Das Geiseldrama in der Sahara, Teil 2

Das Geiseldrama in der Sahara, Teil 2 Das Warten

Im zweiten Tagebuch-Teil der 177 Tage währenden Entführung durch die Mudjahedin schildert Rainer Bracht die Befreiung der ersten Geiseln und die anschließende zermürbende Flucht durch die algerische Wüste. Währenddessen verfolgt seine Frau Petra die immer komplexeren Rettungsversuche der deutschen Regierung. Und beide versuchen, die Monate der Angst und des Wartens zu überstehen. Er in Algerien, sie in Detmold.

Das Warten Karte: MOTORRAD

Rainer: Seit nahezu drei Monaten sitzen wir nun in den Felslöchern des Tamelrik-Gebirges, und es bewegt sich nichts. Die Suchhubschrauber kommen schon lange nicht mehr, das Essen wird knapper und das Nichtstun immer bedrückender. Wir dösen nur noch vor uns hin. Die Verfassung in unserer Gruppe ist unterschiedlich. Mir, von Natur aus eher geduldig, geht es ganz gut, anderen setzt unsere Gefangenschaft ziemlich zu. Einige sind depressiv. Die Hitze wird immer extremer. Es ist fast Mai, bald beginnt der Sommer. Vor einiger Zeit ist der Chef der Entführer mit einer zweiten Geiselgruppe verschwunden, hält nur noch per Funk Kontakt. Petra: Die Angelegenheit hat inzwischen höchste Ebenen erreicht. Außenminister Joschka Fischer und Bundesinnenminister Otto Schily waren in Algier, Generalbundesanwalt Kay Nehm hat ein Ermittlungsverfahren gegen eine unbekannte terroristische Vereinigung eingeleitet, die GSG 9 liegt in Algier in Bereitschaft sowie Beamte vom BKA und Interpol. Niemand hätte so etwas je erwartet! Man vermutet eine gewaltige Logistik hinter dem Ganzen. Es sind mittlerweile 31 Personen samt Fahrzeugen verschwunden. 15 Deutsche, zehn Österreicher, vier Schweizer, ein Schwede und ein Niederländer. Und die zu verstecken und zu versorgen ist in der Sahara nicht so einfach. Man ist jetzt überzeugt davon, dass die Verschwundenen leben. Aber es gibt nach wie vor kein Bekennerschreiben. Rainer: Am 13.5.03 versetzt ein Funkspruch und eine Radiomeldung unsere Bewacher in Euphorie: Die anderen 17 Geiseln wären frei. Sie beglückwünschen uns, in drei bis vier Tagen sei sicher auch für uns alles vorbei. Unsere Gruppe ist in Hochstimmung. Nur Martin und ich bleiben skeptisch. Wir glauben, erst wenn die Mudjas ohne uns am Horizont verschwinden, sind wir wirklich frei. Das Versteck müssen wir nun eilends räumen und zum verbliebenen Rest der Truppe stoßen. Nach vier Tagen wilder Pistenfahrt treffen wir den Emir (Kommandanten) im Erg Issouane, nördlich der Gräberpiste. Was wir erfahren, ist desillusionierend: Nicht Verhandlungen hatten unsere Leidensgenossen erlöst, sondern das algerische Militär. Die Geiseln waren unverletzt geblieben, aber einige der Mudjas dabei um-gekommen. Jetzt wird es gefährlich, die Entführer sind nun auf der Flucht. Auf mehrere Pick-ups verteilt, wird ein neues Versteck gesucht. Petra: Inzwischen kümmert sich in Deutschland auch die Kripo um die Sache. Zweimal pro Woche kommen sie vorbei, sind ganz rührend. Mit ihnen wird alles besser. Ich habe endlich Ansprechpartner. Das bislang zuständige Auswärtige Amt rückte freiwillig nicht eine Silbe raus. Die Beamten helfen mir auch, so banale Dinge wie Rainers Arbeitssituation, die Kranken- und Rentenversicherung zu regeln. Die Fehlzeiten werden ja immer länger, und außerdem weiß keiner, in welchem Zustand er zurückkommt... Gott sei Dank verhält sich Rainers Arbeitgeber äußerst fair.Rainer: Nach einigen Tagen finden wir einen kleinen und steilen Dünenkessel, der nur von der Luft einsehbar ist. Per Funk ordern die Mudjas Lebensmittel und Ersatzteile, die wenig später – vermutlich von Mitgliedern der Unterstützerszene – gebracht werden. Die Entführer sind gut organisiert. Bereits auf dem Weg hierher haben wir Depots mit Kraftstoff und Nahrung passiert. Wir bleiben fünf Tage, um die heruntergekommenen und von Unfällen ramponierten Autos zu reparieren. Da Araber erst schrauben, wenn richtig was kaputt ist, gibt es regelmäßig Pannen. Zum Zeitvertreib helfen wir dabei. Fehlt irgendwo ein Bohrloch, wird es kurzerhand mit der Kalaschnikow hineingeschossen. Die Hitze ist schlimm. Wir haben nur eine seitlich an einem der Toyotas befestigte Plane, unter der wir dicht gedrängt wie Ölsardinen hocken. Das Wasser wird in 200-Liter-Fässern transportiert, die vorher Treibstoff, Öl oder Chemikalien enthielten, was sich auf den Geschmack nicht immer positiv auswirkt. Eine der mitgefangenen Frauen stellt die Frage, ob man das denn trinken könne, das sei doch gesundheitsschädlich. Lass es, antworte ich ihr, dann bist du morgen verdurstet, oder trink es, dann bekommst du vielleicht in 30 Jahren Krebs.Petra: Wir haben einen Termin beim Auswärtigen Amt! Ich er-warte mir nicht allzu viel davon. Dennoch bereite ich mich auf den Tag so gut es geht vor. Wir erfahren, die Zusammenarbeit mit den Algeriern verlaufe gut, jeder gebe sein Möglichstes. Aber es sei viel Fingerspitzengefühl nötig, um nicht auf Granit zu beißen. Auch wenn wir ausgebildete Geiselbefreiungsteams wie die GSG 9 hätten. Aus dem Angehörigenkreis bin ich die Einzige, die jemals in Algerien war und sich die Zusammenarbeit mit afrikanischen Behörden halbwegs vorstellen kann. Rainer: Endlich brechen wir auf, fahren Richtung Nordwesten durch den Erg, queren erneut die Gräberpiste und passieren im Norden die Dünen des Erg Tifernine. Von dort geht es über die Piste von Bordj Omar Driss nach Amguid, Richtung Arak. Teilweise sind wir 36 Stunden ohne Pause unterwegs, tagsüber in der inzwischen gnadenlos stechenden Sonne. Das Tempo ist mörderisch, oft können wir uns auf den offenen Ladenflächen gerade noch festkrallen. Mehrfach überschlagen sich die Pick-ups, doch wie durch ein Wunder wird niemand ernsthaft verletzt. Ganz schlimm wird es, wenn die Mudjas Gazellen sehen. Gazellenfleisch schmeckt herrlich, wie Reh. Mit bis zu 100 km/h rasen dann selbst sonst besonnene Fahrer mit uns durchs Gelände, feuern wild, bis das Tier erlegt ist.Petra: Die Presse hat nun endgültig Witterung aufgenommen und Reporter in Illizi stationiert. Da sie kaum Informationen kriegen, kursieren bald immer dreistere Spekulationen. Bei allgemeinen Dingen kann ich das wegstecken. Aber wenn in Lokalsendern und -blättern nun wildfremde Menschen irgendeinen Schwachsinn über Rainer erzählen, gehen mir mitunter die Nerven durch. Am 16.5.03 werden wir erneut nach Berlin ein-geladen. Die Atmosphäre ist entspannter als beim letzten Mal. Ich vertraue allmählich, dass alles Menschenmögliche getan wird, um unsere Leute da rauszuholen. Abends schreibe ich einen Brief an den algerischen Staatspräsidenten Abdelaziz Bouteflika, danke ihm für die Zusammenarbeit mit Deutschland, drücke ihm mein Vertrauen und meine Hoffnung aus. Vielleicht hilft es. Inzwischen wird noch ein weiterer Deutscher vermisst. Klaus Bockelmann, Archäologe. Ich ver-suche, mit arabischer Ruhe durchzuhalten. Sonderbarerweise bin ich überzeugt, dass die Geiseln nicht misshandelt werden. Vergangene Entführungen wie im Jemen haben das gezeigt. Ich weiß, Rainer lebt und ist in Krisensituationen stark. Das macht auch mich stark! Er ist jede Sekunde bei mir, wir sind eins. Rainer: Nach einigen Tagen erreichen wir eine Wasserstelle in den Mouydir Bergen, nördlich von Arak. Doch rundum liegt Kamelkot, das Wasser ist von Urin verunreinigt. Hassan, mit 72 der Älteste, versichert, im Koran stehe, Kamel-Urin sei gesund... Vielleicht zum Warzen einreiben, aber zum Trinken? Zwei Tage später ziehen wir zu Fuß eine Stunde weiter zu drei wunderschönen Seen. Paradies nennen wir diesen Ort, wo wir drei Wochen bleiben werden. Es gibt Wasser ohne Ende, wir können sogar baden. Außerdem sind wir außer Sichtweite der Mudjas und dürfen uns frei bewegen. Nur zu den Mahlzeiten kommen wir zusammen, finden nach über drei Monaten endlich fast so etwas wie Privatsphäre. Wie sehr haben wir uns danach gesehnt! Jeder döst in irgendeiner Ecke, bis zu 16 Stunden am Tag. Allerdings gibt es giftige Hornvipern. Ihre Spuren sind morgens manchmal 20 bis 30 Zentimeter neben dem Kopfende des Schlafsacks zu sehen. In drei Wochen erschlagen wir neun Stück. Doch da wir nicht auf dem Speiseplan der Vipern stehen, besteht nur dann Gefahr, wenn man auf eine tritt oder schlägt. Aber vermutlich berührt uns ohnehin nicht mehr allzu viel.Petra: Am 13.5.03 meldet sich um 21 Uhr plötzlich die Kripo Bielefeld. In Algerien sei es zu einer Geiselbefreiung gekommen. Aber nicht alle seien frei. Ob sie noch vorbeikommen dürften? Selbstverständlich. Ruhe bewahren! Es fühlt sich nicht so an, als ob Rainer dabei wäre. Sie bestätigen es bei ihrem Eintreffen. Es habe zwei Gruppen gegeben, und eine sei vom Militär befreit worden. Sämtliche Geiseln leben. Ein Beamter übernachtet hier. Keiner weiß, was in den nächsten Stunden passieren wird. Ab jetzt herrscht Nachrichtensperre – keine Infos, selbst an nächste Angehörige nicht mehr. Am nächsten Morgen ist es die Top-Meldung im Radio, die befreiten öster-reichischen Ex-Geiseln texteten es euphorisch in die Mikros am Flughafen, alle seien frei. Leider nur alle Österreicher. Das Telefon bimmelt sich heiß – endlose Anrufe und Glückwünsche muss ich zurückweisen, nein, Rainer ist nicht dabei. Trotz Nachrichtensperre informiere ich jetzt die nächsten Angehörigen. Rainer: Die Mudjas waren einkaufen. Neben Kleidung und Lebensmitteln bringen sie eine große Flasche Parfüm für jede der Frauen mit. Rührend! Bei den westlichen Klamotten ver-muten wir, dass es der »Nachlass« der befreiten Geiseln ist. Ein Kamel wird erlegt, wodurch sich die Versorgungslage nochmals erheblich verbessert. Nur unser Vegetarier fühlt sich schwach, weil er sogar Nudeln und Reis ablehnt, die mit dem Fleisch gekocht wurden. Schwer nachvollziehbare Prinzipien. Als bekennender Karottenhasser würde ich jetzt auch Möhren essen. Petra: 15.5.03. Der österreichischen Kronenzeitung verkauft der Expeditionsleiter Gerhard Wintersteller exklusiv die schrecklichen Erlebnisse der zehn österreichischen Geiseln unter der brennend heißen Wüstensonne, Michaela Joubert und Andreas Kiehlechner berichten ebenfalls über die Wochen in den Händen der Mudjahedin und ihre glückliche Befreiung. Es ist kaum auszuhalten. Am 16.5. werden wir nochmals ins Auswärtige Amt geladen. Die Angehörigen der befreiten Geiseln kommen nicht mehr. Außenminister Joschka Fischer berichtet von seinem letzten Besuch in Algier und von einem langen Gespräch mit Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika. Erneut betonen sie die Be-hutsamkeit, mit der verhandelt werden müsse. Am folgenden Sonntag schreibe ich ein weiteres Mal an Bouteflika, aber auch an Joschka Fischer, Gerhard Schröder und Otto Schily. Ich bin inzwischen überzeugt, dass alles nur Denkbare getan wird, um die restlichen Geiseln unversehrt zurückzubringen. Warten, wieder warten. Ich beiße die Zähne zusammen. Den Rest schaffe ich auch noch, ganz bestimmt. Ich muss stark bleiben! Rainer wird mich brauchen, wenn er zurückkommt. Abends bitte ich die Polizei, mit Rainers Eltern zu reden. Ich glaube, sie vertrauen mir nicht mehr. Die Kripo kann sie etwas beruhigen.Rainer: Am 25.6.03 drehen unsere Bewacher einen Videofilm und verfassen mit unserer Hilfe ein Bekennerschreiben. Adressiert an die Schweizer und die Deutsche Botschaft. Arjen geht leer aus, weil seine holländische Vertretung nicht im Reiseführer steht. Als wir lesen, dass der Emir 45 Millionen Euro für uns fordert, sind wir entsetzt. Seine Vertrauten beruhigen uns. Zum einen wären drei Millionen pro Person übersichtlich, zum anderen sei das ja nur die Verhandlungsbasis. Ursprünglich habe er 150 Millionen und die Freilassung von GSPC-Mitgliedern aus algerischer Haft erpressen wollen. Davon hätten sie ihn abgebracht. Außerdem haben wir die Möglichkeit, einen privaten Brief zu schreiben. Sybille übersetzt meinen ins Französische, damit er kontrolliert werden kann. Ich berichte, dass wir keine Sorgen haben, weil sich unsere »Reiseleitung« um alles kümmert. Selbst das Wetter sei gut, niemand müsse frieren. Bei derart blöden Scherzen wird Petra merken, dass ich gesund und munter bin.Petra: Am Montag, den 19.5.03, bricht erneut Chaos aus! Die restlichen Geiseln wären auf dem Weg nach Hause, trompetet es aus allen Kanälen. Das Telefon steht nicht still. Doch wieder stimmt es nicht. Eine unbestätigte Meldung, von der sich viele mitreißen ließen. Sogar Claudia Roth verkündete, die vier Augsburger seien auf dem Heimweg. Es ist ihr Wahlkreis. Die Kinder schmückten schon die Wohnung. Einen Tag später können wir Familie Bleckmann in der ARD bei » Beckmann« sehen. Am 21.5. Familie Rupping im ZDF bei » Johannes B. Kerner«. Tags drauf gibt es ein schweres Erdbeben in der Nähe von Algier. Doch bin ich sicher, die Entführten sind weit genug weg. Am Freitag, den 23.5.03, sind es 90 Tage! Mich überfällt eine Müdigkeit, die nicht zu beschreiben ist. Der Moment, an dem wir uns wieder in die Arme nehmen können, wird kommen. Und nur uns gehören. Unser 19. Hochzeitstag! Irgendwie packe ich auch den. Freunde schicken liebe Briefe. Rainer: Als das Bekennerschreiben verfasst und unsere Habe in den Autos verstaut ist, werden schnell noch die Reifen geflickt, dann brechen wir auf. In bis zu 48-stündigen Marathonetappen rasen wir Richtung Südwesten. Nach Mali, wie wir vermuten. Die Wasservorräte werden unterwegs aufgefüllt. In einem ehemaligen französischen Atomtestgelände. Kein Problem, der Sekretär des Emirs behauptet, Radioaktivität sei abwaschbar. Petra: Gerhard Schröder, Joschka Fischer und Otto Schily haben unterdessen zurückgeschrieben. Herrn Schilys Brief habe ich mehrfach gelesen. Er ist sehr persönlich und hilft mir arg. Inzwischen ist bald Pfingsten. Mit dem Afrika-Fest in Lißberg, zu dem wir schon viele Jahre fahren. Da ich nicht weg kann, bitte ich, eine Botschaft vorzulesen. Ebenso beim Sahara-Club- und beim »DÄRR«-Treffen. Dort wollen sie sogar eine Gedenkminute für die Geiseln einlegen. Ich kann nicht in Worten fassen, wie mich das freut! Danke, dass es Menschen wie euch gibt! Bald steht meine zweite Hüftoperation an. Ich habe Angst, im entscheidenden Moment nicht da zu sein und muss mich zwingen, die OP nicht abzusagen. Heute ist der 113. Tag, seit wir das letzte Mal miteinander gesprochen haben. Gesehen haben wir uns schon viereinhalb Monate nicht mehr. Damals lag Schnee. Das Mandelbäumchen, das Rainer so mag, hat er nicht blühen sehen. Inzwischen ernten wir schon die Kirschen. Rainer: Der Sahara-Sommer ist angebrochen, und die Hitze wird zunehmend schlimmer. Oft herrschen locker 50 Grad im Schatten. Den es nur selten gibt. Mit uns auf den offenen Ladenflächen jagen die Entführer durch die südalgerische Wüste. Da die Wasserstellen weit auseinander liegen, rationieren sie das Wasser. Mitunter auf zwei Liter pro Tag. Ich teile es ein, jede Stunde ein Schluck, den man kaut und lange im Mund behält. Es ist grausam.Petra: Am 17.6.03 muss ich ins Krankenhaus. Ein schwerer Weg. Ich erkläre, in welcher Situation ich bin, und man schirmt mich ab, so gut es geht. Die Operation verläuft reibungslos, und ich erhole mich überraschend schnell. Ein Problem weniger! Am letzten Tag gönne ich mir einen Friseurbesuch. Es ist herrlich. Nach gut zwei Wochen bin ich mit Krücken wieder daheim. Der Alltag wird beschwerlicher. Ich erfahre, dass ein Angehöriger nun selbst initiativ werden will, mit einem österreichischen Expeditionsprofi und ohne Polizei. Ich halte den Atem an, die Leute kennen dieses Land nicht. Die Eltern von Martin und Arjen bringen ihn behutsam wieder davon ab. Es muss gut ausgehen und es wird gut ausgehen, alles Menschenmögliche wird getan – ich lasse keinen anderen Gedanken zu. Und bin überzeugt, Rainer auch nicht.Rainer: Der 29.6.03 ist einer dieser unerträglich heißen Tage. Laufend über-wältigen mich Zwangsvorstellungen von kalten Getränken – Bier, Wasser, Milchshakes. Nachmittags rasten wir weit verstreut im spärlichen Schatten von Akazien und Tamarisken. Plötzlich hört jemand einen Schrei. Sascha, von Beruf Rettungssanitäter, findet Michaela bereits im Koma vor. Zusammen mit Abd el Aziz, dem Koch und Mediziner, verabreichen sie ihr einen Beutel Kochsalzinfusion. Mehr ist nicht da. Um sie zu retten, wären zwei bis drei Liter nötig gewesen. Nach einer Stunde stirbt sie, ohne dass Bewusstsein wieder erlangt zu haben. Wir begraben sie nachts im Scheinwerferlicht des Iveco. Es ist furchtbar. Auch die Mudjas sind betroffen. Selbst völlig entkräftet, kommt mir zum ersten Mal der Gedanke, dass unsere Entführung ein böses Ende nehmen könnte. Nicht durch Gewalttaten der Fundamentalisten, aber ich weiß nicht, wie lange wir der Hitze und der unmenschlichen Fahrerei noch standhalten. Nicht der Tod schreckt mich, Michaela ist friedlich und ohne Schmerzen gestorben, sondern das Gefühl, Petra nicht allein lassen zu dürfen. Ich spüre, dass sie mich braucht und auf mich wartet. Mich belastet sehr, dass ich ihr bei ihrer Operation nicht beistehen konnte. Am nächsten Tag erreichen wir eine Was-serstelle. Wir hätten also Vorräte genug gehabt, um Michaelas Tod zu verhindern. Sascha kommt lange nicht darüber hinweg.Petra: In Berlin sind Briefe eingegangen! Die Entführten be-richten, dass es ihnen gut gehe und sie gut behandelt würden. Ich bin unendlich froh, bestelle Rainer neue Schuhe. Am 26.7. teilt die Polizei mir mit, es habe einen Anruf gegeben. Bei Esther, Christian Grünes Freundin: alle seien gesund, habe einer auf Französisch berichtet. Mehr nicht. Aber es ist genug. Die Polizei trifft Vorbereitungen für weitere Anrufe. Der 155. Tag. Ich habe mich völlig zurückgezogen. Denke an Erlebnisse, die Rainer und ich gemeinsam hatten. Auch lustige, dass ich mal wieder lachen muss. Vermutlich erzählen sie sich in der Wüste ebenfalls Geschichten. Drei Tage später, am 29.7.03, taucht die Polizei erneut auf. Michaela Spitzer sei tot. Offenbar schon vor Längerem an Hitzschlag gestorben. Ich bin wie vor den Kopf gestoßen. Das Gerücht eines Todesfalls kursierte bereits eine Weile. Christian Schuster, der Sohn des älteren Augsburger Ehepaars, ist ja fast durch-gedreht daran. Ich habe immer wieder gesagt, ohne Bestätigung glaube ich es nicht. Jetzt ist sie da. Ich komme nur schwer darüber hinweg. Noch einmal rufe ich die Familie zum freitäglichen Krisentisch zusammen. Am liebsten würde ich so laut schreien, dass sie es bis in die Sahara hören können: Hört endlich auf! Es reicht, kommt zu einem Ende!Rainer: Wir rasen weiter Richtung Mali. Die Entführer hoffen, dort besser verhandeln zu können, die Regierung sei kooperativer. Im Radio kommt die Meldung, das algerische Militär hielte einen Korridor offen, um unsere Passage ins Nachbarland zu ermöglichen. Jemand erhascht einen Blick auf ein GPS – wir sind 35 Kilometer südlich von Timiaouine. Wir haben es geschafft, wir sind auf malischem Gebiet. Erster Teil in MOTORRAD 23/2003.Dritter und letzter Teil in MOTORRAD 26/2003.

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