oder ein Offroad-ABS anpassen. Bei Triumphs Power Naked Bike gibt es zwei ABS-Modi zur Auswahl (Road, Track), wobei die Kurven-ABS-Funktion wie auch die Abhebeerkennung des Hinterrads im Track-Modus deaktiviert ist.

Fazit: Unterm Strich kommt die Triumph sowohl geradeaus wie auch im Road-Modus bei einer simulierten Schreckbremsung in Schräglage sicher zum Stehen. Aber: Die Regelintervalle des Conti-Systems sind am Lenker der Speed Triple RS im Vergleich deutlicher zu spüren als bei der KTM (Modus Road), BMW (Rain und Road) oder Ducati (ABS 3).
Bosch MSC enhanced in der KTM 1290 Super Duke GT
Der zweite Allroundsportler in dieser Testkonstellation trägt ein deutlich komplexeres ABS-Tool an Bord. Zulieferer Bosch steuert für die KTM 1290 Super Duke GT das MSC enhanced bei, das – vergleichbar mit dem Conti-ABS in der BMW S 1000 RR – mit vier Drucksensoren an beiden Hauptbremszylindern (Bremshebel und -pedal) sowie Rädern (Bremszangen) ausgestattet ist. Anders als das bereits beschriebene MSC plus in der Ducati Panigale arbeitet dieses Bosch-Modell in der KTM als Teilintegral-System und verteilt den Bremsdruck beim Betätigen des Handbremshebels auch nach hinten. Wird es herstellerseitig gewünscht, könnte es auch als Vollintegrallösung adaptiert werden und dann den Druck, egal ob vorne oder hinten gebremst wird, gleichmäßig auf beide Räder verteilen. Mit 1.150 Gramm ist das MSC enhanced ungefähr so schwer wie das Conti-Integral-ABS der BMW.

Fazit: KTM hat die Kurven-ABS-Funktion sehr defensiv abgestimmt. Im Vergleich zur Vollbremsung bei Geradeausfahrt spürt man bei gleicher Übung in Schräglage deutlich, wie der über den Handbremshebel eingeleitete "volle Druck" an der Zange förmlich weggeregelt wird. Allerdings lässt sich die 1290er unerschütterlich stabil und sicher zum Stehen bringen.
Fazit
Gibt es die ultimative Sturzversicherung? Nein, natürlich sind auch die besten Assistenzsysteme nicht vor der simplen Physik gefeit. Vorausschauendes Fahren ist immer noch die oberste Prämisse, wenn man stets oben bleiben will. Unser Test zeigt aber auch klar auf, dass die aktuelle ABS-Generation mit integrierter Kurvenfunktion sehr viel zur sicheren Lage in einer Extremsituation beitragen kann. Bei Gefahr im Verzug langt jeder reflexartig voll in die Eisen. Wohl dem, dessen Motorrad dann über eine ausgeklügelte Regelelektronik stabil runtergebremst wird. Unsere Testsimulation stellt allen vier Systemen der zwei großen Anbieter Bosch und Continental ein gutes Zeugnis aus. Nicht ein einziges Kurven-ABS hat in unserem Versuch versagt – auch wenn es unter der Lupe natürlich messbare Unterschiede gibt.