Eigentlich sollte die 1994 präsentierte Honda RC 45 die Vorherrschaft der Ducati-Twins in der Superbike-WM brechen. Doch leider kam der japanische V4-Renner mit Geburtsfehlern zur Welt. »Die Vorderpartie war schon immer problematisch«, erläuterte Aaron Slight, der einzige Pilot, der seit Beginn des Projekts offizieller Werksfahrer ist. Der Neuseeländer, Vizeweltmeister 1996, ist wahrscheinlich der intimste Kenner der RC 45 und darüber hinaus derjenige, der am besten weiß, wie man das Optimum aus der heiklen Maschine herausholen kann. »Doch wie auch immer, es hat sich vieles gebessert. Dieses Jahr hatte ich endlich das Gefühl, das Motorrad auch wirklich ausschöpfen zu können, wenn ich in den Sattel stieg. Auch wenn das natürlich nicht einfach ist«, versicherte Slight.
Offensichtlich versuchte der Neuseeländer, nicht zusätzlich Öl ins Feuer zu gießen. Trotzdem bleibt es unbestreitbares Allgemeinwissen, daß die RC 45 wellige Holperstrecken etwa so sehr mag wie Katzen das Wasser. Nur dort, wo die Piloten die beachtlichen 160 PS des V4 problemlos ausspielen konnten, etwa bei Carl Fogartys Sieg im zweiten Lauf von Hockenheim 1996, war die Honda den Ducati wirklich ebenbürtig.
Das Problem hat seinen Ursprung in der unverrückbaren Position des Motors im Fahrwerk, die wiederum von der V-Konfiguration abhängt. Den Erklärungen Slights zufolge lastet zuwenig Gewicht auf dem Vorderrad. Wenn die Vorderpartie in Schräglage auf eine Bodenwelle gerät, wird das Vorderrad entlastet und verliert die Haftung. Logischerweise haben die Techniker des Castrol- Honda-Teams alle denkbaren Set-Up-Kombinationen durchprobiert und mittlerweile eine halbwegs vernünftige Grundabstimmung gefunden. »Nach mehr als zwei Jahren praktischer Erfahrung auf den Rennstrecken denke ich, daß wir mittlerweile ein Motorrad haben, mit dem wir gegen die Besten der Welt antreten können«, so Slight. Was wir jetzt noch zum Siegen brauchen, ist höherer Kurvenspeed. Das ist die Hausaufgabe der Ingenieure während des Winters.«
Diese lange Vorgeschichte ist notwendig, um die enormen Unterschiede zwischen den letztjährigen Motorrädern von Aaron Slight und Carl Fogarty verstehen zu können, die MOTORRAD nach dem Superbike-WM-Finale in Phillip Island probefahren konnte. Äußerlich sind sich die Maschinen so ähnlich wie zwei Wassertropfen, doch in der Praxis trennen sie Welten.
Schon als die Techniker des englischen Teams vor Testbeginn auf die völlig unterschiedlich abgestimmten Bremsen des Briten und des Neuseeländers hinwiesen, war klar, daß es sich um grundverschiedene Motorräder handelte. Während Carl aggressiv und heftig zupackende Bremsen mag, bevorzugt Slight welche mit weniger Biß, dafür aber auch weniger Anfälligkeit gegen Fading bei hartem Rennbetrieb. Der Brite bremst kurz und hart, bringt das Motorrad schnellstmöglich auf neuen Kurs und gibt früh wieder Gas. Sein Teamkollege ist weniger aggressiv beim Bremsen, greift eher noch später zu und verlängert den Bremsweg fast bis zum Scheitelpunkt der Kurve.
Diese Unterschiede im Fahrstil haben einen Einfluß auf die Sitzposition. Die Suche nach mehr Handlichkeit zwang den mittlerweile zu Ducati zurückgekehrten Fogarty dazu, die Heckpartie seines Motorrads höherzustellen. Damit erreichte Fogarty schnellere Richtungswechsel, mußte gleichzeitig jedoch Einbußen bei der Traktion hinnehmen.
Gegenüber Foggys radikaler Sitzposition mit harten, straff gedämpften Federelementen war das Fahrgefühl auf dem Motorrad von Aaron Slight weitaus gewöhnlicher. Man kann den Werksrenner des Vize-Weltmeisters durchaus als exzellentes Straßen-Sportmotorrad beschreiben - von einer wilden Bestie keine Spur. Im Prinzip ist die RC 45 eine Maschine, die sich jeder von uns in der Garage wünscht: Der Motor zieht überzeugend vorwärts, jedoch ohne rohe Gewalt; die Stahlbremsen sind außergewöhnlich wirkungsvoll, ohne Normalbürger so zu überfordern wie es die Karbonanlagen tun; die Sitzposition entspricht den besten Straßen-Superbikes, und das gedämpfte Brüllen aus dem Auspuffrohr ist womöglich harmloser als der Lärm, den viele andere für den Straßenverkehr zugelassene Sportmaschinen erzeugen.
Schnellfahren ist mit der RC 45 vergleichsweise einfach und unproblematisch. Alles funktioniert weich, progressiv und vorhersehbar, so daß man von der ersten Runde an ohne falsche Scheu das Gas aufdrehen kann.
»Ja, so kann man es ausdrücken: Die RC 45 fährt sich fast schon zu weich«, bestätigte Slight. »Als Honda ankündigte, wir würden in Sentul einen neuen, stärkeren Motor erhalten, erwartete ich etwas Aggressives. Doch im Gegenteil: Abgesehen von seinen sechs Mehr-PS war der Motor sogar noch homogener in der Leistungsentfaltung. Ich gebe zu, daß ich zunächst enttäuscht war, doch die Stoppuhr bewies sofort, daß wir schneller unterwegs waren als mit dem alten Modell.«
Jetzt fehlt nur noch der WM-Titel, der sich für Honda mittlerweile bereits zu einer Frage der Ehre entwickelt hat. Die Nachteile der RC 45 versuchte der Konzern immer wieder mit der Verpflichtung des jeweiligen Nummer-eins-Piloten auszugleichen. Erst wurde Doug Polen engagiert, später Carl Fogarty, und jetzt kommt der exzentrische Amerikaner John Kocinski. Doch die Kastanien hat bislang immer Aaron Slight aus dem Feuer geholt. Keine Frage, daß der Kiwi diese Tradition fortsetzen will.
Technische Daten Honda VFR 750 R (RC 45)
Motor: Viertakt-Vierzylinder-V 4, wassergekühlt, DOHC, vier Ventile pro Zylinder, elektronisch gesteuerte Benzineinspritzung PGM FI, sechs GängeHubraum: 749,2 ccmBohrung x Hub: 72 mm x 46 mmLeistung: 160 PS bei 14000/minFahrwerk: Aluminium-Deltaboxrahmen, Showa-Upside down-Gabel vorn mit 47 mm Standrohrdurchmesser, Einarmschwinge mit Showa-Zentralfederbein und progressiver HebelumlenkungBremsen vorn: Zwei Brembo-Stahlscheiben mit 320 mm Durchmesser und Vierkolben-BremssättelnBremse hinten: Eine Brembo-Stahlscheibe mit 190 mm Durchmesser und Zweikolben-BremssattelFelgen: Marchesini, 3,5 Zoll Breite vorn, 6,5 Zoll Breite hintenReifen: Michelin, 120/60 17 vorn, 180/67 17 hintenRadstand: 1415 mmTankinhalt: 22 lTrockengewicht: 162 kg