Erinnerungen mischen sich bisweilen ungefragt in eine Reise ein. Wie heute Abend. Birgit und ich hocken am Ufer des Gardon, bestaunen den riesigen römischen Aquädukt Pont du Gard und warten, dass er in der Dämmerung fotogen angestrahlt wird. Hatte uns jedenfalls der Campingchef versprochen. Wir warten vergebens bis spät um elf. Es gibt gar keine Strahler. Reingefallen. Aber während wir vor der monumentalen Brücke warten, schwappen plötzlich Erinnerungen in Schwarz-Weiß durchs Hirn. Erinnerungen einer alten Reise, Bilder von einer gewaltigen Schlucht und einer unglaublichen Straße, die dort oben an der Kante entlangtänzelt und mit ihren perfekten Radien zum Noch-mal-Fahren auffordert. Die Ardèche-Schlucht. Aber warum schwarz-weiß? Ist den Erinnerungen die Farbe ausgelaufen? Zu lange gelagert? Vielleicht liegt es einfach daran, dass ich vor 34 Jahren schwarz-weiß fotografierte, damals, auf meiner zweiten langen Reise bis ins Baskenland, natürlich mit meiner XT 500. Und was hat das alles mit dem Hier und Heute zu tun? Nun, wir wollten morgen eigentlich zum Mont Ventoux und weiter in die Provence fahren. Aber jetzt sind diese Erinnerungen an die famose Ardèche-Schlucht so stark, dass wir einfach unseren Plan ändern.
Also auf zur Ardèche. Jeder Umweg lohnt sich, um diese Schlucht zu sehen. An einem Montagmorgen im Mai ist auf der feinen Panoramastraße Corniche kein Mensch unterwegs, die zahlreichen Aussichtspunkte in die grandiose Schlucht haben wir ganz für uns allein. Ein wilder Canyon mit unzähligen Schleifen, eingefasst von senkrechten weißen Karstwänden, ganz unten glitzert der Fluss, der das alles geschaffen hat. Und die Straße ist immer noch der absolute Hammer wie vor 34 Jahren. Tolle Radien, griffiger Teer, kein Verkehr. Wir fahren sie gleich dreimal, zweimal zum Staunen, einmal zum konzentrierten Kurvenschubbern. Oder umgekehrt. Oder einfach noch mal. Hatten wir eigentlich noch was anderes vor?
Asphalt in perfektem Zustand
Ach ja, die Provence. Weit im Osten leuchtet schon unser nächstes Ziel, der kalkweiße nackte Gipfel des Mont Ventoux. Also nichts wie hin. 1912 Meter misst der Riese der Provence, von den Römern Mons Ventosus, windiger Berg, genannt. Tatsächlich registriert die Wetterstation auf dem Gipfel oft Windgeschwindigkeiten über 200 km/h. Dann bläst der Mistral, ein kalter Nordwestwind, durchs Rhone-Tal. Wir haben Glück, der Mistral pustet heute nur schüchtern, aber immerhin hat er den Himmel so sorgfältig poliert, dass wir vom Gipfel des Ventoux das Mittelmeer sehen können und im Norden die verschneiten Alpen. Gestochen scharf ragen die vergletscherten Viertausender des Barre des Ecrins auf und noch weiter entfernt, unglaubliche 220 Kilometer, erkennen wir sogar die weiße Kuppe des Montblanc. Was für ein glasklares Panorama!
An dem sich die Radfahrer, die den Ventoux zu Tausenden erobern, weniger erfreuen können. Sie sind einfach froh, den legendären Giganten der Tour de France bezwungen zu haben. Wie ihre Helden Eddy Merckx, Marco Pantani oder Lance Armstrong, nur ein wenig langsamer. Gut zu wissen für Motorradfahrer ist übrigens, dass der Asphalt in perfektem Zustand ist, wie auf fast allen Strecken, auf denen die Tour de France unterwegs ist. Da werden schon mal komplette Pässe frisch geteert.
Gelbe und weiße Kurvenwunder der Provence
Der Mistral bleibt uns noch ein paar Tage treu, sorgt für perfektes Frühlingswetter: Glasklare Luft, 22 Grad, ein paar weiße Wolken dümpeln dekorativ am tiefblauen Himmel. Gelber Raps, roter Mohn, grüner Lavendel, ab und an ein rustikales gemütliches Dorf wie Sault, Goult, Gordes oder Rousillon. Perfekte Bedingungen für eine Wellness-Woche mit unseren Einzylindern. Und die findet sicher nicht auf den bolzgeraden Nationalstraßen statt, sondern auf all diesen gelben und weißen Kurvenwundern der Provence, mit denen die Michelin-Karte lockt. Zeit lassen, Motorradwandern zwischen entspannt und engagiert, Dauergrinsen unterm Helm, morgens noch nicht wissen, wo wir abends sein werden. Treiben lassen, vielleicht verführt uns ja ganz spontan irgendein Schild oder ein spannender Weg dazu, ungeplant abzubiegen und anderswo zu landen als gedacht. Die Freiheit des Reisens, genau so muss das sein.
Östlich der Luberon-Berge hügelt sich die Provence unspektakulär dahin. Wiesen, Äcker, Rapsfelder, Kiefernwälder, Macchia, alles badet im starken Licht des klaren Mistralhimmels. Ist dies das berühmte Licht der Provence, von dem Generationen von Malern schwärmten? Was soll an diesem Licht so anders sein als an anderen Orten, die auf 44 Grad nördlicher Breite liegen? Zum Beispiel Kroatien, Hokkaido oder Oregon. Im Sommer grell und hell, im Winter warm und weich, bei feuchter Mittelmeerluft matschig und diffus, aber erst vom Mistral feinstaubfrei getrocknet und gereinigt, so klar, wie man es selten anderswo erlebt. Bestimmt ist der Mistral auch wieder schuld an der Geschichte mit dem besonderen Licht.
Aber so langsam schwächelt er, der Mistral, Freund der Fotografen, Maler und Surfer, je weiter wir ostwärts fahren. Cucuron, Manosque, Moustiers. Als wir eines Abends den Grand Canyon du Verdon erreichen, sicher die größte Attraktion der Provence, hat der Wind auf Süd gedreht und schaufelt fette Mittelmeerluft übers Land. Das war’s dann mit der grenzenlosen Fernsicht. Trotzdem haut uns die grandiose Verdon-Schlucht wieder aus den Socken, jedes Mal, egal, wie oft man auch hier war, sie ist immer wieder atemberaubend, gigantisch und schön.
Strecke rangiert in den europäischen Top Ten
Lange hat der einstmals wilde Verdon geduldig und beharrlich am weißen Kalkgestein geknabbert, bis er die 700 Meter tiefe Schlucht geschaffen hatte. Das ist längst vorbei, seit 40 Jahren haben fünf Stauseen im Oberlauf dem Verdon seine erosive Kraft genommen. Heute schwappt er sanft durch den Canyon, streichelt die Felswände nur noch ein wenig und versickert im türkisgrünen Stausee Lac de Sainte-Croix am Ende der Schlucht. Wir gönnen uns zwei Tage für den Grand Canyon, fahren die 110 Kilometer lange Aussichtsstraße, die meist ganz oben am Rand der Schlucht balanciert, mal linksrum, mal rechtsrum, und kommen kaum über den dritten Gang hinaus, weil es einfach so viel zu bestaunen gibt. Kein Zweifel, diese Panoramastrecke rangiert in den europäischen Top Ten ganz weit vorn. Aber bitte nicht im Sommer oder an Wochenenden fahren, das machen Tausend andere, die nicht immer wissen, ob sie auf die verwinkelte Straße oder in die Schlucht sehen sollen.
Das gute Wetter ist hartnäckig. Gut so. Was uns ein wenig kühn werden lässt. Ob die Alpenpässe schon offen sind? Cayolle und Champs sind es nicht, aber der Allos ist grün markiert. Voilà. Sehen wir doch einfach nach, kurven auf die verschneiten Berge des Haute Verdon zu, die Enduros bollern über die verkehrsfreien Winzpässe Col du Buis und Col du Félines. Kurs Nord. Die heitere Atmosphäre der Provence weicht überraschend schnell der alpinen Schwermut. Finstere Fichten statt heller Kiefern, dunkelgraue und abweisende Häuser statt hellbrauner und freundlicher Gemäuer, bedrohlich enge Täler statt weiter Fernsicht, dunkle Wolken statt Sonne. Trotzdem klettern wir auf den 2247 Meter hohen Col d’Allos, mitten hinein in eine andere Welt. Tiefster Winter, minus zwei Grad. Meterhoher Schnee engt die Straße ein. Farblos, schwarz-weiß. Eine Erinnerung an alte Zeiten? Nein, gegenwärtige Realität. Also lieber weg hier. Ein Schild weist nach Süden:Cannes 165 km. Ist das nicht am Mittelmeer? Da ist es sicher warm und bunt. Bitte wenden!
Infos zur Provence-Motorradtour
Anreise: Der schnellste Weg aus Süddeutschland führt über Basel, der schönste durch die Schweizer Alpen. Vom Rheinland aus empfiehlt es sich, als schnellste Route zunächst Richtung Saarbrücken, dann weiter über leider mautpflichtige Autobahnen vorbei an Lyon bis Orange zu fahren. Die kürzeste Entfernung von Köln bis zum Grand Canyon du Verdon beträgt rund 1100 Kilometer.
Reisezeit: Bereits im April lockt die Provence mit Sonne und Wärme, die ersten Tage mit bis zu 25 Grad Celsius sind genauso möglich wie ein später Kälteeinbruch aus Norden. Mai, Juni, September und Oktober sind ebenfalls prima Reisezeiten. Im Juli und August kann es über 35 Grad heiß und deutlich voller werden.
Unterkunft: Im Gegensatz zur nahen Cote d’Azur kann man in der Provence selbst im Hochsommer mit etwas Geduld noch ein Hotelbett finden. Im Angebot sind Quartiere jeglicher Qualität, von der Jugendherberge bis zur mondänen Übernachtung in historischen Schlössern. Zudem gibt es oft wunderschön gelegene Campingplätze. Informationen z. B. unter www.logis-de-france.fr
Motorradfahren: Ein Netz kleiner und kleinster Straßen durchzieht die Provence. Die Straßen sind oft schmal und extrem kurvig, die Beläge reichen vom feinsten Teer mit bestem Grip bis zu den hinterhältigen Rollsplittstrecken, wo die Sommersonne das Bitumen verflüssigt. Französische Autofahrer verhalten sich glücklicherweise meistens auffallend freundlich und rücksichtsvoll gegenüber Motorradfahrern.
Literatur & Karten: Der Autor hatte den Reiseführer „Provence & Cote d’Azur“ vom Michael Müller Verlag an Bord. Auf 700 Seiten bietet er eine beein- druckende Informationsfülle für alle Individualreisenden. Preis 24,90 Euro. Ebenfalls empfehlenswert ist das Buch„Provence“ aus dem Verlag Reise Know How für 23,90 Euro. Fürs Schmökern zu Hause eignet sich der DuMont-Bildatlas „Frankreichs Süden“ für 8,50 Euro. Die besten Karten für die Region kommen von Michelin. Die sehr detaillierten Blätter 332, 334 und 340 im Maßstab 1:150 000 kennen fast alle Wege. Die Karten kosten vor Ort 4,50 Euro, mit dem unnötigen Pappumschlag in Deutschland 7,50 Euro.
Adressen: www.franceguide.com oder www.sunfrance.com, www.frankreich-info.de, aber auch: www.provence.de