Er kennt kein Pardon. Und er kennt sich nicht aus. Schlimmer noch: Er erkennt auch nach mehrmaligem Insistieren die korrekten Papiere der Motorräder nicht an. „So kommen die nicht über diese Grenze!“ Eduardo Dias, seit gestern frischgebackener Chef des Grenzübergangs Paso Sico, lässt sich nicht erweichen. Hier, im Niemandsland zwischen Chile und Argentinien, kommt an ihm keiner vorbei.
Aber das war ja schon fast klar, dass auf dieser Tour vieles schiefgehen würde. Gleich am ersten Tag, noch in Mendoza, fiel die Klimaanlage des Begleitfahrzeugs aus. O. K., ärgerlich, aber kein Beinbruch. Eben dieser ließ aber auch nur drei weitere Tage auf sich warten. Die Straße nach Tocota wurde Peter, Arzt aus der Nähe von Zürich, zum Verhängnis. Auf einer sich durch die starken Regenfälle der letzten Wochen immer mehr in der Pampa verlierenden Piste musste die internationale Truppe mal so richtig offroad fahren. Denn erst verschwand die Piste, dann auch jeglicher vorgezeichnete Weg. Da halfen nur noch eiserner Wille und die grobe Himmelsrichtung.
Wenn Murphy zuschlägt ...
Dort, wo mal Brücken waren, musste tief unten das zum Glück wieder ausgetrocknete Flussbett gekreuzt werden, wo die Straße weggespült war, musste man häufig durch üppige Tiefsandfelder weiträumig ausweichen, um später wieder auf so etwas wie eine echte Piste zu gelangen. Dort, wo diese dann als ein Meter tiefer Hohlweg endlich wieder erkennbar und weitestgehend befahrbar war, wurde sie streckenweise zum Bachbett mit entsprechendem Schlick und Schlamm und kindskopfgroßen Steinen. Einer von diesen hat den Peter dann im flott gefahrenen 70-Grad-Winkel nach rechts in die Böschung abbiegen lassen. Was in der Folge den angeknacksten Knöchel verursachte. Als Arzt konnte Peter sich ja am besten gleich selbst versorgen. Von wegen, es ist immer gut, wenn ein Doc dabei ist ...
Egal, wie gut du vorbereitet bist, wenn Murphy zuschlägt, dann wird es immer spannend. Starker Leistungsverlust und pechschwarze Abgase des 2,5-Liter-Dieselaggregats unseres Renault Master verhießen dann auch nichts Gutes. An der Südrampe des 4895 Meter hohen Abra del Acay, dem höchsten Pass der Anden, ein denkbar schlechter Platz für Anfälle von Motorschwäche. Mauricio, gute Seele, Mechaniker und Inhaber von Brasil Adventure Tours, versuchte immer wieder, den schnell überhitzenden Motor mithilfe von zusätzlichem Spritzwasser auf den knisternden Kühler herunterzukühlen, was in immer kürzeren Abständen nötig wurde. Die Dunkelheit brach schon ein, als wir beschlossen, den großen Anhänger, der immerhin zwölf Motorräder fasst, hinter uns zu lassen. Wir mussten San Antonio de los Cobres unbedingt noch bei Tageslicht erreichen, denn Fahren in der Dunkelheit erhöht die Risiken um ein Vielfaches.
"Hoffentlich schaffen die es über die Bäche"
Und es wurde Nacht. Mauricio hatte einen kurzen Schlaf und brach gleich um vier Uhr mit einem Toyota Pickup und dessen einheimischem, hilfsbereitem Fahrer auf, um den Anhänger jenseits des Passes zu bergen. Alle unsere Ersatzteile befanden sich auf diesem, ohne ihn fiele auch die Möglichkeit aus, jederzeit jeden im Begleitfahrzeug aufzunehmen. Für den Fall der Fälle immer eine beruhigende Alternative. Als Mauricio mit Manolito am Anhänger ankam, war zunächst noch alles im grünen Bereich. Aber gegen 6.30 Uhr schien Murphy zu erwachen und schlug gnadenlos zu. Die Anhängerkupplung passte nicht. Für Mauricio und seine handwerkliche Gabe kein Drama, er improvisierte und passte die Teile an. Dann versagte der Vierradantrieb des Toyotas, er ließ sich partout nicht aktivieren. Die beiden versuchten es mit dem profanen Heckantrieb des altersschwachen Pick-ups. Und siehe da, der Toyota zog den schweren Anhänger bergan, jedoch nicht ohne dabei Mauricios Satellitentelefon zu überfahren, welches ihm bei der Bergung aus der Tasche gerutscht war.
Das Ergebnis der kaltmechanischen Adaption zweier verschiedener Kupplungen verursachte dann etwa zwei Stunden Sägen und Hämmern, bis die Kugelaufnahme der ursprünglichen Anhängerkupplung wieder passte. Erst gegen 14 Uhr verließ die Truppe die Hostería, anstatt wie geplant um neun Uhr. Es wurde beschlossen, die alte Ruta 40 unter die Räder zu nehmen. Weiter im Osten verläuft mittlerweile eine neue, ausgebaute Trasse, die die alte ab San Antonio ersetzt. Was bedeutet, dass auf der nicht mehr gepflegten Ruta 40 der Anteil der spannenden Offroad-Etappen unerwünscht hoch und zudem schwierig zu meistern war. Abgesehen von für zweispurige Fahrzeuge äußerst kniffligen Bachdurchfahrten mit steilem Uferanstieg wartete diese Piste später im flachen, eher halbwüstenartigen Teil mit fiesen, unerwartet tiefen und zudem tückischen Sandpassagen von über 30 Meter Länge auf. An einigen besonders schwierigen Stellen sah man immer wieder motorradförmige Abdrücke im Tiefsand, die davon zeugten, dass die Vorausfahrenden nicht ganz ohne geologische Bodenprobe durchgekommen waren.
Die Truppe traf sich wie verabredet an der Asphaltstraße. Es schien alles gut zu sein. Hatte Murphy geschlafen? Oder kümmerte er sich gerade um unser Begleitfahrzeug? Das hatten wir nämlich weit hinter uns gelassen, was auf einer solchen Expedition eigentlich ein No-Go ist, da man ja auf die Unterstützung angewiesen sein könnte, und zwar auf die gegenseitige. Aber wir standen enorm unter Druck, mussten vor Einbruch der Dunkelheit in San Pedro ankommen. „Hoffentlich schaffen die es über die Bäche und durch die Sandpassagen.“ Banges Warten, dann ein Entschluss. „Lasst uns an die Grenze fahren zu der großen Tankstelle, dort können wir abwarten und auftanken – Besatzung wie Maschinen. Warten auf Mauricio und Peter, Starren auf die in der Hitze flimmernde Straße, das Pochen des eigenen Bluts in den Ohren. Ein Tropfen Schweiß hängt an der Nase, im Kopf hört man schon den Klang einer quälend wimmernden Mundharmonika ... so also fühlt sich Ewigkeit an.
Da kann einem schon mulmig werden ...
Noch nie haben wir uns über ein Wiedersehen so gefreut. „Alles gut gelaufen?“ „Ja, wir sind eine supergut ausgebaute Strecke gefahren, hier die Parallele von der euren“, zeigte mir Peter seine Karte – stolz wie Oskar! Da kann einem schon mulmig werden, wenn man im Nachhinein erkennt, dass der Support überhaupt nicht hinterherfuhr! Die Erleichterung jedoch überwog, dass die Truppe wieder vereint war. Also Haken dran, alles wird gut! Und Murphy? Der hatte uns wohl vergessen ...
Schön wär’s. Denn der Paso Jama ist mit seinen 4200 Metern keineswegs der höchste Punkt in Richtung San Pedro de Atacama. Die trockenste Hochwüste der Welt, die Atacama, schwingt sich mit ihren Vulkankegeln rechts und links des fantastischen, makellosen Asphaltbands zu über 6000 Metern auf, was zur indirekten Folge hat, dass auch die Straße zwecks Durchquerung noch mal auf nahezu 4900 Meter ansteigt! Ohne dass man sich hier auf chilenischer Seite die geringste Mühe machte, überhaupt über diese Pässe geschweige denn über deren Höhe zu informieren. Die mit Vergasern bestückten XT 600 röchelten so weit oben nur noch mit maximal 80 Stundenkilometern vor sich hin, was auch nur deshalb auffiel, weil man hier locker 180 km/h hätte fahren können. Auf dem geschotterten und mit vielen Serpentinen gespickten Abra del Acay wurde der Leistungsmangel gar nicht offenbar, weil Tempi über 60 Stundenkilometer eh nicht drin gewesen wären. Aber hier war es nur allzu offensichtlich, wie dünn die Luft auch für einen Motor werden kann.
"Warum verdunstet der Sprit nicht?"
Und der Bus packte es wieder nicht. Jedenfalls nicht inklusive Anhänger. Dazu riss auch noch der Keilriemen und Mauricio schaffte es gerade noch bis etwa 500 Meter vor das Hotel. So schoben wir, dank unserer Motorradkleidung viel umjubelt als vermeintliche Dakar-Heroen, die letzten Meter. Gut, dass wir hier zwei Tage Aufenthalt hatten. Zeit genug, sich um den gerissenen Keilriemen und die abgenudelte Riemenrolle zu kümmern.
Nachdem am nächsten Tag mithilfe des Einheimischen Adolfo - der Name kommt leider nicht von ungefähr im deutschlandaffinen Chile - der Anhänger wieder einmal mit einem Toyota geborgen wurde, konnte Mauricio sich danach um den Bus kümmern. Er bekam zwar einen Keilriemen, aber keine Rolle. Ganz Brasilianer, richtete er die alte so gut es ging. Allerdings gab es in Sachen defekter Einspritzung, dem eigentlichen Problem, keinerlei Hilfe. Zu allem Überfluss war der Anhänger nun stark beschädigt! Weil besagter Adolfo mit zu viel Schwung hatte ankuppeln wollen und ihn robust in Richtung Tal schubste. Mit geschätzten 50 km/h schlug dieser dann so etwa 300 Meter weiter unten rückwärts in ein natürliches Kiesbett ein. Die ersten 50 Meter hing Mauricio noch an der Deichsel, weil er verzweifelt versucht hatte, den Anhänger zu halten. Ja, diese tückische Höhenluft, sie stellt mitunter den Verstand der sie Atmenden ab.
Auch sehr gut zu erkennen an einigen weiteren Heldentaten. Der Versuch, einen vollgekifften Hippie samt 70er-Scheibenbulli als Gepäckfahrer verpflichten zu wollen, zählt ebenso dazu, wie der Ansatz, die fast leer gefahrenen XTs in absoluter Verzweiflung und Ermangelung an weiteren sinnvolleren Schmierstoffen mit Fioul zu betanken. „Warum verdunstet der Sprit nicht?“, war eine gute Frage, die im weiteren Verlauf der Diskussion zur Erkenntnis führte, das Fioul dann wohl doch Diesel sein musste. Und die Luft flimmerte schon wieder …
Vierstündige Schikane eines Herrn Oberleutnants
Jedoch: Auf Adolfo war erneut Verlass. So ließ er uns auch an diesem schweren Tag nicht im Stich und brachte den angeschlagenen Anhänger den ganzen langen Weg hoch bis zum Paso Sico. Und hier stehen wir jetzt immer noch. Wie eingangs der Geschichte. Und Herr Eduardo Dias macht für uns den Tag zur Nacht. Nach vierstündiger Schikane hat es der Herr Oberleutnant dann doch hinbekommen und unseren Motorrädern völlig überflüssige Papiere ausgestellt: Mit denen diese mit uns dann doch noch nach Argentinien einreisen dürfen. Um 23 Uhr! Somit müssen in stockfinsterer Nacht die letzten 120 Kilometer der schon am Tag nicht ungefährlichen Ruta 51 bis zum Zielort San Antonio bewältigt werden. Kein leichtes Unterfangen, zumal die Scheinwerfer der XTs etwa so viel Licht spenden, wie eine Taschenlampe mit schwächelnder Batterie. Einzig wahrer Lichtblick auf dieser Wahnsinnsetappe ist der Sternenhimmel über uns. Wie unter einer funkelnden, ganz dicht übergestülpten Käseglocke, glaubt man, das Firmament mit der Hand berühren zu können.
Welche Ironie des Schicksals: Nur weil Murphy uns nicht in Ruhe und Herr Eduard „am Tage“ (wie sein Name übersetzt heißen könnte) von der örtlichen Zolldienststelle uns nicht passieren lassen wollte, entdecken wir so, völlig unverhofft, das fantastische Universum in seiner ganzen Herrlichkeit. So hoch hinaus sollte es ja eigentlich gar nicht gehen ...
Infos zur Motorradreise Argentinien





Flüge: Wer nach Südamerika möchte, sollte versuchen, die Hauptziele anzusteuern. Flughäfen, die von allen Airlines angeflogen werden, sind wegen der starken Konkurrenz immer günstiger zu erreichen. São Paulo ist ein gutes Beispiel, weil auch die Flugstrecke vergleichsweise kurz ist. Die Inlandsflüge sind aufgrund des insgesamt niedrigeren Preisniveaus in Südamerika dann auch wieder recht günstig. Wer flexible Flugdaten hat, kann ordentlich sparen.
Motorräder: Der Veranstalter Brasil Adventure Tours stellt derzeit um von den alten XT 600 auf die neue wassergekühlte und eingespritzte XT 660. Nicht zuletzt diese Reise gab den Ausschlag für diese Entscheidung. Die abgebildete GS ist ein privates Motorrad. Ausgerechnet an dem Tag, an dem der Autor sie mal fahren durfte, entstand das Aufmacherfoto. Die Gretchenfrage, ob vor Ort Mietmotorräder oder der Transport des eigenen aus Europa Sinn macht, ist nicht pauschal zu beantworten. Allerdings gibt es Anhaltswerte.
So ist für einen zweiwöchigen Trip ein Mietmotorrad sicher die bessere Alternative. Für Reisen ab zwei Monate durch Südamerika ist dann wieder das eigene Motorrad samt Logistik günstiger. Alles dazwischen muss situationsbedingt betrachtet werden. Wenn man ausgewählte Regionen Südamerikas in kurzer Zeit mit dem Mietmotorrad bereisen möchte, dann kann man sich auch gleich einem Reiseveranstalter anschließen. Das ist um einiges einfacher – und viel sicherer.
Verkehr: Auch wenn es nicht so erscheint, der Straßenverkehr in Argentinien und Chile läuft ziemlich defensiv und überraschend rücksichtsvoll ab. Was einen freilich nicht davon abhalten sollte, mit dem Motorrad ebenfalls immer schön defensiv zu fahren und im Zweifel den stärkeren Verkehrsgenossen die Vorfahrt zu überlassen.
Geld: Argentiniens Währung befindet sich derzeit im freien Fall. Seit das Land als zahlungsunfähig eingestuft wurde, galoppiert die Inflation. Wer genügend US-Dollar mitnimmt, hat damit eine stabile Währung in der Tasche. Der Wert des Dollars wächst jeden Tag reziprok zur Entwicklung des Pesos.
Reiseveranstalter: Die hier beschriebene Reise war die Scouting-Tour zur „Hohen Anden“-Tour des MOTORRAD action team, die sich früher auch „Auf den Spuren der Dakar“ nannte. Die Dakar ist zwar längst schon weitergezogen, dennoch hat diese Reise noch viel mit dem Spirit der modernen Ausrichtung dieser Rallye zu tun. Man fährt schon dort, wo auch die Offroad-Heroen einst lang düsten, nur eben nicht auf den schwierigen Etappen, sondern eher auf guten Asphaltstraßen oder auch mal auf staubigen Pisten. Ganz frei von Schotter wird die Tour sicher nie sein. Und das ist auch gut so.
Derzeit kostet die Reise 6590 Euro. Informationen dazu telefonisch anfordern: 07 11/1 82-19 77. Alle Fernreisen, die das MOTORRAD action team anbietet, finden Sie hier: www.motorradonline.de/actionteam
Literatur: Die Bibel für Südamerika ist zweifelsohne das rein englischsprachige South American Handbook aus dem Footprint Verlag für 44,90 Euro. Wertvolle Dienste leistete auch „Südamerika für wenig Geld“ von Lonely Planet in deutscher Sprache für 29,90 Euro, auch wenn die Auswahl sehr stark auf Low Budget zugeschnitten war.
Karten: Als Übersichtskarte für das südliche Südamerika ist die Marco Polo Karte im Maßstab 1:4 000 000 für 9,99 Euro zu empfehlen. Zum Navigieren vor Ort sind die wasserresistenten Blätter Argentinien (1:2 000 000) und Chile (1:1 600 000) vom Reise-Know-How Verlag zu je 8,90 Euro perfekt.
Argentinien
Hauptstadt: Buenos Aires Fläche: 2 780 400 km²
Gründung: 9. Juli 1816 (unabhängig von Spanien)
Währung: Argentinischer Peso
Einwohnerzahl: 40,5 Mio.