Das Aostatal zählt nicht unbedingt zu den alpinen Höhepunkten. Die meisten Reisenden rauschen schnell durch, unterwegs zu den berühmten Pässen Frankreichs, den Viertausendern des Wallis oder zu den Stränden der Riviera. Was für ein Fehler. Den wir selbst oft genug gemacht haben, immer mit der Entschuldigung, keine Zeit für die vielen Nebentäler des Valle d’Aosta zu haben, die bis auf drei Ausnahmen sämtlich als Sackgassen enden. Aber jetzt ist die Zeit endlich reif für unsere Sackgassen-Tour. Wir werden nicht eine Minute Langeweile haben.
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Motorradreise Tourentipps italienische Alpen
15 Sackgassen im Aostatal
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Unser Ziel ist der Colle del Nivolet, ein Kuriosum unter allen Alpenpässen. Er ist die erste Sackgasse unserer Tour. 80 Kilometer lang, endet er kurz nach seiner Passhöhe am Fuß des Gran Paradiso humorlos in einer Bergwiese. Nur zehn Kilometer fehlen ihm, dann wäre der Nivolet ein Rundkurs. Aber der Status quo des Nationalparks vereitelt, dass der fehlende Abschnitt bis ins Valsavarenche gebaut wird.
Iseran oder Stilfser Joch haben nichts zu melden
Lohnt sich der lange Abstecher zum Nivolet? Unbedingt, denn die letzten 20 Kilometer ab Ceresole sind der Hammer: Die einzigartige Bergstraße ist eine der schönsten der Alpen. Vor allem der sensationelle Blick kurz vor dem 2612 Meter hohen Pass über das Spaghettigekringel der Straße, den tiefblauen Lago Serrù und den grünen Lago Agnel bis hin zum verschneiten Felsgrat des 3619 Meter hohen Levanna ist betörend. Gegen diese Aussicht haben selbst die alpinen Promis wie Iseran, Stilfser Joch oder Bonette nichts zu melden.
Durchs Locarno-Tal rollen wir wieder runter in die Ebene, biegen dort links ab ins Aostatal. Schön ist das nicht. Autobahn, SS 26, die Bahn und der Fluss Dora Baltea lärmen durchs Tal. Aber da sind ja die vielen Seitentäler, wie das Val d’Aya, das sich bis direkt vor die vergletscherte Südwand der Viertausender Breithorn und Castor schlängelt. Über den Col de Joux, dem spaßigsten Pass weit und breit, schraddeln wir ins nächste Tal, das Valtournenche. Das endet im Wintersportort Breuil-Cervinia zu Füßen eines der berühmtesten Berge des ganzen Globus, des Monte Cervino. Nie gehört? Nicht schlimm, denn die nicht italienische Welt nennt diesen Berg Matterhorn. Aber die 4478 Meter hohe Legende ist unpässlich, versteckt sich in grauem Gewölk.
Dann eben nicht. Der „Denzel“, Bibel aller Alpenstraßenfahrer, empfiehlt ohnehin einen viel besseren Aussichtspunkt, den Colle San Pantaleone. Über die schmale und fast verkehrsfreie Straße bollern unsere Singles passwärts. Und voilà, von dort oben sehen wir das Matterhorn, zwar nicht in voller Pracht, aber die steile Südwand beeindruckt auch ohne Gipfel. Gut, dass wir genug Zeit für solche Abstecher mitgebracht haben. Zeit schafft die innere Ruhe, all diese kleinen Wege hoch über dem Tal zu erkunden. Und es gibt so viele. An einer Kreuzung ist der Ort Verrayes gleich drei Mal ausgeschildert. Führen nicht alle Wege nach Verrayes? Hier schon. Aber welchen nehmen? Egal, wir versuchen alle drei nacheinander, drehen Pirouetten am sonnigen Südhang hoch über dem Aostatal, kommen auf diesen schmalen und kurvigen Wegen kaum über den vierten Gang hinaus und landen bisweilen ganz woanders als gedacht. Jedenfalls nicht in Verrayes. Entdeckerterrain.
Schließlich aber enden alle Straßen wieder im Valle d’Aosta, vielleicht an der Burgruine von St. Denis oder am Schloss von Fénis. Was spielt das für eine Rolle bei so vielen tollen Wegen? Ein Schild weist nach Pila, natürlich eine Sackgasse, aber 1400 Meter hoch über dem Tal. Verlockend. Eine grandiose Bergstraße, Kehren und Kurven bis zum Abwinken, mit einem aussichtsreichen Ende. Nicht auf den hässlichen Wintersport-Retortenort Pila, sondern zu den Viertausendern der Mont Blanc-Kette, dem Gran Combin und dem Monte Rosa-Massiv. Wieder mal raubt die Aussicht den Atem. Jede dieser Sackgassen, die das Aostatal verlassen, belohnt am Ende mit einem Höhepunkt, jede anders, jede grandios, jede ist den Abstecher wert.
Exklusive Pralinen in der Schachtel leckerer Pässe
Die nächsten vier Täler warten südwestlich von Aosta, natürlich Sackgassen. Am schönsten ist das Val di Cogne, bietet es doch die einzige Möglichkeit, einen Punkt anzufahren, von dem der Viertausender Grand Paradiso zu sehen ist. Hoch über dem alten Ort Cogne sonnt sich der Weiler Gimillan. Ein paar Kehren, und schon sind wir oben. Weit im Westen steigt am Ende des engen Valnontey eine gewaltige Fels- und Gletscherwand zu den Gipfeln des Gran Paradiso auf. Wahnsinn.
Tal rein, Tal raus, das Motto dieser Reise. Parallel zum rauschenden Fluss Grand Eyvia rollen wir zurück. Aber noch nicht ins Aostatal, denn kurz vorher lockt uns ein Schild mit dem netten Namen Ozein rechts ab und steil hoch. Zur Abwechslung mal kein Tal, aber wenigstens eine Sackgasse. Ozein entpuppt sich als hübsches altes Bergdorf mit schwarzen Holzhäusern und geranienübersäten Balkonen, die fast alle nach Westen ausgerichtet sind. Der Aussicht wegen. Hinter dem Dorf reckt sich der scharfkantige Fastviertausender La Grivola ins Blau des glasklaren Himmels. Und weit im Nordwesten streckt sich der Mont Blanc 4810 Meter hoch. Ein gewaltiger weißer Klotz.
Nächstes Tal, nächste Sackgasse, das Valsavarenche, das erst kurz vor der 2000-Meter-Marke im Winzdorf Pont zwischen verwitterten und bemoosten Holzhäusern endet. Von hier sind es keine zehn Kilometer bis zum Colle del Nivolet. Aber die Straße fehlt. Sicher wäre man wandernd schneller am Nivolet als mit dem Motorrad, denn der große Bogen außenrum ist fast 200 Kilometer weit. Für die Menschen in den Tälern ist der Sackgassen-Status-quo schwierig, denn die isolierte Lage der Orte macht das Leben kompliziert. Viele ziehen auf der Suche nach Arbeit in die großen Städte Turin und Aosta. Die engagierten Alpenfahrer dagegen freuen sich, denn so bleibt der Nivolet eine der exklusivsten Pralinen in der großen Schachtel leckerer Pässe.
Sonnenaufgang am Gran Paradiso, Abendrot am Mont Blanc
Den Sonnenaufgang hatten wir am Gran Paradiso, wie wär’s mit Abendrot am Mont Blanc? Also retour ins Valle d’Aosta, zwischen Weinstöcken und Burgen an der anderen Talseite den Weg nach St. Nicolas suchen. Das Landkartengeschlängel von weißen und gelben Linien am Hang zwischen Sarre und Aviso zieht uns magisch an. Stundenlang mäandern wir in verschiedenen Stockwerken am Hang entlang, entdecken Abstecher, die einfach so im Wald enden, und verschlafene Bergdörfer wie Châtelard, Ville sur Sarre oder Verogne. Klingt verdächtig französisch. Grenze verpasst? Das Aostatal gehörte einst zum Königreich Savoyen. Geblieben sind die vielen französischen Namen, und noch heute ist das Gebiet zweisprachig.
War da nicht noch der Plan, den Sonnenuntergang am Mont Blanc zu sehen? Eigentlich schon, aber wir haben uns schlichtweg verdaddelt in diesem Gewirr kleinster Wege. Der weiße Berg muss noch warten. Schnell runter ins Tal und einen Zeltplatz suchen. Und morgen früh machen wir dann dem König der Alpen unsere Aufwartung. Schwingen aber vorher noch über den Colle San Carlo. Der unscheinbare Pass ist zwar nur 1961 Meter hoch, hat aber alles, was ein Pass braucht. Zweigt in Morgex von der SS 26 ab und klettert in variantenreichen Kurven zur Passhöhe. Er endet in La Thuile an der Ostrampe des Kleinen Sankt Bernhard. Der interessiert uns heute weniger, schließlich sind wir auf einer Sackgassenmission. Und da fehlen noch zwei, vielleicht die spektakulärsten der Region, die beiden Täler zu Füßen der gigantisch hohen Felswand des Mont Blanc-Massivs: Val Ferret und Val Veny.
Beide zweigen direkt vor dieser riesigen Wand in Courmayeur ab, das eine nach rechts, das andere nach links. Wunderbare Täler mit atemberaubenden Blicken auf zerrissene Gletscherströme, kühn geformte Felstürme, leuchtend grüne wilde Blumenwiesen und natürlich die Bergriesen direkt vor uns. Ein guter Teil aller alpinen Viertausender wächst genau hier rund um den Mont Blanc. Seine schneeweiße Kuppe überragt alle anderen Berge in Europa. Der König ist abweisend, verlockend, gefährlich und schön, unerreichbar fern und doch zum Greifen nah. Als die Gletscherfelder auf den Gipfeln im orangen Licht baden, platzt Birgit mit der Frage heraus: „Warum haben wir all diese tollen Sackgassen immer ignoriert?“
Infos zu Motorradtouren im Aostatal
Jo Deleker
Reisedauer: eine Woche; Gefahrene Strecke: 1500 Kilometer.
Das Valle d’Aosta mit seinen 15 Stichstraßen ist eine räumlich begrenzte Region im äußersten Nordwesten von Italien. Eine Woche Zeit? Dann die Sackgassen, die das Haupttal verlassen, intensiv erkunden. Sensationell!
Anreise: Die schnellsten Wege führen über mautpflichtige Schweizer Autobahnen bis zum Großen Sankt Bernhard-Pass. Oder von der französischen Seite über den Kleinen Sankt Bernhard. Wer den Mont Blanc von unten sehen will, lange dunkle Röhren liebt und vor der teuren Maut (29 Euro) nicht zurückschreckt, kann auch von Chamonix durch den Mont Blanc-Tunnel ins Aostatal fahren.
Reisezeit: Wie üblich in alpinen Regionen beginnt die Saison im Mai und endet im Oktober. Rund ums Aostatal, das auf der Südseite des Alpenhauptkamms liegt, ist das Klima spürbar milder als auf der Nordseite der Berge.
Unterkunft: Als Basislager bietet sich eine Unterkunft in Aosta an. Schöner und ruhiger sind aber die Orte in den Seitentälern oder hoch über dem Aostatal. Vom Campingplatz bis zum Luxusresort ist so ziemlich alles zu finden.
Sehenswert: Die größten Sehenswürdigkeiten sind natürlich die alpinen Landschaften mit ihren zum Teil sehr urigen Bergdörfern. Die Südseite des Mont Blanc-Massivs beeindruckt vor allem aus den Tälern Val Veny und Val Ferret. Von Courmayeur gibt es eine Seilbahn hinauf in die eisigen Regionen dieser Berge jenseits der 3000 Meter. Man kann sogar per Seilbahn über das Gletschermeer bis auf die andere Seite nach Chamonix schweben. Fans von Schlössern und Burgen haben im Aostatal reichlich antike Gemäuer zu besichtigen. Noch älter, nämlich 2018 Jahre, ist allerdings das römische Aquädukt Pont d’Aël im Val de Cogne, das man sogar von innen besichtigen kann. Die Altstadt von Aosta lockt besonders abends zum gemütlichen Bummeln.
Literatur und Karten: Aus dem Verlag Michael Müller kommt der Reiseführer „Piemont und Aostatal“. Der „Denzel-Alpenstraßenführer“ beschreibt in gewohnt detaillierter Weise fast alle Bergstraßen der Region. Gute Karten sind „Die Generalkarte 1 – Italien“ von Marco Polo und das Blatt „Piemont, Valle d’Aosta“ vom Touring Club Italiano, beide im Maßstab 1:200000.
Infos: Die Suche im Internet liefert den besten Überblick über die Region, beispielsweise auf diesen beiden Seiten: www.regione.vda.it und www.loveda.it/de