Am Anfang müssen alle erst durch Trümmer: Mehrere Hunderttausend Besucher pro Jahr passieren zunächst Erinnerungen an ein Land in Schutt und Asche, an DRK-Suchdienste, Wiederaufbau und Care-Pakete. Aber auch an den Aufschwung der Demokratie in Deutschland West und den des Sozialismus in Deutschland Ost. Da gehören Fahrzeuge aus der Aufbau- und Übergangszeit dazu. Ein Fahrrad mit Tretkurbel und angeflanschtem Miele-Hilfsmotor verdeutlicht den zaghaft wiederaufkeimenden Individualverkehr – zwischen VW Käfer und Messerschmitt Kabinenroller. Dagegen steht ein Simson-Moped für die Massen-Mobilität der Werktätigen in der DDR.
Zweiräder in ihrem historischen, gesellschaftlichen Kontext eben. Genau dies ist das Besondere in Bonn: Hier geht es nicht um Technik, sondern um Deutung und Bedeutung des Motorrads. Es gibt viel wichtigere Motorrad-Museen mit mehr Maschinen und bedeutenderen Typen. Doch als eines der zehn meistbesuchten Museen in Deutschland konfrontiert das Haus der Geschichte überraschend viel mit Aspekten der Zweirad-Geschichte. Seine unterhaltsame Dauerausstellung zur Entwicklung Deutschlands seit 1945 setzt Maßstäbe durch Vielfalt und moderne, multimediale Präsentation, seine Wechselausstellungen werden weithin beachtet. Und immer mittendrin: besondere Zweiräder.
Sinnig, spannend, elegant-gediegen
Elegant-gediegen wirkt die Vespa „Königin“ mit Chromverzierung und Reserverad in perfektem Zustand. Der 125er-Roller mit 5 PS und Drehgriffschaltung kostete 1954 satte 1525 Mark. Er steht stellvertretend fürs Wirtschaftswunder und die Sehnsucht nach italienischer Lebensart in der Bundesrepublik der 50er-Jahre, für erste Urlaubsfahrten auf die andere Seite der Alpen, für „erschwinglichen Luxus und ein Lebensgefühl“. Rauskommen, in eine andere Welt!
Spannend in der Abteilung 50er-Jahre sind Fotos von „Halbstarken“ auf Mopeds – kleine Fluchten oder totaler Ausbruch aus bloß vermeintlich kleinbürgerlicher Idylle? Dazu passt die Erinnerung, wie Jeans und Lederjacken ein Tabubruch in der muffigen (west)deutschen Gesellschaft der 50er- und 60er-Jahre waren. Sinnig: Das Filmplakat von „Der Wilde“ („The Wild One“) zeigt Marlon Brando als Anführer einer Rocker-Gang. Repräsentativ: Eine ehemalige Eskorten-BMW in Polizeigrün aus den 60er-Jahren illustriert am U-Bahn-Zugang des Museums das Kapitel Staatsempfänge in der Bonner Republik. Passend vor Fotos und Filmaufnahmen vom Besuch John F. Kennedys am Rhein im Jahr 1963, auf denen viele „weiße Mäuse“ fahren, so der Kosename dank der Fahrer in schneeweißem Leder.
Komplexe Geschichte(n) mit typischen Zweirädern verdeutlicht
Eines der berühmtesten Exponate des ganzen Hauses – und dies sind Tausende – hat ebenfalls zwei Räder: die Zündapp Sport Combinette des millionsten Gastarbeiters in Westdeutschland. Museal aufbereitet warten die 70er-Jahre mit Studentenunruhen und „Flower Power“ auf, mit Che Guevara und der Lederjacke (!) von Straßenkämpfern. Und mit einem bunt lackierten Übersee-Schiffscontainer zum Thema Im- und Exporte.
Darin steht eine Honda CB 750 F, eine kleine Bol d’Or. Zusammen mit Hi-Fi-Geräten und Kameras ist die 750er Sinnbild dafür, wie japanische Produkte in dieser Epoche nach Europa und Deutschland strömten: günstig, massenhaft und qualitativ hochwertig verarbeitet. Kleiner Schönheitsfehler: Die Vierzylinder-Honda ist mit einer Nachrüst-Verkleidung versehen, so also kam sie niemals fabrikneu aus dem Land der aufgehenden Sonne an. Hier irrte der Kurator. Trotzdem löblich, wie das Museum komplexe Geschichte(n) immer wieder auch mit typischen Zweirädern verdeutlicht. Original-Emailleschilder an den Wänden mit Werbung für Moped-, Motorrad- und Automarken aus den 50er- und 60er-Jahren sind Beleg der einst sehr reichen Zweirad-Kultur in Deutschland. Im Jahr 2013 zeigte eine Sonderausstellung „The American Way – die USA in Deutschland“. Dazu stellte das Museum neben vielen anderen Themen eine Replik des Harley-Choppers „Captain America“ in den Mittelpunkt. Der Begleittext dazu lautete für jedermann lesbar: „Die Harley-Davidson (…) ist ein Symbol für den Wunsch nach Freiheit und Abenteuer.“ PR fürs Motorrad, gemacht vom historischen Museum.
Publikationen zum Zweirad-Thema
Empfehlenswert sind die gelungenen Publikationen des Hauses in der Reihe „Zeitgeschichte(n)“. Der Band zur Zündapp Sport Combinette trägt den Titel „Geschenk für den millionsten Gastarbeiter“. Er erinnert an das zweirädrige Gastgeschenk, den weiteren Werdegang dieser einen Sport Combinette und die Suche nach diesem besonderen Mokick. Andere Kapitel widmen sich dem Schicksal von Armando Rodrigues de Sá und seiner Familie sowie dem Thema Zuwanderung nach Deutschland allgemein. Ein tolles Buch für günstige 7,90 Euro (Bezug: vor Ort und unter https://shop.hdg.de).
In der gleichen Reihe und ähnlicher Aufmachung, Format 21,5 x 21,5 cm) hat Hans Walter Hütter den Band „Motorroller: Vespa & Co.“ veröffentlicht. Für Scooter-Freunde ist das Büchlein eine reiche Fundgrube zur Faszination von Vespa, Lambretta, DKW Hobby, Heinkel Tourist, Goggo und Schwalbe. Ebenfalls für 7,90 Euro zu haben. Das 1994 eröffnete Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hat noch mehr Zweiräder im Fundus, die aber nicht öffentlich gezeigt werden. Es liegt in der Willy-Brandt-Allee in 53113 Bonn, Telefon 02 28/916 50, www.hdg.de/bonn. Der Eintritt ist frei, die Öffnungszeiten sind Dienstag bis Freitag 9 bis 19 Uhr, Samstag und Sonntag 10 bis 18 Uhr.
Museums-Highlight zur Zeitgeschichte

Gastarbeiter-Geschenk mit Gebläsemotor
Bahnhof Köln-Deutz, 10. September 1964, 9 Uhr 32: Quietschend kommt der Sonderzug aus Spanien zum Stehen. Über 1000 Gastarbeiter steigen aus, finden sich plötzlich Herren in schwarzen Anzügen gegenüber: Die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände feiert mit Pauken und Trompeten den millionsten ausländischen Arbeiter. Armando Rodrigues de Sá soll es werden. Dazu hat das Los den 38-jährigen Zimmermann aus dem kleinen portugiesischen Dorf Vale de Madeiros bestimmt.
Er erhält eine blumengeschmückte Zündapp Sport Combinette als Dank und Zeichen der Anerkennung für bald zu leistende Arbeit in Deutschland. Ein berühmtes Foto zeigt, wie Armando Rodrigues de Sá völlig verdutzt und verschüchtert auf seinem nagelneuen Zündapp-Moped sitzt und ziemlich verlegen den Klängen von „Auf in den Kampf, Torero“ lauscht. Die Begrüßung mit großem Bahnhof ging quer durch alle deutschen Zeitungen, auch die Wochenschauen berichteten in Bewegtbildern über die Zeremonie.
Original-Exemplar der Zündapp steht im Bonner Haus der Geschichte
Zwar sagte dem Portugiesen niemand, was er mitten auf dem Bahnsteig mit der 50er anfangen sollte, aber gefreut hat er sich übers Mokick dann wohl doch: Er nahm es spontan mit an seine neue Arbeitsstätte nach Stuttgart. Besonders wichtig für Neulinge im Land: Mokicks waren generell steuerfrei mit Führerschein der Klasse 5 zu bewegen.
Das Original-Exemplar der Zündapp steht im Bonner Haus der Geschichte: Lediglich behutsam restauriert, ist die Zündapp eines der berühmtesten Ausstellungsstücke des Museums. Professor Dr. Hermann Schäfer schreibt im Vorwort zum Buch über diese Zündapp Combinette: „Das Mokick symbolisiert Mitte der 1960er-Jahre Aufbruch und Mobilität: Es ist ein Angebot, das Land kennen zu lernen. Viele junge Menschen in Deutschland nutzen die Chance der individuellen Motorisierung.“
Sport Combinette 1964 das meistgekaufte deutsche Mokick
Die 1963 präsentierte Sport Combinette ist 1964 zum Preis von 1078 Mark das meistgekaufte deutsche Mokick: ein hunderttausendfach bewährter 50-Kubik-Zweitakter mit 2,6 PS, Gebläsekühlung, Dreiganggetriebe mit Fußschaltung und Kickstarter links. Sein Chassis mit „moderner Druckgusskarosserie“ hatte eine Teleskopgabel, vier hydraulisch gedämpfte Federbeine und einen geschlossenen Kettenkasten. Erwachsen wirkten 12,5-Liter-Tank und „elegante Doppelsitzbank“ (Zündapp-Werbetext). Nur diese eine spezielle, so berühmte Zündapp des 1979 verstorbenen Zimmermanns galt lange als verschollen. Doch 1999 wird die Deutsche Botschaft in Portugal fündig: Die Familienangehörigen meldeten sich, das gesuchte Mokick wäre noch vorhanden – Armando Rodrigues de Sá kehrte 1970 nach Portugal zurück.
Die Kunde von der Existenz des Mokicks löste im Haus der Geschichte Freude und Skepsis aus. War es auch wirklich das Original-Fahrzeug? Dies soll Jürgen Kurzhals, Leiter der Botschaftsaußenstelle, beim Besuch der Familie klären. Er berichtet: „Wir trafen auf vier Generationen“ – Witwe, Tochter, Enkel und Urenkel des 1979 Verstorbenen. „Gelegentlich hatte man das Gefühl, dass über den Ankauf der britischen Kronjuwelen verhandelt wurde. Das Motorrad steht verstaubt in einem Schuppen und ist nicht mehr in bestem Zustand, doch für Ausstellungszwecke in jedem Fall geeignet. Das Fahrzeug hat eine portugiesische Zulassung, am Sattel ist (so war es damals vorgeschrieben) sogar noch das Namensschild von Armando Rodrigues de Sá angebracht.“
Besitzerwechsel für 10.000 Mark
Der Enkel betont die Zuverlässigkeit des Mokicks, mit dem nach dem Tod des Großvaters noch andere Familienangehörige fuhren. Der Vergleich mit Fotos von der Schenkung im Jahr 1964 und die Überprüfung des Typschilds, Fahrgestell-Nummer 5429253, bestätigen eindeutig, dass es sich um das Original-Mokick handelt. Es wechselt für 10.000 Mark (!) den Besitzer – die Familie hatte die Bedeutung ihres Besitzes verstanden.
Die per Spedition nach Bonn verschiffte Zündapp würdigt die ARD-„Tagesschau“ als herausragenden Beleg deutscher Geschichte und der Gastarbeiter hierzulande. Im Jahr 2000 wird das Museumsstück-Mokick in die Dauerausstellung des Hauses der Geschichte integriert. Es schmückt noch im selben Jahr auf der Weltausstellung Expo in Hannover den Ausstellungspavillon zum Thema „Arbeit“: kleiner Motor, große Symbolkraft.