Die Sonne versinkt hinter der Deichkrone. Sofort steigt dichter Nebel aus der Marsch und lässt die Tiere auf der Weide wie bizarre Fabelwesen erscheinen. Wir stoppen die Motoren und lassen die von der Welt entrückte Szene wirken. Eine Oase der Ruhe, aber keineswegs still. Der Wind rauscht in den Ohren, das Kreischen der Möwen mischt sich mit Meckern und Muhen. Ist da nicht noch das Schnauben eines Pferdes, das mit dumpfem Hufschlag durchs weiße Nichts donnert? Schlagartig ist die Schulzeit wieder da, das gelbe Reclam-Heft vor Augen: „Ich hörte nichts; aber immer deutlicher, wenn der halbe Mond ein karges Licht herabließ, glaubte ich eine dunkle Gestalt zu erkennen, und bald, da sie näher kam, sah ich es, sie saß auf einem Pferde, einem hochbeinigen hageren Schimmel; ein dunkler Mantel flatterte um ihre Schultern, und im Vorbeifliegen sahen mich zwei brennende Augen aus einem bleichen Antlitz an.“ Bevor uns jetzt aber tatsächlich Theodor Storms „Schimmelreiter“ in seinen Bann zieht, geben wir unseren stählernen Rössern wieder die Sporen und sehen zu, dass wir Land gewinnen.
In alten Klassenzimmern pennen
Nach 400 Kilometern hängt unser Magen durch, und ein Bett für die Nacht wäre jetzt auch nicht schlecht. Husum ist nahe, und auch in der Geburtsstadt des Dichters kreuzt, wie schon den ganzen Tag über, wieder ein Leuchtturm unseren Weg, diesmal markiert er die Einfahrt zum alten Gymnasium. Wo früher Pennäler Storms Novelle rezitieren mussten, lässt sich heute ungestraft schlafen: In den alten Klassenzimmern stehen jetzt Betten, das Schulhaus hat sich tatsächlich zu einer echten Penne gewandelt. So lassen wir uns doch gerne wieder in die Schulzeit zurückversetzen.
Am nächsten Morgen strahlt blauer Himmel über der grauen Stadt am Meer, und im Hafenbecken herrscht gähnende Leere. Bei Ebbe betrachtet sieht die Nordsee tatsächlich so aus, als könne sie kein Wässerchen trüben. Welche Macht sie aber jederzeit entfalten kann, musste nicht nur Storms tragische Figur, der Deichgraf Hauke Haien, durch den Tod von Frau und Kind leidvoll erfahren.
Gerade einmal fünf Jahrzehnte ist es her, dass der Blanke Hans 1962 die nordfriesische Küste überrollte, Deiche brachen, das Vieh mancherorts qualvoll ersoff und Tausende Menschen ins Hinterland evakuiert werden mussten. Und auch wenn heute die Leuchttürme an der Küstenlinie romantisch verklärt im Blick des Betrachters liegen und zum Teil als kitschige Werbemotive dienen: Im Zeitalter vor Radar und GPS entschieden sie doch über Leben und Tod, sorgten erst sie dafür, dass Schiffsbesatzungen auch wirklich sicher in manchen Hafen einlaufen konnten. So auch das Feuerschiff „Deutsche Bucht“, das inzwischen als schwimmendes Museum im Ratsdelft von Emden besichtigt werden kann. „Heute geht natürlich alles über Satellit“, erzählt Erhard Bolenz, Vorsitzender des Fördervereins für das Museumsschiff, „die Kapitäne lachen sich ja kaputt über die olle Technik.“
Europas Höchster
Doch wir sind fasziniert von der alten Technik und peilen mit MS Ducati und dem Kümo Buell zum Start unserer Tour gleich mal Europas Höchsten an, der unweit von Emden am Deich von Campen seit 1891 bis heute der Schifffahrt im Dollart auf 65 Metern Höhe ein wichtiges Zeichen setzt. 308 Stufen braucht man, um durch das Stahlgerippe, dem der Pariser Eiffelturm als Vorbild diente, ganz nach oben zu kommen. Der Blick über die Krummhörner Küste würde uns zwar reizen, doch heute ist keine Besichtigung möglich - was uns mit Blick auf dick wattierte Kombis und schwere Motorradstiefel nicht wirklich stört.
Also nehmen wir lieber die geraden Straßen Krummhörns unter die Räder und pfeilen rüber nach Pilsum, wo Deutschlands angeblich bekanntester Leuchtturm steht. Auch wenn das knubbelige Gebilde ob seiner Form als Ölfass mit Zipfelmütze natürlich sehr nachhaltig auf den Betrachter wirkt - seine eigentliche Berühmtheit soll der Turm erst im ersten Otto-Film erlangt haben. Und wahrscheinlich wird er mittlerweile noch auf zig anderen Streifen von Hobbyfilmern verewigt sein. Der Betrieb für die christliche Seefahrt wurde zwar 1915 nach bereits 24 Jahren wieder eingestellt, dafür lassen sich pro Jahr über 200 verliebte Pärchen auf dem elf Meter hohen Turm in den Hafen der Ehe leiten. Obendrein zieren noch zahlreiche Treueschwüre aus aller Welt die rot-gelbe Außenhaut.
Frischen Fisch direkt auf die Hand
So viel Liebe geht natürlich durch den Magen, und aus Reimundes und Bernhards Imbisswagen gleich in der Nähe duftet es mal wirklich verführerisch. Eine Portion frisch frittierter Kibbeling mit Knoblauchsoße ist jetzt genau das Richtige. Welchen Leuchtturm sollten wir denn als Nächstes ansteuern, fragen wir die waschechten Ostfriesen. Die schauen nur mitleidig auf unsere Straßenyachten: „Für die richtig Schicken müsstet ihr schon rüber auf die Inseln“, sagt Reimunde, „aber nicht mit den Motorrädern, die wären nur auf Borkum und Norderney erlaubt.“

Zur Auffrischung unserer Geografiekenntnisse gibt uns Bernhard noch die Eselsbrücke für die Reihenfolge der ostfriesischen Inseln mit auf den Weg („Welcher Seemann liegt bei Nelly im Bett?“) und drückt uns zum Trost ein frisches Matjes-Brötchen in die Faust. Wir nehmen Kurs auf Wilhelmshaven und hoffen, von dort einen Blick auf den Arngast-Leuchtturm zu erhaschen, doch der Blick über den Jadebusen bleibt trübe. Erst im Butjadinger Land können wir wieder Kontakt zu unseren leuchtenden Leitpfählen aufnehmen.
In Eckwardersiel treffen wir auf Michael Janßen, der gerade zum letzten Mal das Oberfeuer Eckwarden inspiziert, das inzwischen auch außer Betrieb gegangen ist. Für Wilhelmshavens neuen Tiefseehafen, den Jade-Weser-Port, müsse nun eine komplett neue Richtfeuerlinie draußen im Wattenmeer aufgebaut werden, erläutert uns der 42-jährige Prüfingenieur für Seezeichen. Immerhin: Die schlank in den Himmel ragende „Kaffeemühle“ von Kap Hörne soll als begehbares Wahrzeichen erhalten bleiben.
In Nordenham kreuzen wir die Weser und blicken rüber auf das hochmaritime Flair Bremerhavens. Vorbei geht es an einem von Deutschlands Ältesten, dem Loschenturm, dessen Licht seit 1855 über die Nordseeküste streift. Und garantiert auch so manchem Auswanderer auf seinem hoffnungsvollen Weg in die Neue Welt einen wehmütigen Gruß aus der alten Heimat zuwarf. Auf dem Weg in den Überseehafen lassen wir „Die letzte Kneipe vor New York“ rechts liegen und schauen uns lieber die unglaubliche Vielfalt der automobilen Welt an, die hier aus mächtigen Frachtern an Land rollt. Ein wahres Paradies für Car-Spotter. Doch wir haben längst beschlossen, den Tag an Deutschlands Schönstem zu beschließen und uns, wie der Jever-Mann, am Deich von Westerheversand nur noch ins grüne Gras fallen zu lassen.
Im Maschinenraum von Multistrada und Ulysses hämmern die Kolben deshalb auf Hochtouren, während Brokdorf, Brunsbüttel und Büsum an uns vorbeifliegen. Geschafft, der Plan geht auf, und gleich wird ein neuer für den nächsten Morgen geschmiedet: vom dänischen Rømø mit der Fähre rüber nach Sylt, wo uns am Ellenbogen der Turm „List Ost“ begrüßt. Dann den Insel-Highway runter ins mondäne Kampen, wo noch ein ganz schön Schicker in Schwarz-Weiß steht? Doch jetzt heißt es erst einmal: keine Staus, keine Hektik...
Infos

Kurven sind an der Küste natürlich Mangelware. Über mangelnden Motorradgenuss braucht man sich aber im Norden zwischen Ost- und Nordfriesland nicht zu beklagen. Unsere Tipps für kurzentschlossene Wochen(-end)-Touristen.
Anreise: Unsere Tour startet in der Hafenstadt Emden an der Emsmündung, dem Dollart. Schnellster Weg aus dem Süden: über die Autobahnen A 1/A 28 (Richtung Bremen/Oldenburg) oder direkt über den „Ostfriesenspieß“ A31, der von Oberhausen an die Küste führt.
Leuchttürme: Ein reichhaltiges Infopaket zu den stählernen oder steinernen Riesen an der Küste lässt sich auf dem Museumsschiff „Deutsche Bucht“ in Emden zusammenstellen, das ab 1919 zunächst auf der Station Amrumbank vor der Westküste Schleswig-Holsteins und später in der Deutschen Bucht als „schwimmender Leuchtturm“ bis 1983 im Einsatz war (Infos: www.amrumbank.de). Zur Feinplanung empfehlen sich die „See(h)-Karten“ Ostfriesland/Jadebusen/Elbe und Westküste Schleswig-Holstein (ISBN 978-3-926137-28-9 beziehungsweise -29-3, je 4,95 Euro), auf der alle Leuchttürme an der deutschen Nordseeküste mit wichtigen Daten eingezeichnet sind.
Zu den markantesten gehört der Leuchtturm Roter Sand, der auf offener See in der Außenweser steht und nur per Schiff besichtigt werden kann (Tagestouren 88,50 Euro). Nicht ganz billig, aber garantiert einmalig ist die Übernachtung in dem historischen Bauwerk auf offener See (ab zwei Tagen, inklusive Schiffstransfer und Verpflegung, ab 556 Euro). Infos dazu unter www.roter-sand.de. Wer sein Motorrad in Sahlenburg oder Duhnen bei Cuxhaven abstellt, kann den ältesten Feuerträger Deutschlands, den im Mittelalter erbauten Wehrturm auf der Insel Neuwerk, per Wattwanderung oder Kutschfahrt besuchen und auch auf diesem übernachten. Infos und Anfragen unter www.leuchtturmneuwerk.de
Anreise Sylt: Als Alternative zur Autoverladung in Niebüll-Westerland lässt sich Deutschlands nördlichste Insel auch über die Fähre von Rømø erreichen, die im Norden in List anlegt. Die Preise sind für Motorradfahrer aber auf nahezu gleichem Level. Die Passage Rømø-List kostet für ein Motorrad plus Fahrer 26 Euro, die Fahrt im „Sylt-Shuttle“ über den Hindenburgdamm nach Westerland im Süden 27 Euro. Infos und Buchungen unter www.syltshuttle.de beziehungsweise www.syltfaehre.de
Übernachten: Empfehlenswert ist das Hotel „Altes Gymnasium“ in Husum (EZ/Frühstück ab 89 Euro, Telefon 0 48 41/83 30, www.altes-gymnasium.de). Weiterer Tipp: das Landhotel „Kirchspielkrug“ beim Leuchtturm in Westerhever (EZ/Frühstück ab 55 Euro, Telefon 0 48 65/9 01 43 www.kirchspielkrug.de).