Fahrbericht MV Agusta F3 675 (2012)
675er-Dreizylinder-Supersportler von MV Agusta

Ginge es nur nach Schönheit, könnten alle anderen einpacken. Geht es aber in der Regel nicht. Dennoch macht die neue MV Agusta F3 jede Rennstrecke zum Catwalk. Fährt sie auch so gut, wie sie aussieht?

675er-Dreizylinder-Supersportler von MV Agusta
Foto: Foto: MV Agusta

Frieren Motorräder? Wenn ja, dann kann man es zumindest nicht sehen. Sonst wäre die rot-silberne Traditionslackierung der MV Agusta F3 in der Boxengasse von Le Castellet wohl von einer Gänsehaut überzogen. Halb zehn Uhr morgens, minus 3,6 Grad. Womit haben wir das verdient?

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Fahrbericht: MV Agusta F3 675
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Die Frage steht im Raum, und zwar bei den Journalisten wie den MV-Leuten gleichermaßen. Schließlich haben alle diesem Termin entgegengefiebert. Die einen, weil sie eines der aufregendsten Motorräder der letzten Jahre nach langer, harter Arbeit endlich präsentieren wollen. Die anderen, weil sie ganz heiß darauf sind, zu erfahren, ob die neue F3 nicht nur gut aussieht, sondern auch so fährt. Damit, dass sich Anfang Februar eine sibirische Kaltfront über Südfrankreich legt, hat keiner gerechnet.

Was also tun? Das, was alle tun, die der F3 zum ersten Mal begegnen. Sie bestaunen, das Herz erwärmen lassen beim Anblick der perfekten Proportionen. Ganz im Ernst: Leibhaftig sieht die F3 noch besser aus als auf jedem Foto. Ist zierlicher, noch kompakter als erwartet. Und zitiert dabei gekonnt die Formensprache der großen Schwester F4 mit einer eigenen Note. Weil sie genau an den Stellen spielerisch leicht wirkt, an denen die F4 eher mit behäbi-gem Ernst daherkommt. Das gilt besonders für den Tank und die Heckpartie. „So ist das, wenn man auf einem weißen Blatt Papier beginnen darf“, freut sich MV-Designer Adrian Morton, aus dessen Feder die neue F3 stammt, über das Lob der Bewunderer. Endlich lacht trotz der Kälte mal einer!

Morton hat noch einen Grund, gute Laune zu haben. Bei allen Anstrengungen der neuen MV-Leitung unter dem jungen Giovanni Castiglioni und Ducati-Legende Massimo Bordi, die F3 zu einem konkurrenzfähigen Preis anbieten zu können (sie liegt mit 11990 Euro nur ganz knapp über dem Niveau einer Suzuki GSX-R 600!), hatte er bei den wichtigs-ten Baugruppen freie Hand. Durfte den -Rahmen ebenso wie bei der F4 aus dem bekannten, aufwendigen Materialmix Stahlrohr/Aluguss zeichnen, spielte bei der verschnörkelten Einarmschwinge wie gewohnt mit Form und Funktion. Ja, sogar die filigranen Aluräder scheinen direkt aus der Rennabteilung zu stammen, der ultrakompakte, ultrakurzhubige Dreizylinder mit rückwärts -drehender Kurbelwelle, Kassettengetriebe, riesigen 50er-Drosselklappen-Durchmesser und mächtigen 79 Millimetern Bohrung erst recht. Und die drei keck aus dem Verkleidungsbug ragenden Auspuffrohre haben schon jetzt das Zeug zum Klassiker.

Die Temperatur steigt, die Spannung auch. Nachdem das Thermometer endlich die Null-Grad-Marke passiert hat, werden die Dreizylinder mit rhythmischen Gasstößen auf Betriebstemperatur gebracht. Ein aggressives Bellen legt sich über die kalte Ruhe des Hochplateaus von Le Castellet. Im Ohr der Fahrer weitaus präsenter ist das gierige Ansaugschnorcheln, weil die Airbox auch bei dieser MV wieder in erster Linie als Resonanzkörper zu dienen scheint. Ergonomisch hingegen sind in Varese neue, bessere Zeiten angebrochen. Der kurze, flache Tank erlaubt endlich eine versammelte, vorderradorientierte Sitzposition mit ausreichend Bewegungsfreiheit, wobei die Betonung natürlich nach wie vor auf „Rennsport“ liegt. Entsprechend tief liegen die Lenkerstummel, entsprechend hoch sind die Fußrasten positioniert. Und dennoch: Die F3 heißt kleine wie große Fahrer so aufrichtig willkommen wie noch keine MV zuvor.

Die ersten Meter! Wer noch Zweifel hatte, sich von der Top-Model-Figur irritieren ließ, ist endgültig überzeugt. Diese 675er ist schön, aber sie ist vor allem eins: ein waschechter Racer, der gleich zwei Primärtugenden in sich vereint, die in dieser Kombination selten sind. Während sich die große Schwester F4 ihre sprichwörtliche Stabilität mit einer ordentlichen Portion Sturheit bei Richtungswechseln erkaufte, lenkt die F3 so spielerisch und trotzdem zielgenau ein, dass es selbst unter diesen frostigen Bedingungen eine wahre Freude ist. Ob das an der rückwärts drehenden Kurbelwelle liegt, am mit 1380 Millimetern recht kurzen Radstand oder am absolut konkurrenzfähigen Gewicht von 173 Kilogramm trocken? 

Wahrscheinlich ist es die Kombination dieser Faktoren. Die superbe Handlichkeit jedenfalls ist eine ausgeprägte Stärke der F3, die beachtliche Motorleistung eine zweite. Die Vehemenz, mit der das kleine Kraftwerk jenseits der 10000/min gen Drehzahllimit dreht und auch in den hohen Gängen noch vorwärtsmarschiert, beeindruckt immer wieder. Erst bei 14600/min kommt der Schaltblitz, schon 300/min später der Begrenzer. Angesichts der Tatsache, dass die versprochenen 128 PS (Triumph Daytona 124 PS) erst bei 14 400/min anliegen sollen, lohnt sich das Ausdrehen also allemal. Mal ganz abgesehen von dem Spaß, den es macht, die Drosselklappen bis zum bitteren Ende auf Durchzug zu stellen. So manches 200-PS-Monster verbreitet in dieser Hinsicht angesichts der überborden-den Leistung ja eher Angst und Schrecken.

MV Agusta
Die zierliche F3 bietet zwar keinen Platz im Überfluss, aber doch ein ergonomisch ausgefeiltes Plätzchen.

Die F3 hingegen schafft Vertrauen. Etwa durch die richtig toll funktionierende Bremsanlage (320-Millimeter-Scheiben, Brembo-Vierkolbenzangen, Nissin-Hauptbremszylinder), die beweist, dass Bremszangen nicht einteilig sein müssen, um fein dosierbar zuzubeißen. Oder durch die 43er-Marzocchi-Gabel, bei der Druck- und Zugstufendämpfung in getrennten Gabelholmen untergebracht sind und die trotz der eisigen Temperaturen sen-sibel anspricht. Genau wie das ebenfalls tadellos funktionierende Federbein. Beide zeigen, dass nicht auf allem Öhlins stehen muss, was ordentlich federt und dämpft. Und schließlich ist da die neue, achtstufige Traktionskontrolle, die zwar immer noch nicht die Daten von Vorder- und Hinterrad abgleicht, aber mit nun 47 statt den bisherigen vier Impulsen klarstellt, dass Einrichtungen dieser Art zumindest in einem gewissen Rahmen nun auch bei MV funktionieren können. So unterbindet sie zwar keinen Wheelie – was bei einer 675er durchaus verschmerzbar ist, sorgt aber zum Beispiel in Stufe fünf für eine recht frühe Eindämmung des Vorwärtsdrangs, während sie in Stufe drei spürbar später regelt.

Apropos Elektronik: Derart vollgestopft mit Bits und Bytes war noch kein Motorrad dieser Klasse. Neben der Traktionskontrolle sorgen vier unterschiedliche Mappings für Unterhaltung, die neben den zwei Einspritzdüsen pro Brennraum auch den Öffnungswinkel der ausschließlich per Stellmotor angesteuerten Drosselklappen (Ride by Wire) kontrollieren. Im Rain-Modus öffnen sie verhalten (und die Traktionskontrolle schaltet automatisch auf Stufe acht), im Normal-Modus entsprechend offensiver, während im Sport-Modus so weit auf Druchzug gestellt wird, wie es der Dreizylinder gerade noch verträgt. Im Custom-Modus lassen sich gar eine unterschiedliche Leistungsentfaltung und das Ansprechverhalten den individuellen Bedürfnissen anpassen. Und noch besser: Das ist jetzt alles vom linken Lenkerende aus einfach einstellbar.

Was sich offensichtlich nicht ganz so leicht nachjustieren lässt, ist die relativ harte Gasannahme des ultrakompakten Dreizylinders und ein bisweilen leicht verzögertes Ansprechen unter Rennstreckenbedingungen. Ebenso wenig, wie sich per Knopfdruck aus dem kurzhubigen Hochleistungsmotor ein Durchzugswunder generieren lässt. Unter 7000/min geht die F3 zwar ruckfrei, aber verhalten vorwärts, bis 10000/min erwacht das Temperament, danach brennt die Luft.

Ein weiteres kleines Malheur der F3 hingegen lässt sich relativ leicht aus der Welt schaffen. Der bisweilen schlechten Schaltbarkeit des kompakten Kassettengetriebes, bei dem die Schaltgabeln direkt auf der Schaltwalze gelagert sind, hilft der empfehlenswerte, gut funktionierende Schaltautomat (um 300 Euro) nachhaltig auf die Sprünge. Dass mit Schaltautomat die verzögerte Gasannahme ebenfalls kein Thema mehr ist, macht die Sache noch besser.

Unter dem Strich bedeutet die F3 für die Marke MV Agusta eine neue Zeitrechnung. Ein fantastisch aussehendes, radikales, auf Anhieb gut funktionierendes Supersport-Motorrad zum bezahlbaren Preis – damit sollte es auf direktem Weg hinausgehen aus der exklusiven Nische, mitten hinein in eine verheißungsvolle Motorrad-Zukunft. Ein Anfang ist gemacht!

Technische Daten

MV Agusta
Ein echter Hingucker: die dreistöckige Auspuffanlage der MV Agusta F3 675. Das Schalldämpfer-Ensemble stellt eine aufregende Lösung dar, die gewiss Nachahmer finden wird.

Motor
Wassergekühlter Dreizylinder-Viertakt-Reihenmotor, eine Ausgleichswelle, zwei obenliegende, kettengetriebene Nockenwellen, vier Ventile pro Zylinder, Tassenstößel, Nasssumpfschmierung, Einspritzung, Ø 50 mm, geregelter Katalysator, Lichtmaschine 350 W, Batterie 12 V/9 Ah, hydraulisch betätigte Mehrscheiben-Ölbadkupplung (Anti-Hopping), Sechsganggetriebe, O-Ring-Kette, Sekundärübersetzung 43:16.

Bohrung x Hub 79,0 x 45,9 mm

Hubraum 675 cm³

Nennleistung 94,2 kW (128 PS) bei 14400/min

Max. Drehmoment 71 Nm bei 10600/min

Fahrwerk 
Gitterrohrrahmen aus Stahl, Motor mittragend, Upside-down-Gabel, Ø 43 mm, verstellbare Federbasis, Zug- und Druckstufendämpfung, Einarmschwinge aus Aluminium, Zentralfederbein mit Hebelsystem, verstellbare Federbasis, Zug- und Druckstufendämpfung, Doppelscheibenbremse vorn, Ø 320 mm, Vierkolben-Festsättel, Scheibenbremse hinten, Ø 220 mm, Vierkolben-Festsattel, Traktionskontrolle.

Alu-Gussräder 3.50 x 17; 5.50 x 17

Reifen 120/70 ZR 17; 180/55 ZR 17

Maße+Gewichte
Radstand 1380 mm, Lenkkopfwinkel 66,0 Grad, Nachlauf 99 mm, Federweg v/h 125/123 mm, Sitzhöhe 805 mm, Trockengewicht 173 kg, Tankinhalt 16,0 Liter.

Garantie: zwei Jahre

Farben: Rot/Silber, Weiß, Schwarz

Preis: 11990 Euro

Nebenkosten: 250 Euro 

Die aktuelle Ausgabe
MOTORRAD 12 / 2023

Erscheinungsdatum 26.05.2023