Kawasaki Ninja H2 im Top-Test

Kawasaki Ninja H2 im Top-Test 218 PS auf dem Prüfstand

Die Kawasaki Ninja H2 verfügt über einen 1000er-Vierzylinder mit Kompressor, und dieser Orkan im Inneren entfacht außen Orkane an Beschleunigung und Geschwindigkeit. Mit 218 PS ist die H2 die stärkste je bei MOTORRAD gemessene Serienmaschine.

218 PS auf dem Prüfstand Bilski
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"Passt bitte auf den Hinterreifen auf, ihr wisst ja, was noch kommt." Schon vor dem Start zur Fotofahrt mit der Kompressor-Kawasaki Ninja H2 sind alle besorgt um den weiteren Fortgang der Testprozedur. Die Sorge war nicht un­begründet, lebhafter morgendlicher Berufsverkehr auf der kurzen Autobahnetappe zum Fotorevier erlaubte zwar nur wenige Vorstöße ins Reich jenseits der 200 km/h, dennoch hatten die Antriebskräfte über den gesamten Umfang des Hinterreifens schon dünne Gummiwürste aus der Lauf­fläche gerollt.

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Und tiefe Eindrücke beim Fahrer hinterlassen. Was für ein Motor! Schon im unteren Drehzahlbereich mächtig präsent, wirkt er hier wie ein durchzugsstarker 1500er. Oben hinaus, wenn der Ladedruck die kleine „Boost“-Anzeige im Cockpit mit schwarzen Balken füllt, zeigt er sich fast so drehfreudig wie ein aktueller 1000er-Supersportler – nur viel mächtiger. Nach dem ersten Eindruck sogar noch weitaus stärker, als die Ergebnis­se der späteren Prüfstandsläufe ausweisen („Achtet auf den Hinterreifen, nicht dass er sich auflöst“). Wahrscheinlich rührt dieser Eindruck vom unbedingten, fast perfekt linearen Aufwärtsstreben der Leistungs- und Drehmomentkurven über fast den gesamten nutzbaren Drehzahlbereich der Kawasaki Ninja H2. Da gibt es keine Schwächephase, kein Verhalten. Was bei knapp über 7000/min danach aussieht, findet immerhin auf der Höhe von 118 Nm statt und ist in der Fahrpraxis überhaupt nicht zu spüren. Den Gipfel bildet ein 1000 Umdrehungen breites Plateau, dessen ­Höhe zwischen 215 und 218 PS liegt. In nicht gewollter, aber kaum vermeidbarer Blasphemie kommen einem beim Fahren Gebets­fragmente wie „die Kraft und die Herrlichkeit“ in den Sinn.

Ist die Kawasaki Ninja H2 überhaupt alltagstauglich?

Dass diese Kraft nicht mit allerletzter Konsequenz auf die Beschleunigungswerte durchschlägt, liegt paradoxerweise an der relativ kurzen Übersetzung der Kawasaki Ninja H2. Das gilt für die Gesamtübersetzung und speziell für die ersten drei Gänge. Während der erste Gang aktueller 1000er-Supersportler ausgedreht bis über 140 km/h reicht, dreht der H2-Motor bereits bei 125 km/h in den Begrenzer. Der zweite Gang reicht bis 157, der dritte bis 195, deshalb wird bis zum Erreichen der 200-km/h-Schwelle ein Schaltvorgang mehr nötig als in dieser Leistungsklasse üblich. Trotzdem: Von null auf 200 in sieben Sekunden ist eine entschiedene Ansage, und die positive Kehrseite der kurzen Übersetzung zeigt sich in den wahrhaft reiße­rischen Durchzugswerten.

Abgesehen von der hohen Handkraft der Kupplungsbetätigung, kommt sie ihren Fahrern im profanen Berufsverkehr in der Stadt und über Land weit entgegen. Die direkte mechanische Kop­pelung von Kurbelwelle und Lader sorgt für die bereits erwähnte Kraft bei niedrigen Drehzahlen, und der lineare Aufbau der Leis­tung vermeidet plötzliches Anreißen des Motors. Zudem läuft der Vierzylinder mechanisch sehr ruhig und kultiviert; vermutlich hat Kawasaki die Motorteile für die kleine Serie mit besonderer Sorgfalt zusammengestellt. Die beiden Ausgleichswellen vor und hinter dem Zylinderblock tragen den Hauptanteil zur ­hohen Laufkultur bei.

Yamaha YZF-R1 als Referenz im Top-Test

Sittsam bewegt, hält sich die Kawasaki Ninja H2 sogar im Benzinverbrauch zurück. Der schon deutlich höhere Verbrauch bei konstant 130 km/h deutet jedoch an, was passiert, wenn der Kompressor häufiger auf Touren gebracht wird. Wer der Faszination erliegt und leistungsfreudig fährt, kann leicht auch weit über zehn Liter auf 100 Kilometer ab­fackeln. Diese Angabe steht hier als Anachronismus, weil sie erst am Ende des Tests ermittelt wurde. Denn nach Foto-, Mess- und Verbrauchsmessfahrten sowie den Prüfstandsläufen war der Hinterreifen schon von den Strapazen gezeichnet. Selbst bei ziviler Fahrweise frisst ihn die Kawasaki Ninja H2 geradezu auf. Die Ermahnungen nahmen an Dringlichkeit zu. „Ihr solltet nicht mit zwei Kanten im Hinterreifen auf die Testrunde und in den Top-Test-Parcours gehen.“ Ja doch.

Als Referenz bei der Testrunde diente die Yamaha YZF-R1. Sie war sehr hilfreich, weil sie rasch klarstellte, was die Kawasaki Ninja H2 nicht ist: ein Supersportler. Das war zu vermuten, da sie über einen langen Radstand und einen vergleichsweise langen Nachlauf verfügt, außerdem zwischen 30 und 40 Kilogramm mehr wiegt als die aktuellen Sportmotorräder. Hinzu kommt, dass 129 der insgesamt 239 Kilogramm auf dem Vorderrad lasten. Diese ungewöhnlich hohe Vorderradlast trägt zwar wie die schräg in den Fahrtwind gestellten, horizontalen Verkleidungsflächen zur lobenswerten Hochgeschwindigkeitsstabilität der H2 bei, beeinträchtigt jedoch Handlichkeit und Lenkpräzision. Forciert sportliches Fahren auf Strecken mit vielen langsamen Kurven oder im Top-Test-Parcours ist nicht ihre Sache. Sie will mit ruhiger Hand und mehr Zeit in Schräglage gebracht werden als die flink vorausturnende R1 und schiebt in weit herumgezogenen, langsam zu fahrenden Bögen spürbar übers Vorderrad.

Und egal ob sich die weit nach vorne ragende Verkleidungskuppel der Kawasaki Ninja H2 „nur“ psychologisch oder tatsächlich durch höheres Gewicht am längeren Hebelarm vor der Lenkachse bemerkbar macht, sie verstärkt das Gefühl des Untersteuerns. Auch die bisweilen harschen Lastwechsel erschweren das Fahren auf kurvigen Strecken.

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Kawasaki Ninja H2 mit Stoppie-Neigung

Die Dynamik ständiger Lastwechsel bringt noch eine weitere Eigenart des Kompressor­motors zutage, die sonst gar nicht auffällt: Manchmal setzt die Leistung nach einigen Sekunden Schiebebetrieb in der Bremszone und im Kurveneingang mit winziger Verzögerung ein, dann aber mit Macht. Dann ist rasches Reagieren gefordert, das aber keinesfalls hektisch erfolgen sollte. „Am Anfang habe ich hier so viele Fehler gemacht wie mit kaum einem anderen Motorrad, die H2 fordert alle Konzentration“, konstatierte ein sichtlich erschöpfter Top-Tester Georg Jelicic nach zahlreichen Durchgängen im schnellen und langsamen Slalom. Den ­wahren Kurvengenuss mit der Kawasaki Ninja H2 bereiten Kombinationen, die in großzügigen Schwüngen gezogen wurden.

Bremsen am Limit, wie bei den Verzögerungsmessungen üblich, erfordert trotz ABS kaum weniger Konzentration. Eine Serie von Messungen ergab als mehrfach erreichten Bestwert eine hoch respektable mittlere Verzögerung von 9,6 m/s². Das ist aber nur die halbe Wahrheit, denn den besten Versuchen standen auch zwei ausgesprochen schlechte entgegen, bei denen die Bremse wegen zu raschen und zu hohen Aufsteigens des Hinterrads gelöst werden musste. „Ein Abheben des Hinterrads wird durch das KIBS nicht verhindert“, steht dazu lapidar im Fahrerhandbuch. KIBS bedeutet „Kawasaki Intelligent antilock Brake System“. Doch etwas mehr Intelligenz bei der Erkennung von Stoppies würde nicht schaden, zumal die Stoppie-Neigung der Kawasaki Ninja H2 mit glühend heißer Bremsanlage noch zuzunehmen scheint. Hinter diesem Satz verbirgt sich übrigens ein Lob für die Brembo-Hardware der H2-Bremsanlage. Sie hält selbst zahlreiche rasch aufeinanderfolgende Messungen aus 100 km/h bis zum Stillstand durch, wobei der Druckpunkt nur ein wenig wandert und die ausgezeichnete Dosierbarkeit bloß geringfügig schlechter wird. Das will etwas heißen, weil Bremsungen bis zum Stillstand die Scheiben und Zangen mangels Fahrtwinds besonders erhitzen und die Kawasaki Ninja H2 ja auch ein recht schwerer Brocken ist.

Fahren als gäbe es keineTraktionskontrolle

Wie das KIBS ist auch die KTRC (Kawa­saki Traction Control) keine Vollkaskover­sicherung. Beim Versuch, die nur mittelprächtigen Zeiten im langsamen Slalom zu verbessern, musste Top-Tester Georg zwei vehemente Rutscher trotz Traktionskontrolle selbst abfangen. Dieses Verhalten verlangte systematische Tests – „der Hinterreifen hat hoffentlich noch ein wenig Gummi auf dem Laufstreifen“ –, die in der Tendenz folgende Ergebnisse erbrachten: In der Standardeinstellung der Traktionskontrolle, der Stufe eins, die am wenigsten eingreift und die im Slalom aktiviert war, kann es beim absichtlich brachialen Beschleunigen in Schräglage tatsächlich zu heftigen Rutschern, eventuell auch zu Stürzen mit der Kawasaki Ninja H2 kommen. Wer jedoch fährt, als wäre die Traktionskontrolle nicht vorhanden, sich also beim Beschleunigen in Schräglage behutsam ans ­Limit herantastet, sieht die KTRC-Kontrollleuchte im Cockpit zwar ab und zu aufleuchten, spürt auch, wie die Leistung sanft wegge­regelt wird, erlebt aber kein Ausbrechen des Hinterrads. Stufe zwei regelt dagegen schon sehr defensiv, man hat das Gefühl, über Gebühr gebremst zu werden.

Die drei Stufen des KTRC können jeweils noch in „Normal“ und  „Plus“ für stärkere sowie in „Minus“ für geringere Eingriffe unterteilt werden, und letztlich empfahlen sich die Einstellungen „zwei Minus“ oder „eins Plus“ als die besten Kompromisse. Als untauglich erwies sich der Regenmodus der Kawasaki Ninja H2 - selbst im ­Regen. Das liegt weniger an der stark minimierten Spitzenleistung, geschätzt etwa 80 PS, sondern am übervorsichtigen Eingreifen der Traktionskontrolle. Sie gibt selbst bei geringster Schräglage nur so wenig Leistung frei, dass diese nicht ausreicht, um auf einer pass­ähnlichen Straße aus einer Kurve heraus einen Kleinwagen zu überholen.

Assistenzsysteme aus der ZX-10R

Generell ist es auf der Kawasaki Ninja H2 geboten, bei jedem Tempo höchst aufmerksam, aber gelassen zu fahren. Sie will ohne zackige Lenkmanöver auf die richtige Kurvenbahn gesetzt werden, ihr Verhalten beim scharfen Bremsen oder vehementen Beschleunigen will stets aufmerksam, nein, besonders aufmerksam beobachtet werden. Rabiate Fahrmanöver, die rasch ans Limit stoßen, werden ihre Fahrassistenzsysteme nicht einfangen können. Sie stammen aus der ZX-10R, wurden für die H2 adaptiert, haben aber sichtlich Schwierigkeiten, der Leistung und dem Leistungseinsatz von Motor und Bremsen hinterherzurechnen.

Und jetzt? Fotos gemacht, Prüfstands- und Messfahrten erledigt, Testrunde und Parcours absolviert, Traktionskontrolle geprüft – jetzt geht’s endlich auf die Autobahn. Leider war das nicht vor nachmittags um vier möglich. So hing dieses Mal der feierabendliche Berufsverkehr an der Kawasaki Ninja H2 wie eine Bleikugel. Keiner konnte verstehen, welche ­Dynamik sie auf wenigen Hundert Metern freier linker Spur entfaltete und wie lächerlich es sich aus der Warte des H2-Fahrers ausnimmt, wenn ein ambitionierter Bürger in seinem Käfig drei Kilometer braucht, um mit 171 km/h einen anderen zu überholen.

Das muss auch niemand verstehen, deshalb fuhr der Autor und zeitweilige H2-Fahrer leicht frustriert nach Hause, stellte das Motorrad ab und setzte sich in einen Gartenstuhl daneben. In der langsam einkehrenden Muße erfreute er sich an der gediegenen Verarbeitung der exklusiven Kawasaki Ninja H2, die leicht hitzeflimmernd und leise knisternd abkühlte. Die Restprofiltiefe des Hinterreifens betrug nach knapp 1400 Kilometern noch 1,9 Millimeter in der Mitte. Und er nahm sich vor, am kommenden Sonntag ganz früh aufzustehen.

Fazit

Bilski
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Die Kawasaki Ninja H2 ist ein exklusives, mit feinen Komponenten ausgestattetes und sehr starkes Motorrad. Leichter und sportlicher als ihre dicke Schwester ZZR 1400, aber schwerer und träger als aktuelle Supersportmaschinen, steht sie zwischen beiden Gattungen. Trotz ABS und Traktionskontrolle fordert sie beim Bremsen und beim Einsatz ihrer Leistung einen stets hoch konzentrierten Fahrer. 

Und solvent sollte er auch sein.

Aufgefallen

Positiv:

+ Eine schmale Kette hilft, Gewicht zu sparen. BMW und Yamaha verwenden selbst bei ihren starken Sportlern schmalere 525er-Ketten.

+ Trotz ihrer gewaltigen Leistung wird die Kawasaki Ninja H2 ebenfalls von einer solchen Kette ange­trieben. Das spricht auch für deren Qualität.

Negativ:

- Der hochglänzende Lack der Kawasaki Ninja H2 ist sehr kratzempfindlich.

- Zum Ölnachfüllen muss der Einfüllstutzen mit einem Inbusschlüssel geöffnet werden. Bordwerkzeug nicht vergessen!

Aufladung per Kompressor

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Flügelrad zur Verdichtung der eingeführten Luft.

Anders als beim Turbolader der Kawasaki Z 750 Turbo, bei dem das Verdichterrad vom Abgasstrom und deshalb stets verzögert angetrieben wird, ist der Kompressor der Kawasaki Ninja H2 mechanisch an die Kurbelwelle gekoppelt. Die Kompressorwelle wird von dort per Zahnkette in Rotation versetzt, dahinter sorgt eine starke Übersetzung mit drei Planetenrädern auf die Achse des Flügelrads für dessen extrem hohe Drehzahlen. Bis zu 130.000/min erreicht das Flügelrad, das deshalb aus äußerst hochwertigen Materialien besonders präzise gefertigt und gelagert sein muss. Voller Stolz verweisen die Kawasaki-Ingenieure in diesem Zusammenhang auf die Erfahrungen mit der Pro­duktion von Turbinen, die ebenfalls zum Technologiekonzern Kawasaki Heavy Industries gehört. Der Stolz ist berechtigt, ein reiner Motorradhersteller müsste sich die technologische Kompetenz wohl von außen teuer erkaufen.

Dank des mechanischen Antriebs sorgt der Kompressor bereits bei niedrigen ­Motordrehzahlen für eine spürbare Leistungssteigerung. Wie die Leistungskurve beweist, kennt der Motor der Kawasaki Ninja H2 kein ­sogenanntes Turboloch. Im Top-Test hat sich allerdings gezeigt, dass sich der ­Ladedruck im Ansaugsystem, das hier ­eigentlich Einblassystem heißen müsste, doch mit einer kleinen Verzögerung aufbaut. Das wird besonders deutlich bei häufigen schnellen Lastwechseln auf kurvenreichen Strecken. Saugmotoren sind für ein solches Fahrprogramm besser geeignet, weil sie rascher auf Lastwechsel reagieren können. Die nicht immer be­rechenbare Arbeit der elektronischen As­sistenzsysteme hängt vermutlich damit zusammen. Eine Traktionskontrolle mit direktem Bremseingriff wäre wohl die bes­te, weil direkt wirkende Lösung für ein Motorrad wie die H2.

Bilski
Antriebsseite des Kompressors mit Kettentrieb und Planetengetriebe.

Weil der Kompressor auch dann Ladedruck aufbaut, wenn er nicht erwünscht ist, zum Beispiel im Schiebebetrieb, besitzt das Kompressorsystem ein Überdruckventil, das sogenannte Wastegate. Es sorgt für das markante und aufreizend klingende Zwitschern beim Gasweg­nehmen. Rallye-Fans kennen dieses Geräusch, mit der Kawasaki Ninja H2 findet es auch Eingang in den Straßenverkehr.

Wegen des Überdrucks im Einlasstrakt und wegen der höheren Drücke im Motor selbst muss dieser stärker gebaut werden als ein Saugmotor. Das im Vergleich zu 1000er-Supersportlern deutlich höhere Gewicht der Kawasaki Ninja H2 rührt also nicht allein vom Kompressor und seinem Antrieb, sondern auch von dickeren Wandstärken von Gehäusen und Zylindern, solideren Kolben, wahrscheinlich auch stärker dimensionierten Lagern.

Technische Daten Ninja H2

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