Endlich. Während V4-Pionier Honda den Sport-Fans auf der Suche nach einem V4 im Sportdress nur ein Achselzucken zu bieten hat, rennt Aprilia mit der RSV4 bei ihnen offene Türen ein.
Endlich. Während V4-Pionier Honda den Sport-Fans auf der Suche nach einem V4 im Sportdress nur ein Achselzucken zu bieten hat, rennt Aprilia mit der RSV4 bei ihnen offene Türen ein.
V4 oder doch lieber Reihenvierzylinder? Betrachtet man die Sache nüchtern, gibt es wenig, was man einem ordentlich gemachten Reihenvierzylinder vorwerfen könnte. Die heutigen Exemplare haben einen enormen Perfektionsgrad erreicht, sind standfest, laufen geschmeidig und drücken Leistung ab wie die Hölle. Geht es aber um das Kribbeln im Bauch, erhöhten Puls, dann schlägt die Stunde des V4. Allein der exotische Sound, der aus der Monotonie kreischender Reihenvierer heraussticht, dieser nach Boxengasse, Startampel, Rennstrecke schmeckende Klang elektrisiert.
Auch wenn Freddie Spencer schon 1982 die Honda FWS 1000, bereits mit zahnradgetriebenen Nockenwellen bestückt, aufs Podium führte, legendär wurde der V4 erst vier Jahre später mit der VFR 750 R, besser unter dem Kürzel RC 30 bekannt. Ein Motorrad, speziell für die Superbike-WM konstruiert, zusammengebaut von einem kleinen Team spezialisierter Mechaniker. Ein Traum. Von dem sich lediglich der Tourensportler VFR in die Gegenwart gerettet hat. Beinahe zwei Jahrzehnte später greift Aprilia nun den roten V4-Faden wieder auf.
Wie damals bei der Entwicklung der Honda hatten auch im Fall der RSV4 nicht die Controller, sondern die Techniker das Sagen. Sie gingen ähnlich konsequent zu Werke wie seinerzeit ihre Honda-Kollegen und entschieden aus gutem Grund sich für einen V4. Zwar ist er aufwendiger und daher teurer als ein Reihenmotor und wiegt durch den doppelten Nockenwellenantrieb sowie zwei separate Zylinderblöcke auch etwas mehr, seine Vorteile aber sind unbestritten. Warum wohl sind in der MotoGP bis auf Kawasaki nur noch V-Motoren unterwegs? Gut 40 Prozent schmaler, sagen die Aprilia-Techniker, als ein vergleichbarer Reihenmotor, sei ihr V4. Das ermöglicht eine Silhouette so schmal, dass Aerodynamiker Freudentränen in den Augen haben und gewöhnliche Superbikes daneben plötzlich ziemlich pummelig aussehen. Und der V4 bietet durch seine kompakte Bauweise viel Spielraum bei der Einbaulage und damit der Wahl des Schwerpunkts.
Spreizt die Aprilia, ihre Zylinder um 65 Grad, trägt die Honda ihre im 90-Grad-Winkel. Was grundsätzlich beste Voraussetzungen für einen guten Massenausgleich schafft. Deshalb kommt sie – im Gegensatz zur Aprilia – ohne Ausgleichswelle aus. Ganz perfekt in Sachen Laufkultur ist allerdings auch die Honda nicht. Denn anders als bei der zivilen Schwester VFR 750 F, beträgt bei ihrer Kurbelwelle der Hubzapfenversatz 360 Grad. Jener der F dagegen 180 Grad. Bessere Leistungsentfaltung und Traktion durch die engeren Zündabstände, so die Begründung von HRC damals, sollen den Ausschlag für die 360-Grad-Welle gegeben haben. Schnurrt die RC 30 bis 6000/min noch wie ein Kätzchen, werden darüber die nicht ausgeglichenen Massenkräfte zweiter Ordnung als Vibrationen in den Rasten spürbar. Was jedoch ebenso wenig störende Formen annimmt wie das ungeduldige Trommeln und Pulsieren des RSV4-Aggregats, dessen Ausgleichswelle ganze Arbeit leistet.
Mögen die beiden V4 vom Layout also deutliche Unterschiede aufweisen, so offenbaren sie in der Art der Leistungsentfaltung ihre enge Verwandtschaft. Dieser sahnige Antritt aus tiefen Drehzahlen, dem der gummibandartige Marsch der Drehzahlmessernadel durch das breite nutzbare Drehzahlband folgt. Denn Leistungsvorteile bringt die V-Konfiguration keine. Mit 179 PS ist die RSV4 bei den Superbikes wohl gut bei der Musik, mehr aber nicht. Dagegen wirkt die Leistungsausbeute der für den damaligen Markt auf teutonisch-korrekte 100 PS gedrosselten RC 30 bescheiden. Aber Obacht. Ab Werk war sie 112 PS stark. Was immerhin einer Literleistung von 149 PS entspricht. Die Aprilia fährt für ihre Ausbeute das ganze Arsenal moderner Elektronik und Hilfsmittel auf, um auf diese Leistung zu kommen. Ride-by-wire, verstellbare Ansaugtrichter, zwei Einspritzdüsen pro Zylinder – eine davon zentral über den Trichtern, ultraschneller Einspritzrechner, Stellmotor mit Auspuffklappe.
Hat die RC 30 natürlich alles nicht. Und wer mehr Leistung wollte, musste sich mit Kit-Zündbox, Nockenwellen und einem Arsenal aus Vergaser-Düsen, -Nadeln und Federn arrangieren. Dennoch lohnt ein Blick ins Innere. Nicht nur wegen der hochpräzisen Zahnradtürme, die die RC 30-Nockenwellen antreiben. Die Aprilia belässt es dagegen bei einer Kette pro Zylinderbank. Die treibt dafür nur die Einlass-Nockenwelle an, welche direkt mit der Auslass-Welle verzahnt ist. Was reichlich Bauraum spart. Die Verdichtung des Aprilia-Motors von 13 zu eins ist typisch hoch für heutige, auf Leistung und Effizienz getrimmte Sportler. Sie erfordert einen kompakten Brennraum, der durch die mit 22 Grad sehr eng stehenden Ventile ermöglicht wird.
Geradezu moderat dagegen die 38 Grad Ventilwinkel des RC 30-V4-Motors (bei der RC 45 standen die Ventile mit 26 Grad bereits deutlich enger) und seine Verdichtung von nur 11,0 zu eins. Schließlich war der Vorzeigesportler auf Normalbenzin ausgelegt. Sein Finessen warten woanders. Auf Reibungsarmut getrimmt, tragen die Teflon-Molybdänbeschichteten Kolben nur zwei Ringe und laufen die hohlgebohrten Nockenwellen in Nadellagern. Die Ventile mit ihren 4,5 Millimeter dünnen Schäften sind zwar aus Stahl, die Pleuel aber aus Titan. Bei der RSV4 ist es gerade anders herum. Erstaunliches auch in den Brennräumen. Bei 70 Millimeter Bohrung brachten die Honda-Techniker 28er-Einlassventile unter. Die Aprilia besitzt 32er-Einlassventile bei 78 Millimeter Bohrung. Ventil- und Kolbenflächen stehen somit bei beiden in einem Verhältnis von etwa eins zu drei. Den Unterschied macht erst der freie Ventilquerschnitt, der vom Ventilhub bestimmt wird. Und da hat die RSV4 aufgrund stolzer 10,2 Millimeter Einlass-Hub in Sachen Leistungsausbeute klar die besseren Karten. Über rund 1450 Quadratmillimeter freien Einlassquerschnitt saugt sie sich ihr Frischgas aus einer 8,2 Liter großen Airbox durch 48er Ansaugschlünde, in die zwei Einspritzdüsen auf die Millisekunde genau die exakt benötigte Spritmenge pumpen. Im Extremfall 14000 Mal pro Minute. Bei ihrem Hub von 52,3 Millimeter sind die Kolben dann bereits mit einer mittleren Geschwindigkeit von 24,41 m/s unterwegs. Bei einem Hub von 48,6 Millimetern müssen die Kolben der 12500/min drehenden Honda dagegen maximal 20,25 m/s verkraften. Auch hier steckt der Fortschritt.
Darüber hinaus wirkt der Einlass-Ventilhub der Honda von neun Millimetern und ihre 1120 Quadratmillimeter freier Ansaugquerschnitt ebenso bescheiden wie die 3,4 Liter kleine Airbox und die 35,5-Milli-meter-Vergaser. Die tragen dafür ein anderes Schmankerl: Die Deckel der Gemischfabriken haben Service-Öffnungen für ein schnelles Wechseln von Düsen und Nadeln ohne den heiklen Ausbau der Membranen. Bezüglich Geschmeidigkeit, Gasannahme und Lastwechselverhalten aber, da steht die Honda mehr als eine Startreihe vor der Aprilia. Samtweich reagiert sie auf Gasbefehle, ihre Lastwechselreaktionen sind auf ein Minimum beschränkt. Im Vergleich wirken die Umgangsformen der Aprilia schon ein wenig derb-rustikal. Auch fahrwerkstechnisch gibt sich die Honda keine Blöße: tadelloses Handling, fast schon Ducati-artige Stabilität in schnellen Kurven und Federelemente, die viel Komfort bieten. Die RSV4 erscheint wie die logische Weiterentwicklung: berauschende Präzision, frappierende Handlichkeit und dank sehr straffer Abstimmung bombenstabil. Für die bestechende Balance haben die Techniker nicht nur die optimale Lage für den Motor gefunden, sondern auch für den Tank, der bis unter die Sitzbank reicht. War die RC 30 seinerzeit ein zierliches, flach geduckt auf dem Asphalt kauerndes Motorrad, setzt die RSV4 noch eins drauf. Obwohl 1000er, geriet sie beinahe so filigran wie eine 600er, weshalb Großgewachsene auf dem spartanischen, hohen – der Aprilia-Pilot thront sechs (!) Zentimeter höher als sein VFR-Kollege – Sitzkissen fast schon hünenhaft wirken. Nur war die V4-Honda mit seinerzeit 25000 Mark ein nahezu unerschwinglicher Traum, die Aprilia rückt ihn heute in greifbare Nähe. Ein großer Wurf aber sind beide.
Motor
Bauart V4/V4
Zylinderwinkel, Grad 65/90
Nockenwellenantrieb Kette/Zahnräder
Bohrung/Hub 78/52,3 mm / 70/48,6 mm
Verdichtung 13,0:1/11,0:1
Hubraum 1000cm/3748cm3
Leistung 180 PS/100 PS bei 12500/min / bei 11000/min
Drehmoment 115 Nm bei 10000/min / 67 Nm bei 10500/min
Kupplung Anti-Hopping, Ölbad / Anti-Hopping, Ölbad
Gemischaufbereitung Einspritzung Ø 48 mm/Vergaser Ø 35,5 mm
Fahrwerk
Rahmen Brückenrahmen aus Aluminium/Brückenrahmen aus Aluminium
Bereifung vorne
120/70 ZR 17
/120/70 VR 17
Bereifung hinten
190/55 ZR 17
/180/60 VR 18
Maße und Gewichte
Radstand 1420 mm/1410 mm
Lenkkopfwinkel 65,5 Grad/65,5 Grad
Nachlauf 105 mm/95 mm
Sitzhöhe 845 mm/785 mm
Gewicht vollgetankt 204 kg/208 kg
Fahrleistungen
Vmax 295 km/h / 234 km/h
Beschleunigung
0- 100 3,2 sek/4,9 sek
0200 7,8 sek/9,3 sek
Durchzug
60-140 7,3 sek/12,8 sek
Preis
19790 Euro/25000 Mark (1988)
Auf der Suche nach gleichmäßiger Leistungsentfaltung und optimaler Traktion verlegte Honda mit der 360-Grad-Kurbelwelle die Hubzapfen der Zylinderpaare auf eine Ebene. So zünden zwei Zylinder innerhalb von 90 Grad Kurbelwellenumdrehung, gefolgt von 270 Grad Leerlauf. Anders dagegen der 65-Grad-V-Motor der Aprilia mit 180-Grad-Welle. Gut zu sehen: kettengetriebene Nockenwellen der Aprilia, Zahnradturm der Honda.