Unterwegs: Norwegen im Mittsommer
Mit dem Motorrad Norwegen entdecken

Sonnenhungrige Motorradfahrer sollten ihr Glück nicht im Süden Europas suchen. Der Kurs führt hoch in den Norden. Jensseits des Polarkreises brennt wochenlang das "ewige Licht" des Mittsommers. Auf zu einem traumhaften Törn durch eine gigantische Fjord- und Felskulisse.

Mit dem Motorrad Norwegen entdecken
Foto: Lohse

Zugegeben, der Reiseplan hatte zunächst keine Begeisterung ausgelöst: auf dicken USA-Cruisern durch Norwegens kargen Norden. Bereits das klang gewaltig nach einer abgedroschenen Tour à la Route 66. Dann als Ausgangspunkt das weltbekannte „Icehotel“ im schwedischen Jukkasjärvi. Kennen Sie französische Skigebiete abseits der Saison? Ähnlich prickelnd stellt man sich ein komplett aufgetautes Hotel im skandinavischen Sommer vor. Die Landung in Kiruna hebt nicht gerade die Stimmung. Nordschweden ist an diesem Tag tief wolkenverhangen. Der SAS-Pilot sieht zu, dass die Handvoll Passagiere - eine bärtige Melange aus Jägern und Anglern - schnell den Airbus verlässt. Am Gate warten schon die neuen Fluggäste, mehr als ein Großraumflieger täglich verirrt sich selten auf dieses düstere Mini-Flugfeld.

Kiruna selbst wirkt so anziehend wie ein Ikea-Sträflingscamp: leer gefegte Straßen, ein schmuckloses Zentrum mit grauen Plattenbauten. Tatsächlich aber pulsiert das Leben unter Tage. Zigtausend Kilometer Stollen durchziehen das Erdreich, um das auf dem Weltmarkt teuer gehandelte Eisenerz aus dem Boden zu graben. Riesige Abraumhalden rahmen die Kleinstadt an der Europastraße Nummer 10 ein. Nichts wie weg. Unsere Fluchtfahrzeuge warten nur wenige Kilometer weiter auf einer öden, fußballfeldgroßen Kiesfläche: im frostigen Winter das Fundament für das atemberaubende, aber stets vergängliche „Icehotel“, das jedes Jahr aufs Neue aus mächtigen Eisquadern errichtet wird.

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Jetzt rauben aber die mächtigen 106 Cubic Inches Hubraum der Victory Vision und Cross Roads den Atem. Die auch in dieser menschenleeren Einöde aufsehenerregenden V2 schwenken auf der breit geschwungenen E10 nordwärts. Und mit einem Schlag ist der trübe Auftakt wie weggeblasen, der Trip bekommt opernhafte Züge. Die Landschaft wird zur gigantischen Bühne, getaucht in ein Licht, das hier, 200 Kilometer nördlich des Polarkreises, eine kleine Ewigkeit leuchtet.

Lohse
Auf dem Weg nach Å fliegt der gigantische US-Twin durch eine bunte Modelleisenbahn-Landschaft.

Doch noch versteckt sich die Sonne hinter zähen Wolkenbändern. Dafür tauchen aus der flachen, grünen Unendlichkeit plötzlich schroffe Bergzüge auf, gewinnen an Größe und Gewalt. Lapporten, das Tor zu Lappland, wird durchschritten. Der Sage nach habe sich ein Troll auf den Höhenzug gesetzt und so diese markante Talsohle zwischen den zwei Berggipfeln Tjuonatjåkka und Nissuntjårro geschaffen. Überhaupt werden uns die mystischen Riesengestalten fortan ständig begleiten. Hinter dem silber glänzenden Torneträsk-See schraubt sich die Europastraße in die Höhe, ohne Stopp geht es nach Norwegen hinüber. Die Straße wird schmaler, die Luft salziger, der Wind kräftiger. Die Nähe zur See zergeht uns förmlich auf der Zunge.

Narvik lassen wir zunächst im Süden liegen, bei Fossbakken biegen wir von den viel befahrenen Touristenrouten mit E-Kennzeichen ab und schwingen auf kurvenreichen Landstraßen mit dreistelliger Ziffernfolge Richtung Nordmeer.

Lohse
Ausgedörrt: Tørrfisk ist eine Spezialität. Der im salzigen Wind getrocknete Fisch wird in alle Welt exportiert.

Die dicken Pötte nehmen uns die Abwechslung nicht übel. Mit wohligem Blubbern segeln sie mit uns von einem Fjord zum nächsten. Es ist kurz nach 22 Uhr, als der Wind endlich die Wolken komplett zerfetzt hat. Doch auch wenn die Sonne erst spät zum Vorschein kommt: Ihren Untergang müssen wir in dieser Jahreszeit nicht fürchten!

Das goldgelbe Licht fällt auf eine Straße, die sich wie ein endloser Teppichläufer in die Landschaft schmiegt. In dieser stets neuen, abwechslungsreichen Kurvenwelt kommt der Highway-Pilot genauso wie der kurvensüchtige Alpen-Fan auf seine Kosten. Weit verstreut kleben rote, gelbe oder blaue Häuschen an der Küstenlinie, stolz wehen norwegische Flaggen im Wind. Hinter dem saftigen Grün der Wiesen, die sanft zum Meer auslaufen, erheben sich schwarz glänzende Felsen, aus denen das Wasser schwitzt. Wasserfälle stürzen ohne Halt in die Tiefe, die Nordhänge sind von zahlreichen Schneefeldern bedeckt. Einsamkeit umgibt uns, bis wir Tromsø erreichen. In der Hafenstadt pulsiert an 365 Tagen im Jahr das Leben: Seeleute und Studenten prägen die mit 70000 Einwohnern größte Stadt im Norden Norwegens. Der Hunger treibt uns in Yonas Pizzeria am Hurtigruten-Anleger. Hastig stopfen wir die wenig landes-typische Nahrung in uns hinein, während die US-Schlegel einen kleinen Menschenauflauf verursachen. Doch schon bald hat uns die Einsamkeit wieder, als wir über ein straßenbaulich einmaliges Tunnelsystem, das die komplette Stadt unterkellert, Tromsø verlassen. Knapp 360 Kilometer oberhalb des Polarkreises schwenken wir Kurs Süd mit Ziel Vesterålen.

Auf der Inselgruppe nördlich der bekannteren Lofoten bricht die pittoreske Enge der Fjorde auf. Je näher wir unserem Etappenziel Andenes kommen, desto gewaltiger wird die Landschaft: Riesige, zig Kilometer breite, grüne Täler, die von gigantischen, quaderförmigen Felsbrocken umfasst werden, formen den nördlichen Zipfel Vesterålens. Haben etwa auch hier die Trolle gewirkt? Von der offenen See bläst der Sturm über den Riksväg 82, die Victory-Besatzungen haben alle Hände voll zu tun, um die Dampfer auf Kurs zu halten. Eine halbe Stunde später gilt es, die üppige Pizzakost bei sich zu halten: An Bord eines Walbeobachters geht es raus aufs Nordmeer. Das Warten in der schweren Dünung schlägt selbst seefesten Hobbykapitänen mächtig auf den Magen. Doch die Übelkeit ist mit einem Schlag vergessen, als sich aus dem Meer zum Greifen nah der gewaltige Buckel eines Pottwals erhebt. Andächtige Stille herrscht, als die Fluke des Tieres im hier 1000 Meter tiefen Wasser verschwindet.

Lohse
Ausgereizt: Hinter Andenes geht es raus aufs Nordmeer. Hier ist die Motorradwelt wirklich zu Ende.

Mit wackligen Knien satteln wir auf, lassen uns weiter auf die Lofoten treiben. Auch hier erschlägt den Reisenden die Bergvielfalt: mal schroff und zertrümmert, dann wieder glatt gestrichen und wie von überdimensionaler Troll-Hand spiegelglatt poliert, die nebligen Hochmoore von einem Teppich aus Moos bespannt. Die Windschilder fangen das Panorama in Cinemascope ein. Grün und Blau lodern in allen Schattierungen, wenn das Licht 24 Stunden lang über Land und Meer wandert. Ein Overkill an Endorphinen setzt ein, als sich die Seelandschaft auf dem Weg nach Å in flüssiges Gold verwandelt. Und uns ist klar: Wir werden weiterfahren, die ganze Nacht.

Infos

Werel
Reisedauer: 5 Tage. Gefahrene Strecke: 1900 km.

Atemberaubende Fjordlandschaften im „ewigen Licht“ der Polarsonne genießen: Abseits der großen Touristenrouten zum Nordkap lockt auf Lofoten und Vesterålen ein Kurvenparadies.

Anreise:
Ausgangspunkt der Tour ist die schwedische Stadt Kiruna. Die 17000-Einwohner-Stadt liegt rund 200 Kilometer nördlich des Polarkreises und ist durch den Eisenerzabbau geprägt. Wer mit dem eigenen Motorrad anreisen will, sollte die Fährverbindung Kiel-Oslo (Color Line, ca. 19 Stunden) oder Kiel-Göteborg (Stena Line, ca. 14 Stunden) wählen. Buchungen sind über die Webseiten der Reedereien möglich (www.colorline.de oder www.stenaline.de). Von Oslo aus sind es auf dem Landweg noch einmal knapp 1400 Kilometer, von Göteborg aus 1600 Kilometer. Wer ein Motorrad direkt vor Ort anmieten möchte (siehe Punkt „Organisiert reisen“), fliegt ab Deutschland nach Stockholm und von dort aus mit SAS weiter nach Kiruna. Flugdaten und Buchungen unter www.flysas.com

Geld:
Schweden ist EU-Mitglied, gehört aber nicht zur Eurozone. 100 schwedische Kronen kosten ca. 11,30 Euro. Norwegen ist nicht EU-Mitglied und gehört damit auch nicht zur Eurozone. 100 norwegische Kronen kosten ca. 13,20 Euro. In beiden Ländern ist das Zahlen in Restaurants oder Tankstellen mit gängigen Kreditkarten kein Problem.

Sehenswürdigkeiten:
Ein absolutes Muss ist die Teilnahme an einer Walsafari in Andenes. An diesem Küstenabschnitt Norwegens ist das Nordmeer bis zu 1000 Meter tief - ein beliebtes Revier für Pottwale, die hier auf Krakenjagd gehen und zum Luftholen auftauchen. Mit den Schiffen der Hvalsafari AS kann man mit den mächtigen Tieren auf Tuchfühlung gehen. Infos unter www.whalesafari.no, Preise ab ca. 150 Euro. Mit reichlich Speed geht es weiter im Süden mit 700 PS starken Schlauchbooten durch die Fjorde und Schären der Lofoten. Ausgangspunkt ist der Hafen von Svolvær, der Zwei-Stunden-Törn führt unter anderem in den sehenswerten Troll-Fjord, der auch von den großen Hurtigruten-Schiffen befahren wird. Infos unter www.lofoten-explorer.no, Preise ab ca. 100 Euro.

Lohse
Auch im Hochsommer tiefgefroren: das Icehotel in Jukkasjärvi mit seiner eiskalten Bar.

Organisiert Reisen:
Die oben beschriebene Tour wird in verschiedenen Varianten direkt über das Icehotel in Jukkasjärvi angeboten. Gefahren wird mit Tourguide auf verschiedenen Victory-Motorrädern (Vision, Cross Roads oder Cross Country). Die Touren dauern fünf bis sechs Tage und führen zum Teil bis zum Nordkap oder nach Finnland. Der Preis der oben beschriebenen Tour über die Inselgruppen Lofoten und Vesterålen inklusive eintägiger Fährpassage auf einem Hurtigruten-Schiff beträgt mit Tourguide, Unterkunft und Frühstück 25995 schwedische Kronen (umgerechnet ca. 2940 Euro). Wer mit dem Mietmotorrad vom Icehotel aus auf eigene Entdeckungs-tour durch Lappland gehen will, zahlt für vier Fahrtage 13950 Kronen (ca. 1580 Euro) inklusive Übernachtung und Halbpension im Icehotel. Ein Navi mit bereits programmierten Routenvorschlägen wird vom Icehotel gestellt. In der Sommersaison erfolgt die Unterbringung in komfortablen Blockhäusern der Hotelanlage. Infos und Buchungen direkt über das Icehotel, Tel. 00 46/9 80/ 6 68 00, www.icehotel.com. Anfragen können auch per E-Mail beim MOTORRAD action team gestellt werden: info@actionteam.de

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MOTORRAD 20 / 2023

Erscheinungsdatum 15.09.2023