Der Plan ist einfach: Ich will Südengland durchqueren, von Dover bis Land’s End, und dabei möglichst oft diese einspurigen Wege nutzen. Das garantiert sogar in der Hochsaison Spannung, Einsamkeit und so manche Überraschung.
Der Plan ist einfach: Ich will Südengland durchqueren, von Dover bis Land’s End, und dabei möglichst oft diese einspurigen Wege nutzen. Das garantiert sogar in der Hochsaison Spannung, Einsamkeit und so manche Überraschung.
Das Ende der Welt ist weniger ein geografisches als ein mentales Erlebnis. Denn bekanntlich hat eine Kugel, wie sie unsere Erde nun mal ist, kein Ende. Der karnevalsinfizierte Kölner macht es sich einfach: „Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei.“ Um Selbige soll es in dieser Geschichte aber ganz sicher nicht gehen. Vielmehr um eine Reise quer durch Britanniens Süden bis Land’s End, dem westlichsten Punkt Englands und eines der vielen Enden unserer Erde.
Dass auf der Insel vieles anders ist als auf dem Kontinent, überrascht heute kaum noch. Dass aber das Wetter während meiner zweistündigen Seereise mit der DFDS-Fähre nach Dover von sonnigen 30 Grad zu nebligen 13 Grad abstürzt, das schon. Klischee? Leider nicht. Fix die dicken Handschuhe rauskramen, die Ténéré starten und ab auf die Insel. Das Wichtigste: Keep left! Was mit dem Motorrad viel einfacher ist als zu Fuß, wo du laufend vergisst, dass die Gefahr von der falschen Seite kommt. Trotzdem, besonders in den ersten Tagen justiere ich meine Konzentration auf maximal.
Kurs West, aber nicht einfach so, vielmehr will ich versuchen, möglichst oft die typisch britischen Single Tracks zu nutzen. Das ist langsam, mangels ausreichender Schilder bisweilen eine navigatorische Herausforderung, aber gut für den Entdeckergeist, wenn du fünfmal täglich irgendwo rauskommst und keine Ahnung hast, wo du bist. Zudem ist das Fahren auf diesen Wegen einfach spaßig, und ich vermeide die nervig vollen A-und B-Straßen. Das Wesen dieser einspurigen Verbindungen ist ein ganz besonderes. Single Tracks sind oft uralte Wege aus der Zeit der Pferdekutschen, manche sind kaum zwei Meter schmal, mäandern tunnelartig zwischen hohen und sehr soliden Hecken oder unnachgiebigen Bruchsteinmauern, die jegliche Sicht zur Seite versperren. Die Mitte des Weges, wo praktisch niemand fahren kann außer theoretisch ein Biker, ist im Laufe der Jahrzehnte zu einem massiven grünen oder schottrigen Wall geworden, kurzum, Single Tracks sind bisweilen ganz schön tricky.
Gut nur, dass Gegenverkehr selten ist. Und wenn, hast du kaum eine Chance, als Erster eine Ausweichnische anzusteuern. Engländer sind schneller. Immer. Selten habe ich eine so höfliche und rücksichtsvolle Fahrweise erlebt. Die einzige Sorge ist nur, dass ein Wohnmobilpilot vom Kontinent über so einen Single Track irrlichtert und die freie Breite der grünen Heckenwände selbige des Womos irgendwann unterschreitet. Was kaum zu vermeiden ist. Game over.
Aber nicht nur diese Wege sind was Besonderes, auch die historischen Kleinstädte wie Sandwich, Rye oder Alfriston zeigen ein so echtes und rustikales Ortsbild, dass man dort ohne Weiteres einen Historienschinken drehen könnte. Bilderbuch-England. Tagsüber im Sommer sind diese Orte allerdings mächtig überlaufen, erst abends kehrt die Ruhe zurück, auch für einen entspannten Besuch im Pub. Dann wieder Wiesen, Hügel, Hecken und Laubbäume, hier und da garniert mit ruinösen Burgen oder großzügigen Landsitzen des Geldadels. Countryside, Landlust, selten so entspannend wie hier in Kent und East Sussex. Aber nur für den, der die Hauptstraßen meidet.
Irgendwann kommt der Drang, ans Meer zu fahren, wieder durch. Viele Küstenabschnitte sind allerdings so dicht besiedelt, dass ich sie lieber üppig umfahre. Aber zwischendurch locken Höhepunkte wie die grandiosen Kalkklippen am Beachy Head bei Eastbourne doch zum Meer. 170 Meter hoch ragt diese weiße Wand senkrecht aus dem Ärmelkanal, der rot-weiß gestreifte Leuchtturm unten im Wasser, selbst 44 Meter hoch, wirkt da geradezu winzig und auch ein wenig kitschig. Ist aber eins der beliebtesten Fotomotive der kompletten Südküste.
Viele Single Tracks später rollt die Yamaha in Portsmouth auf die Fähre zur Isle of Wight, wo an diesem Wochenende das berühmte Musikfestival stattfindet, ein Event der Extraklasse, spielten doch hier schon Jimi Hendrix, die Stones oder Joe Cocker. In diesem Jahr, es ist der 50. Geburtstag des IoW-Festivals, haben sich Liam Gallagher, Depeche Mode und an die 60.000 Fans angekündigt. Kein Wunder, dass die Insel an diesen Tagen etwas voller ist als üblich. Trotzdem finde ich schöne Wege, Ecken und Aussichten über die grünen Hügel zum Meer, wo ich die insulare Atmosphäre viel stärker spüre als auf der großen Insel nebenan. Und am Sonntagabend kommt sogar die „Queen Mary“ ganz nah an der Seepromenade von Rye vorbei, mit 345 Meter Länge eines der weltgrößten Passagierschiffe, gebaut auch für die legendäre Nordatlantikroute von Southampton nach New York, die sie noch immer regelmäßig befährt. Ein imposanter Anblick und Auslöser fürs Kopfkino: Meine Ténéré und ich schippern an Bord der QM2 nach NYC. Aber gerne.
Traditionen, kaum anderswo wird ihnen so viel Bedeutung zugemessen wie in Great Britain. Königshaus und Unterhaus, Transatlantik-Liner und Afternoon Tea, historische Autos und Dampfeisenbahnen. Noch nie sind mir so viele alte Triumph, MG und Jaguar begegnet wie in diesen Wochen. Und seit Jahrzehnten habe ich nicht mehr so viele Dampfloks gesehen, die hier auf vorbildlich restaurierten Museumsbahnen täglich mit Zügen unterwegs sind. Zeitreisen, in England sind sie leicht möglich. Mit einer Tradition – oder ist es doch nur ein Klischee? – bricht der Sommer 2018 aber entschieden. Es will einfach nicht regnen. Sonne satt, bis 30 Grad heiß, Campingplätze ohne Schatten – danach fragt sonst niemand! –, Menschenmassen, die aus den überhitzten Städten an die Strände des Atlantiks flüchten, sehr weiße Leiber mit sehr vielen Tattoos. Und trotzdem verliert der Engländer selbst im nervigsten Stau nicht seine Contenance. Wie macht er das nur? Valium im Breakfast Tea?
Genug der vollen Straßen, weg vom Meer, rein ins Dartmoor. Schaurige Bilder krabbeln aus den Ecken meines Hirns, Gruselgeschichten, düstere Stimmung in Schwarz-Weiß an 220 jährlichen Regentagen. Und heute? Strahlende Sonne, weit und breit kein Nebel, keine huschenden Geister, kein Hund von Baskerville. Dafür eine fast menschenleere Weite mit Heide, Kiefern und hartem Gras, Schafe und Pferde innerhalb uralter Kalksteinmauern. Sommeridylle. Auf zur nächsten Etappe, mein XT-Single bekommt wieder Single Tracks zum Frühstück. Die mag er, bollert im dritten Gang gemütlich westwärts, die Alukisten pflücken gelegentlich Blumen oder Gräser vom Rand dieser schmalen Wege. Motorradwandern at it’s best. Willkommen in Cornwall, Rosamunde-Pilcher-Country. Der Reiseführer schwärmt von pittoresken Küstenorten wie Polpero, Mevagissey oder Portloe. Keinen davon sehe ich mir an. Was mich ärgert, aber die Autoschlangen und Menschenmassen an diesem sonnigen 27. Juni mit ebenso vielen Grad Celsius treiben mir erst den Schweiß aus allen Poren und mich sodann weiter.
Bis zur Lizard-Halbinsel, wo ich abends die XT vor dem südlichsten Café von Great Britain parke, hoch über den Steilklippen im ruhigen Ozean, behütet vom schneeweißen Leuchtturm am Lizard Point. Ende-der-Welt Atmosphäre auf dem kahlen Plateau und im kleinen gleichnamigen Ort. Kaum jemand hier, alle hetzen am Südkap vorbei, haben nur das berühmte Westkap – Land’s End – im Visier. Und verpassen so die traumschönen Sandbuchten der Lizard-Halbinsel und südlich von Penzance. Nur noch zwei Stunden bis zum Ende der Insel. Gutes Timing tut not, denn wie ein Trichter kanalisiert die Penwith-Halbinsel die Besucher-Karawane Richtung Land’s End. Also baue ich mein Zelt in der hübschen Bucht von St. Ives auf, hocke abends mit einem Pint Stout vor dem Pub auf der Kaimauer und rolle anderntags früh um sieben entlang der einsamen Nordküste westwärts.
Wieder mal Ende-der-Welt-Atmo, alte, graue und wettergebeutelte Gehöfte auf baumlosen, trockenen Wiesen, dem ewigen Westwind schutzlos ausgeliefert, rostige Autowracks hinter schiefen Hecken und zahlreiche Ruinen von Zinn-Minen, die im 19. und 20. Jahrhundert 50.000 Menschen beschäftigten. Längst gibt es hier keine nennenswerte Industrie mehr. Und dann Land’s End. Der Vergnügungspark öffnet erst um 10 Uhr, die riesigen Parkplätze sind bis auf zwei deutsche Womos leer. Noch. Nur vom Luxushotel in exquisiter Lage sind ein paar Frühaufsteher unterwegs, genießen die ruhige, trubelfreie Stimmung und den endlosen Blick über den ruhigen Atlantik. Dort hinten ist Amerika. Ich manövriere die Ténéré einfach zwischen den Häusern hindurch bis direkt vor das berühmte Land’s-End-Schild, ein Motiv, das jeder auf seinen Chip brennen will. Nur noch 5.066 Kilometer bis New York. Schade, dass die XT nicht schwimmen kann.