Seit Jahrzehnten zieht die Toskana Touristen an. Ist sie zu voll für genussvolle Motorradtouren? Nicht, wenn man sie hinter den Kulissen befährt.
Seit Jahrzehnten zieht die Toskana Touristen an. Ist sie zu voll für genussvolle Motorradtouren? Nicht, wenn man sie hinter den Kulissen befährt.
Bestes Essen, erlesene Weine, gediegenes Handwerk, hohe Kunst. All das hat Tradition in Italiens bedeutendster Kulturlandschaft. Nicht nur die Mitglieder der ehemals politisch eher links orientierten „Toskana-Fraktion“ wie Schröder, Fischer, Engholm oder Schily haben sich hier Häuser und Weingüter unter den Nagel gerissen, sondern auch CDU-Leute oder betuchtere „Aussteiger“, die sich eine entspannte, sinnerfüllte Existenz in mediterraner, lichtdurchfluteter Natur erhofften. Lesen, schreiben, Wein oder Oliven anbauen, malen, töpfern, die Liste der mit einem Leben in der Toskana verbundenen Sehnsüchte ist lang und treibt Bürger aller Couleur bis heute zum Erwerb eines „Rusticos“ in lieblichem Dorf- oder Landidyll.
Die Straße über Castelpoggio und Gragnana verwöhnt wieder mit allem, was die Apuanischen Alpen so reizvoll macht: kein Verkehr, Kurven, Gefälle und Steigungen zum „Schwindligfahren“. Dann Carrara mit seinen weißen Bergen. Hier holte schon Michelangelo Marmor für seine bahnbrechenden Skulpturen. Heute werden ganze Bergspitzen abgetragen, riesige, tonnenschwere Blöcke werden auf Lastwagen zu Tal gebracht und in alle Welt verschifft.
Wehe, wenn ein solcher Laster auf den steilen pisten rutscht. Oder seine Bremsen versagen. Dann gibt es keine Rettung. Wir geraten mehrmals auf Tuchfühlung zum Marmorabbau, als wir die spaßmaximierte Straße von Seravezza Richtung Castelnuovo absurfen: Landstraßengenuss in Reinkultur. Hoch hinaus in die Marmorbrüche, bis hart an die Abbruchkante, alles sehr adrenalinintensiv. Und immer wieder Kurven, Kurven, Kurven. Woran sich bis Bagni di Lucca nichts ändert.
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Doch die Toskana ist müde geworden vom dauerhaften Ansturm touristischer Ansprüche. Ihre berühmten Weindörfer, ihre traditionsbeladenen Städte voller weltbekannter Bau- und Kunstwerke sind verstopft mit Reisebussen und Menschen aus aller Welt, gerne auch mit Hundertschaften aus China. Kolonnen von Lastwagen, Bussen und Autos wälzen sich über die großen Verbindungsstraßen, eine Motorradtour in die Toskana ist nicht mehr das, was sie einst war. Es sei denn, man erschließt sich die Reize dieser großartigen Gegend durch die Hintertür und hält sich aus den Touristenhochburgen raus. Genau das ist unsere Mission, als wir die A 15, die den Apennin Richtung La Spezia durchschlängelt, bei Aulla verlassen. Auf der S 63 bis Fivizzano beginnt der Spaß: griffiger Asphalt, schöne Kurven, die mitunter mutig von einem entgegenkommenden Alfa geschnitten werden, ansonsten Genuss pur. Der sich noch steigern lässt auf dem Ministräßchen über Terenzano, Reusa, Vigneta oder Gragnola. Hier ist man allein, fällt von einer Kurve in die nächste und rasiert den dschungelartigen Büschen die Außenblätter ab. Das Herz der Nordtoskana muss ganz in der Nähe liegen. Vielleicht ist es ein Örtchen wie Vinca, ein verlorenes, ungeschminktes Bergkaff, das doch voller Farben und Temperament steckt, was die Dorfjugend nicht müde wird, auf ihren Enduros zu beweisen. Im einzigen Alimentari schmiert la Mama uns Käsebrote und füllt Wasser in durstige Bikerkehlen. Umgeben von Dolomiten-artigen Felstürmen strahlt Vinca Ursprünglichkeit aus, ein Reisebus würde die Straße nicht schaffen. Laut Karte kann man über das Rifugio Belvedere auf Schotter nach Carrara, doch für eine mittelschwere Reiseenduro ist irgendwann an Geröllhaufen und Pistenabbrüchen Schluss.
Die Messlatte liegt so hoch, dass die Straßen bis Montecatini Terme und Pistoia nicht mehr ganz so spektakulär wahrgenommen werden. Es fehlen die Ausblicke zum Meer, kühnste Straßenführung verliert sich in tiefen Wäldern, die Dörfer wirken rau und unromantisch. Das soll die Toskana sein? Auf dem Weg nach Vinci kommt zurück, was man sich unter Toskana gemeinhin vorstellt: sanfte Hügel, Zypressen, Weingüter, Weite und Licht. Genau das wollte die „Toskana-Fraktion“. Allzu bekannten Weinorten schenken wir nicht viel Zeit, widmen uns dafür ausgedehnten Trips über kleinste Wirtschaftswege, die uns Einblicke in das Leben gewähren, das die Toskana früher flächendeckend ausgezeichnet hat: Idyll, Ruhe und Einsamkeit. Von Gambassi Terme führt eine euphorisierende Straße nach Volterra, südlich davon bleibt der Kurvengenuss, doch die Toskana kleidet sich wieder in unwirtliche Bergwälder und enge Täler. Die geothermischen Kraftwerke in der Colline Metallifere wirken wie von einem anderen Stern.
Totale Erholung vom Staub der Landstraßen versprechen die Strände der Insel Elba. Die größte des aus sieben Inseln bestehenden toskanischen Archipels hat sich ihren Charme trotz Touristenansturms bewahren können. Noch gibt es verschwiegene Buchten, geheime Weinkeller und die schemenhafte Erinnerung an archaische Zeiten, als auf Elba Erz abgebaut wurde.
Wunderbar toskanisch geht es auf dem Festland weiter von Grosseto über kleine Dörfer, die wie Vogelnester an den Bergen kleben, bis Arcidosso. Das Herz schlägt im Takt der Wechselkurven, und dann zaubert Ugo, Wirt des Restaurants „Aiuole“, einen unfassbaren Zusatzgenuss aus Speisen und Weinen auf den Tisch. Spätestens jetzt kann man Schröder, Fischer und Co. verstehen. Unverständlich nur, warum die Jungs in der Toskana nicht zu Motorradfahrern wurden. Das wäre die wahre Erfüllung gewesen.
Allgemeines:
Die Bezeichnung der historischen Kulturlandschaft Toskana leitet sich vom Volk der Etrusker ab, das in der Antike hier ansässig war. Typisch ist der Kontrast zwischen wilden Berglandschaften und weitläufigen Hügeln mit Pinien, Säulenzypressen, Olivenbäumen und Weinreben. Die wichtigsten Toskana-Landschaften sind die Maremma im Süden, das Chianti-Gebiet zwischen Florenz und Siena, die Versilia-Küste im Nord-westen und die Etruskische Riviera. Zahlreiche kleinere Provinzen untermauern die Vielfalt. Im Norden wird die Toskana durch den Apennin begrenzt, der Höhen von über 2000 Metern erreicht. Der toskanische Archipel umfasst die Inseln Elba, Giglio, Capraia, Pianosa, Montecris-to, Giannutri und Gorgona. Die Wirtschaft der Toskana ist hauptsächlich durch Tourismus, Wein-anbau, Olivenölgewinnung und Kunsthandwerk geprägt. Weiterer Wirtschaftsfaktor ist die Stahlproduktion in der Gegend um Piombino. Wichtige Städte sind Florenz, Arezzo, Pisa, Siena, Grosseto, Livorno, Prato und Lucca, alle für großartige Architektur bekannt. Der größte Fluss ist der rund 240 Kilometer lange Arno, die bekanntesten Weinsorten sind der Chianti, der Sassicaia, der Brunello di Montalcino und der Vino Nobile de Montepulciano.
Anreise:
Je nach toskanischer Einstiegsregion eignen sich die Pässe Gotthard, Bernardino oder Brenner für den zügigen Alpen-Transfer und anschließend als „Einflugschneisen“ die Autobahnen Parma-La Spezia (A 15) oder Bolog-na-Florenz (A 1). Ein Autozug fährt von Hamburg und Düsseldorf nach Alessandria. Entfernung nach Pisa: 195 Kilometer. Alle Informationen unter www.dbautozug.de und Telefon 00 49/18 05/99 66 33.
Beste Reisezeit:
Im April kann es warme Sonnenperioden geben oder winterlich kaltes Regenwetter. Das Gleiche gilt für den späten Oktober. Dazwischen ist die Chance auf Dauersommer groß. In den Bergregionen sind die Temperaturen grundsätzlich tiefer, und das Wetter ist launischer. Auf den Inseln herrscht oft völlig anderes Wetter als auf dem Festland.
Übernachten:
Campingplätze, Pensionen und Hotels sind in der Toskana in allen Preislagen verfügbar, in der Hauptsaison empfiehlt sich im Einzugsgebiet der Touristenorte eine Reservierung. Romantische, gern preisgünstige Übernachtungen mit Pfiff, Flair und oftmals Swimmingpool bieten die zahlreichen Agriturismo-Betriebe, meistens umfunktionierte oder noch bestehende Bauernhöfe oder Weingüter. Als positives Beispiel unter vielen anderen Angeboten sei hier in der Mitte der Toskana das „Agriturismo San Lorenzo“ zwischen Gambassi Terme und Volterra erwähnt: www. sanlorenzo agriturismo.com. Eine Empfehlung bekommt im Süden das „Albergo-Ristorante Aiuole“, Località Aiuole, Arcidosso 58031, Telefon 00 39/0 56 59/6 73 00 oder hotelaiuole@virgilio.it. Hier bekommt man exzellente einheimische Speisen und Weine, die Zimmerpreise starten bei 40 Euro.
Literatur/Karten:
Baedeker Allianz Reiseführer „Toskana“, Mairdumont, 22,95 Euro. Als taugliche Karte: Reise Know-How „Toskana“, Maßstab 1:200000, 8,90 Euro.