In den Augenblicken höchster Konzentration wird alles einfach. Das Schreien des Vierzylinders der Kawasaki Ninja ZX-10R prickelt auf der Haut, die Strecke verengt sich auf einen Bremspunkt, die meisten Anzeigen des Instruments vor einem werden bedeutungslos. Es zählt allein das Leuchtband, das Sekunden zuvor in den roten Bereich gelaufen ist und jetzt dringlich blinkt. Nächster Gang, schon wieder rotes Blinken, nächster Gang und noch einer und noch einer.
Es frappiert, wie schnell sich der neue Vierzylinder auf den beiden langen Geraden des Sepang International Circuit durch die Gänge katapultiert. Dabei spielt die immer noch enge Abstufung der oberen Gänge eine Rolle, die geringere Schwungmasse der Kurbelwelle, vor allem aber die über einen weiten Bereich gestärkte Leistungsentfaltung. Laut Angabe blieb die Spitzenleistung der neuen Kawasaki Ninja ZX-10R gegenüber dem Vorgängermodell gleich, augenzwinkernd erzählt Projektleiter Yoshimoto Matsuda jedoch, im Durchschnitt habe man auch dort etwa vier PS gewonnen.
Kawasaki Ninja ZX-10R mit Euro-4-Homologation
Mag sein, doch am stärksten zugelegt hat der überarbeitete Motor in der Mitte ab etwa 6000/min. Auch darunter wirkt er subjektiv stärker als die seit 2011 gebaute Ausführung, freilich ohne hier die Kraft des BMW-Antriebs zu erreichen. Auf der Rennstrecke spielt dies eine geringe Rolle; es gibt in Sepang nur eine Bergauf-Linkskehre, in deren Beschleunigungszone man sich etwas mehr Drehmoment wünscht. Für kurze Momente, bevor die Zugkraft mächtig einsetzt. Die anfängliche Zurückhaltung der Kawasaki Ninja ZX-10R in dieser Passage hat aber auch mit der Euro-4-Homologation und der Arbeit der Traktionskontrolle zu tun, wie eine Fahrt mit einem Kit-Motorrad zeigte, das hier wesentlich energischer zur Sache ging. Mehr dazu auf der Artikelseite "Rennkit ZX-10R".
Die ersten Runden auf einer unbekannten Rennstrecke laufen selten flüssig und harmonisch ab, sind eine lästige Phase des Eingewöhnens, die jeder rasch hinter sich bringen will. Für die Beurteilung eines Motorrads ist diese Phase jedoch wichtig, weil deutlich zutage tritt, wie gut es seinen fehleranfälligen Fahrer beim Lernen unterstützt. Die Kawasaki ZX-10R wirkt dabei sehr gefällig. Sie verlangt keine extreme Sitzhaltung, die Ergonomie erlaubt auch tiefes Hanging-off, außerdem zeigt sich die Kawa bestens ausgewogen. Im schikanös engen Doppelhaken am Ende der Zielgeraden mit dem stark abfallenden Linksknick führt sie das Vorderrad sicher, andererseits gelingt wenige Sekunden später der Schräglagenwechsel bei voller Beschleunigung ohne besonderen Kraftaufwand. Also in einer Situation, in der die Maschine mit voller Hinterradlast eher unhandlich wird. Man weiß dieses Entgegenkommen bei den herrschenden Temperaturen besonders zu schätzen.
Reagiert in Intervallen von 5 Millisekunden
Viel Lob verdient auch die Bremsstabilität der Kawasaki Ninja ZX-10R. In den langen Verzögerungsphasen am Ende der beiden Geraden arbeitet die Anti-Hopping-Kupplung in Verbindung mit der Schleppmomentregelung vorbildlich. Selbst beim Zurückschalten und gleichzeitigem Bremsen in Schräglage, wie es vor dem Rechtsknick eingangs der Gegengeraden nötig wird, kann man einfach wieder die Kupplung einrücken, ohne dass das Hinterrad wegrutscht.
Nicht ganz so zuvorkommend benimmt sich die Kawasaki Ninja ZX-10R bei Lastwechseln im Kurvenscheitel. Zwar fühlen sich die Drosselklappen nach längeren Schiebephasen nicht mehr so festgeklebt an wie beim vorigen Modell, leichte Ansprechverzögerungen gestattet sich jedoch auch die Neue. Was kurioserweise meist zu harten Lastwechseln führt, weil man dann instinktiv das Gas etwas zu weit aufzieht. Mit der Gewöhnung an die Streckenbedingungen verfeinert sich die Arbeit des Fahrers am Gasgriff, dann sind Lastwechsel kein Thema mehr. Und auch hier bringt das Steuergerät des Rennkits eine Verbesserung, der Motor spricht damit spürbar schneller an. Wie sich die Supersportlerin auf kurvigen Landstraßen verhält, muss ohnehin ein Test klären.
Weil Temperaturen von über 40 Grad und Motorleistungen von 200 PS auf der Rennstrecke besondere Reifen erfordern, wurden ab dem zweiten Turn bei abgeschaltetem ABS relativ harte Bridgestone-Slicks gefahren. Wie gut das System und die integrierte Motorcycle Stability Control (MSC) von Bosch arbeiten, ließ sich deshalb nicht ergründen. Stattdessen gab es eine satte Portion Grip an Vorder- und Hinterrad, sodass auch die Traktionskontrolle nicht viel zu tun bekam. In der lang gezogenen Rechtskurve am Anfang der Runde, die voll beschleunigend durchfahren wird, war zu spüren, wie sie ein wenig die Drosselklappenöffnung zurücknahm, wahrscheinlich auch in der schon erwähnten Bergauf-Linkskehre. Stets arbeitete sie aber so geschmeidig, dass es kaum auffiel. Ein Indiz dafür, wie genau die Algorithmen mittlerweile den entsprechenden Fahrsituationen angepasst werden. Was das Informationsmaterial, sprich die von den Sensoren gelieferten Messwerte, betrifft, so erkennt die neue ZX-10R nicht nur Rad- und Motordrehzahlen, Drosselklappenwinkel und Gangstufen wie die Vorgängerin. Sie verfügt über die neueste Sensorbox von Bosch, weiß also auch über Schräglage, eventuelle Driftansätze, beginnende Wheelies und Stoppies bestens Bescheid und reagiert in Intervallen von fünf Millisekunden.
Schlichtes und gut ablesbares Anzeigeinstrument
Chefentwickler Matsuda sprach sogar davon, dass seine neue Software sich im Übergang vom reaktiven zum sogenannten prädiktiven System befinde, also vorausschauend reagieren und deshalb näher am Limit regeln könne. Daher der Slogan der neuen Sportlerin: „Get Closer“. Näher ans Limit nämlich. „Die Reifen geben uns ständig Auskunft über ihren Zustand; das schafft die hohe Qualität der Regelung“, sagt Matsuda. Wie er und seine Mitstreiter die Reifen zum Sprechen bringen, will er jedoch nicht verraten. Das klingt geheimnisvoll-spannend und verlangt geradezu nach einem systematischen Test. Fürs Erste muss die Feststellung genügen, dass in keiner Phase des Fahrtags das Bedürfnis aufkam, etwas an der Traktionskontrolle zu ändern.
Im Unterschied zu anderen Herstellern wie Ducati oder Yamaha baut Kawasaki auch in die neue Generation der Kawasaki Ninja ZX-10R ein schlichtes, wenngleich gut ablesbares Anzeigeinstrument. Das bei diesem Detail gesparte Geld investierten die Produktplaner lieber in hochwertige Federelemente. Sowohl Gabel als auch Federbein sind nach den Prinzipien der Twin Tube-Technologie aufgebaut, die von Öhlins erfunden und von Showa für die Kawasaki und mithin die Großserie weiterentwickelt wurde. Diese Entwicklung betrifft vor allem den doppelwandigen Ausgleichsbehälter. Nach Auskunft eines Showa-Technikers entlässt er bei extrem hohen Drücken Öl aus dem eigentlich geschlossenen Dämpfersystem in den Raum zwischen den Wandungen, reduziert damit die Belastung der Dichtungen und verlängert so ihre Lebensdauer. Mit der eigentlichen Twin Tube-Technik hat dieses Detail aber nichts zu tun. Diese heißt so, weil in einem Innen- und einem Außenrohr (auch nicht identisch mit Stand- und Gleitrohr) ein geschlossener Dämpferölkreislauf geschaffen wird. So soll ein gleichmäßiger Ölfluss ohne Kavitation (Bildung von Hohlräumen im Öl) oder Luftblasenbildung entstehen und damit konstante Dämpfung.
So weit die Theorie. In der Praxis konnten die Federelemente vollauf zufriedenstellen. Nur wenige Tester nahmen Korrekturen in der Einstellung vor, und wenn, dann nur leichte. Dabei fiel auf, dass bereits wenige Klicks hin oder her eine spürbare Veränderung bewirkten. Was die Arbeit der Federelemente beim Fahren selbst betrifft, so fiel auf, dass nichts Negatives auffiel. Problembereiche auf der Strecke wie eine wellige Bremszone oder einige Wellen in einer schnellen Links-rechts-Kombination konnte man registrieren. Aber keine Überforderungsreaktionen, kein Pumpen beim Beschleunigen, kein Einknicken bei Schräglagenwechseln unter Last, kein Durchschlagen beim Bremsen. Alles ziemlich gut, auch in Anbetracht der Hitze. Bleibt der kleine Vorbehalt, dass der Kurs von Sepang generell nicht sehr wellig ist. Zu klären, wie die Showa-Federelemente der Kawasaki Ninja ZX-10R mit gröberen Asphaltäckern zurechtkommen, bleibt also einmal mehr einem Test vorbehalten.
Bremsen verzögern sofort, aber nicht zu giftig
Es war nun schon mehrfach von der Hitze die Rede, und das Thema drängt sich abermals in den Vordergrund, wenn es um die Bremsen geht. Auch in diesem Bereich hat Kawasaki viel Geld investiert und montiert Brembo-Monoblocks vom Typ M 50 in Kombination mit 330er-Scheiben von 5,5 Millimeter Dicke. Wer Sepang von den GP-Fernsehübertragungen kennt, der weiß, dass die beiden langen Geraden dort fast parallel verlaufen, nur durch eine lang gezogene Kehre getrennt. Es wird dort also zweimal in kurzer Folge bis in den fünften, manchmal auch sechsten Gang hochbeschleunigt und wieder heruntergebremst, bis man den ersten Gang braucht. Mehr braucht es nicht, um eine Bremse zu schlachten oder ihre Standfestigkeit zu beweisen. Die Brembo-Anlage der Kawasaki Ninja ZX-10R war standfest, auch in der Gluthitze. Sie ist auch in ihrem Ansprechverhalten gut abgestimmt, baut sofort Verzögerung auf, ohne zu giftig einzusetzen.
Als sich der MOTORRAD-Tester am Nachmittag an Motorrad, Reifen und Strecke gewöhnt hatte, wagte er gegen Ende der Zielgeraden einen kurzen Blick auf die Temperaturanzeige: Bei höchster Last und Drehzahl arbeitete die Quelle der Macht noch mit 98 Grad Kühlwassertemperatur. Und das war unter den gegebenen Umständen ziemlich cool.
Rennkit ZX-10R
Es waren nicht alle Kit-Teile eingebaut, sondern nur das Steuergerät und eine Akrapovic-Rennauspuffanlage. Die Spiegel waren demontiert und das Heck etwas angehoben. Der Unterschied zur Serie ist trotzdem frappant, dafür sorgt allein schon die Blipper-Funktion des Kit-Steuergeräts, die Zurückschalten ohne Kupplung erlaubt. Zudem katapultieren rund zehn PS mehr über fast den gesamten Bereich die Kawasaki ZX-10R noch explosiver voran.
Die Lastwechsel waren leichter zu kontrollieren als beim Serienmotorrad. Mit angehobenem Heck gab sich die Kawasaki Ninja ZX-10R kurvengieriger und hielt beim Beschleunigen noch besser eine enge Linie. Auf Fahrfehler wie Gaswegnehmen in Schräglage wegen zu optimistischen Tempos reagierte die Maschine allerdings kitzelig, mit leichtem Vorderrad-Chattering.