Mal was anderes als Provence oder Westalpen erleben? Wir hätten da einen Tipp: die Region südlich von Grenoble. Aber Vorsicht: Die tollkühnen Straßen des Vercors sind nur für Schwindelfreie geeignet.
Mal was anderes als Provence oder Westalpen erleben? Wir hätten da einen Tipp: die Region südlich von Grenoble. Aber Vorsicht: Die tollkühnen Straßen des Vercors sind nur für Schwindelfreie geeignet.
Die Provence, die Westalpen, der Genfer See – was haben diese Regionen gemeinsam? Millionen von Touristen pilgern alljährlich hierher, haben die Auswahl zwischen Dutzenden von Reiseführern fürs Zielgebiet. Aber wie sieht es mit der Gegend zwischen diesen Touri-Hotspots aus? Südlich von Grenoble, im Vercors und der Region Isère? Nicht ein einziger Reiseführer ist hierzulande aufzutreiben. Verdächtig, oder? Terra incognita, mitten in Europa? Vergessenes Land, völlige Einöde? Fahren wir doch einfach mal hin und sehen nach, satteln die Enduros und braten die 800 Kilometer bis zur Olympiastadt Grenoble.
Suchen dort lange und finden endlich die dürftig ausgeschilderte D 106, die Grenoble durch noble Villenvororte Richtung Vercors verlässt. Und sich sogleich mit den Bergen anlegt, höher und höher, bis jenseits der 1000-Meter-Marke. Das Vercors, eine kalte Hochfläche, die Winter dauern nicht selten bis weit in den Mai, nur spärlich besiedelt, aber von tiefen Schluchten durchzogen, die wilde Flüsse geduldig ins weiche Kalkgestein geknabbert haben. Wie die Gorges de la Bourne, dort wurde eine schmale Straße mühsam durch die Felsen gemeißelt, mit rustikalen Tunneln und lustigen Mäuerchen am Abgrund zum rauschenden Fluss.
Rechts ab auf die Route des Ecouges. Ein paar enge Kehren, eine Handvoll feiner Kurven, dann bolzgerade und aussichtsfrei durch dichten Kiefernwald hoch bis 1.069 Meter. Hm, was soll hier spannend sein? Wart’s ab, du kennst die Dramaturgie der Vercors-Bergstraßen noch nicht. Denn die geht so: Nach einem netten, aber keineswegs adrenalinfördernden Anstieg durch den Wald tauchst du in einen grob gezimmerten finsteren Tunnel ein, es wird wieder hell und dich trifft der Vercors-Hammer, unvorbereitet und heftig. Plötzlich ist die Welt eine andere, ein Overkill an Eindrücken lässt nur eine Reaktion zu, Vollbremsung, Schnappatmung, du kannst nicht glauben, was du jetzt siehst. Der Berg ist hier so was von zu Ende, stürzt senkrecht als weiße Kalkwand ins Nichts der Tiefe. Und an dieser Wand klebt nun die Straße, garniert mit weiteren kurzen Tunneln, vorm tiefen Fall schützt symbolisch ein kaum kniehohes Mäuerchen. Uff, und du dachtest bisher immer, für ein solches Spektakel müsste man mindestens bis in den Himalaja fahren? Vergiss es, das Vercors reicht für maximalen Nervenkitzel.
Zittern unsere Einzylinder beim Restart etwa mehr als üblich? Oder sind es doch die Piloten? Abseilen nach St. Gervais, ein doppelter Café au Lait tut not. Auf der Michelinkarte entdecken wir ein weißes Sträßchen, garniert mit grünem Streifen und roten Punkten für gefährliche Wegstrecke. Verlockend, nix wie hin. Die Gorges du Nan. Gleiche Dramaturgie, erst harmlos durch den Wald berghoch, ein scharfer Linksknick mündet in einem engen und finsteren Tunnel, und dann wieder: boah! Als ob das Programm in einer Sekunde von Rosamunde Pilcher in einen Hitchcock-Thriller wechselt. Eine senkrechte weiße Wand, tief unten die grüne Schlucht und auf dreiviertel Höhe hängt dieser Weg am Fels. Kunstwerke des Straßenbaus, tollkühn in die Wand gehämmert, der reale Albtraum ängstlicher WoMo-Fahrer. Zahlreiche tiefe Schürfwunden am Fels zeigen, dass sich so mancher Pilot aus Angst vor dem finalen Absturz etwas zu heftig an die Wand angelehnt hat.
Die Fotos sind im Kasten, die D 22 beruhigt sich wieder, mäandert völlig harmlos über eine weite Hochfläche, Wiesen mit dicken Kühen, Kiefern mit dicken Zapfen, winzige Orte mit rustikal-alten Gemäuern wie Le Fas oder Presles. Zeit genug, den Puls runterzufahren, bevor sich der schmale Weg mit grandiosen Aussichten in die karstige Berg- und Tallandschaft hinunter nach Pont-en-Royans windet. Natürlich nicht einfach so, ein paar grobe Tunnel und absurd enge Kehren müssen es mindestens sein. Wir sind schließlich im Vercors. Pont-en-Royans hat seine besten Jahre offenbar hinter sich. Die alten und bis zu neunstöckigen pastellfarbenen Häuser, die sich sehr fotogen über dem aufgestauten Bourne gruppieren, täuschen über den leicht morbiden Charme entlang der Hauptstraße hinweg. Nach 18 Uhr herrscht hier wirklich tote Hose. Viel lebendiger ist das Nachbarstädtchen St. Jean, ohne touristische Höhepunkte zwar, aber um Längen gemütlicher mit seinen Cafés, Läden und Patisserien. Und einen prima Campingplatz gibt es zudem.
Am Ortsende geht die D 76 den langen Anstieg zum Combe Laval an, dem dramatischen Höhepunkt des Vercors. 800 Höhenmeter bollern unsere Enduros durch finsteren Wald bergan. Wenn es dumm läuft, so wie heute, taucht man kurz vor oben in fiesen Nebel ein. Aussicht null, Wohlfühlfaktor null, Frust maximal. Warten in der feuchten Kälte. Eine Stunde. Dann endlich lichtet sich die Pampe, der Wind reißt Löcher ins undurchsichtige Grau, die Dramaturgie eines perfekten Thrillers, eine unfassbare Szenerie entnebelt sich. Zuerst entdecken wir 700 Meter tiefer das sattgrüne Tal des Combe Laval, eingeschnürt von Felswänden, fast senkrecht und kreidebleich. Sieht fast aus wie ein norwegischer Fjord, dem das Wasser abhandengekommen ist.
Irgendein Verrückter kam vor 120 Jahren auf die absurde Idee, hier oben entlang dieser Wand eine Straße zu bauen, mal in engen Tunneln, dann gefühlt frei schwebend über dem Nichts der Tiefe. Nur ein Kilometer, aber was für einer! Ein haarsträubendes Kunstwerk. Chapeau! Südlich des Combe Laval breitet sich die Hochfläche des Vercors aus, eine sanfte, grüne Landschaft fast ohne Menschen, perfekt zum entspannten Motorradwandern. Und wer Pässe braucht, bitte schön, hier sind ein paar spaßige Exemplare: Col de la Bataille, Col de la Croix, Col de Lachau oder der Col de Rousset, er ist mit seinen vielen perfekten Radien auf bestem Teer am Wochenende der örtliche Biker-Magnet.
Jenseits des Bataille gleitet die Hochfläche sanft nach Südfrankreich, es riecht schon nach Provence. Lavendelfelder, pastellfarbige Steinhäuser und dieses wunderbar weiche Spätsommerlicht. Schmale Wege mäandern durch die vertrockneten Hügel, zwischendurch einige kleine Pässe wie Cavalli, Croix oder Bacchus, allesamt weit von der Pässe-Oberliga entfernt, gleichwohl einfach schön zu fahren. Zumal die Verkehrsdichte wochentags gegen null tendiert.
Noch weiter südlich fließt die Drôme, der Grenzfluss des Vercors. Dort liegt Die, vielleicht die schönste Stadt der Region mit ihrem tollen historischen Zentrum. Überschaubar, gemütlich, authentisch, lebendig – Südfrankreich wie aus dem Bilderbuch. Ein Ort zum Wohlfühlen, ein Ort zum Bleiben. Schöne alte Häuser säumen enge Gassen, fette Platanen beschützen Cafés, üppige Blumen farbklecksen vor uralten Mauern.
Die ist aber auch das Sprungbrett auf die Ostseite des Vercors, hinein in das Departement Isère. Dort geht es noch ruhiger zu, eine ländliche Region zwischen Grenoble, Gap und dem Vercors, Reisende sind allenfalls auf den beiden Nationalstraßen eilig in den Süden oder Richtung Alpen unterwegs. Kaum einer bleibt in den Orten wie Mens und La Mure, kaum einer hat Augen für die schroffen Kalkberge L’Obiou oder Mt. Aiguille. Jemals vom Col de l’Allimas gehört? Oder vom Col de Menée? Nicht? Dann aber nichts wie hin, es lohnt sich. Versprochen. Spektakel? Hier nicht, eher ländliche Idylle ohne die grelle Schminke der touristischen Hotspots, Frankreich pur zwischen Alpen und Provence. Und gerade deshalb echtes Entdeckerland. Wir lassen unser Zelt auf dem Camping Municipal in Mens, ein altes Städtchen mit Charakter und ohne Touristen, gondeln den ganzen Tag kreuz und quer über fast verkehrsfreie Straßen.
Zunächst zum schroffen Felsklotz Mt. Aiguille mit seinen senkrechten Wänden, entlang der mächtigen Montagne des Lans, weißgraue Kalkberge weit über 2.000 Meter hoch, sie sehen aus wie eine Kleinausgabe der Dolomiten. Nicht ein einziges Auto begegnet uns auf der D 8, nur ein paar der in Frankreich omnipräsenten Rennradler. Unten im Tal leuchtet der karibiktürkise Lac du Drac, der die sedimentreichen Gletscherwasser des Barre des Ecrins sammelt, seines Zeichens westlichster 4000er der Alpen und bei klarer Sicht von hier zu sehen. Wie heute, weiße Gipfel zwischen weißen Wolken. Verlockend, klettert doch an seiner Nordseite der legendäre Col du Galibier über die Berge. Aber gemach, noch bleiben wir zwei Tage hier, bestimmt gibt es noch den einen oder anderen Pass, das eine oder andere Dorf, eine coole Tropfsteinhöhle oder was auch immer zu entdecken. Wer weiß, denn ohne Reiseführer wird diese Gegend zum Selbstentdeckerland. Mitten in Frankreich.
Lust auf was Neues, Unbekanntes und gleichwohl Spektakuläres? Wie wäre es mit Vercors und Isère? Frankreich pur, changierend zwischen atemberaubenden Straßen und ruhigem Landleben.
Anreise: Vom Rheinland bis Grenoble sind es etwa 800 Kilometer. Der schnellste Weg von dort aus führt über Luxemburg und weiter über mautpflichtige französische Autobahnen vorbei an Dijon und Lyon. Erfolgt die Anreise von Süddeutschland aus, geht es durch die Schweizer Alpen über Genf und Chambéry nach Grenoble ins Vercors, etwa nach Pont-en-Royans (ab Stuttgart zirka 660 km).
Reisezeit: Mitte Mai sollte selbst im Vercors der Winter durch sein. Verlass ist darauf aber nicht. Selbst im Hochsommer ist diese Gegend nicht überlaufen, ein freies Zimmer oder ein Platz fürs Zelt findet sich immer. Besonders schön ist es im September, noch sommerlich warm, aber nicht zu heiß, die Touristen sind verschwunden, Campingplätze und Pensionen haben aber noch geöffnet.
Motorradfahren: Ein Netz kleiner und kleinster Straßen durchzieht das Vercors. Schnellstraßen und Autobahnen umgehen die Region. Die Straßen sind oft schmal und extrem kurvig, die Beläge reichen vom feinsten Teer mit bestem Grip bis zu tausendfach geflickten rumpeligen Wegen, wo ein komfortables und handliches Zweirad mit langen Federwegen der beste Kumpel ist. Für Klaustrophobiker sind die finsteren Tunnel wenig empfehlenswert, für nicht Schwindelfreie die haarsträubenden Bergstraßen des Vercors ebenso wenig.
Unterkunft: Abseits der Hochsaison ist die spontane Zimmersuche meist kein Problem. Besonders groß ist das Angebot allerdings nicht, die Regionen gehören eben nicht zu den touristischen Hotspots Frankreichs. Zumeist sind einfache bis mittelpreisige Quartiere im Angebot, dazu gibt es einige oft sehr schön gelegene Campingplätze.
Sehenswert: Neben der Landschaft und den grandiosen Bergstraßen sind die meisten Orte sehenswert. Besonders eindrucksvoll ist die Tropfsteinhöhle Choranche in der Gorges de la Bourne. Ein 33 Kilometer langes Labyrinth, wovon ein kleiner Teil im Rahmen einer einstündigen Führung bewundert werden kann. Es lohnt sich wirklich, denn die Choranche zählt angeblich zu den schönsten Tropfsteinhöhlen Europas.
Literatur & Karten: Einen speziellen Reiseführer für das Gebiet gibt es nicht. Viele Infos liefern Provence-Reiseführer, die allerdings weder das Vercors noch Isère einschließen. Die besten Karten für die Region kommen, wie in Frankreich üblich, von Michelin. Die sehr detaillierten Blätter 332 und 333 im Maßstab 1:150.000 kennen fast alle Wege. Die Karten kosten vor Ort 4,50 Euro, mit dem unnötigen Pappumschlag in Deutschland 7,50 Euro.
Infos im Internet gibt es beispielsweise hier:
Lage: Frankreich, in den Départements Isère und Drôme
Amtssprache: Französisch
Währung: Euro
Nächste größere Orte: Valence, Grenoble, Die
Ausdehnung: zirka 30 mal 40 km
Die Gegend südlich von Grenoble ist ein Revier zum Schwindligfahren. Das Gebiet begeistert durch sensationelle Straßen durch steile Felsen. Wer auf der Suche nach einem intensiven Motorraderlebnis ist, ist hier genau richtig.