Yamaha YZF-R1 im Fahrbericht
Das Imperium schlägt zurück

In den letzten Jahren haben die europäischen Hersteller bei den Superbikes den Ton angegeben. Vor allem in Sachen Elektronik. Ernsthafte Gegenwehr aus Japan hat lange auf sich warten lassen. Sie kommt nun in Form der lang erwarteten Yamaha YZF-R1.

Das Imperium schlägt zurück
Foto: Yamaha

Zeit und Ort hatten eine gewisse Symbolkraft. Während Yamaha die mit riesiger Spannung erwartete Yamaha YZF-R1 im australischen Sydney Motorsport Park, bekannt als Eastern Creek, präsentierte, begann zur selben Zeit auf Phillip Island die neue Superbike-Saison. Jene Bühne, auf die Yamaha mit der R1 zurückstrebt. Und zwar mit aller Macht. 199 Kilo treffen auf 200 PS, Leichtbau vom Feinsten, Titan und Magnesium in fast schon verschwenderischer Fülle. Dazu modernste Elektronik, abgeleitet aus der MotoGP. So die vollmundigen Ankündigungen. Da dürften sie in den Konzernzentralen in München, Noale und Bologna sicher ebenso auf glühenden Kohlen ­sitzen wie die ungeduldigen Tester in der Boxengasse von Eastern Creek.

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Auch optisch lässt die neue Yamaha R1 keinen Zweifel am Führungsanspruch. Die Verkleidung mit dem charakteristischen Lufteinlass wirkt, als sei sie aus dem Ersatzteilregal der MotoGP-Teams geholt. Möglich machen das unter anderem die kleinen LED-Scheinwerfer, die sich geschickt an den Flanken verstecken. Der Höcker wirkt trotz seiner Breite dank riesiger Luftdurchlässe filigran. Das kommt gut.

Yamaha YZF-R1 wiegt 199 Kilogramm - vollgetankt

Was also kann die neue Yamaha R1, die von ihrer Vorgängerin eigentlich nur mehr das Motorkonzept des Reihenvierzylinders mit der Crossplane-Kurbelwelle gemein hat? Mit dem R1-Motor im R6-Chassis habe man begonnen, so Yamaha. Und wirklich: Die Yamaha YZF-R1 wirkt ungemein kompakt. Platz nehmen im R1-Sattel. Den Fahrer empfängt ein griffiges und knackig-straffes Polster, das schon fast an das Moosgummi eines Rennhöckers erinnert. Der Abstand zwischen Rasten und Sitzbank ergibt einen recht sportlichen Kniewinkel. Die Hände greifen nach tief liegenden Stummeln. Mit der R1 wolle man die Vorherrschaft auf der Rennstrecke zurückholen, lautet eine der Botschaften Yamahas. Fühlt sich ganz danach an. Und dafür haben die Ingenieure in Sachen Leistung, Gewicht und Elek­tronik auch alle Register gezogen.

Nur 199 Kilogramm soll die Yamaha YZF-R1 auf die Waage bringen – vollgetankt. Dafür wurde praktisch jedes Bauteil erleichtert. Der kunstvoll geschweißte 17-Liter-Alu-Tank soll konkurrenzlose 2,1 Kilo wiegen. Magnesium-Motordeckel und -Ölwanne sparen ebenso Gewicht wie das Rahmenheck aus dem gleichen Material. Die LED-Lampen ermög­lichen eine kleinere, leichtere Lichtmaschine und eine leichte 6,3-Ah-Batterie. Titan-Auspuffanlage, im MotoGP-Stil nun wieder unter dem Motor, Magnesium-Räder, ein Fest für Leichtbau-Fetischisten und Sportfreaks. Allein die Aluminium-Schrauben der Motordeckel sollen 250 Gramm sparen. Die Magnesium-Räder japanischer Fertigung gar 870 – und damit entsprechend das Handling beflügeln.

Schneidet die Linie präzise wie ein Skalpell

Und stets präsent: die MotoGP-Yamaha M1, die auch beim Rahmenlayout mit den weit vorne platzierten Motoraufnahmen Pate gestanden hat. Zwar hat aus Kostengründen weder ein einstellbarer Schwingendrehpunkt noch die rückwärtsdrehende Kurbelwelle den Weg in die Serie gefunden. Der wundervoll knurrige Klang, den nur dieser Crossplane-Reihenvierer mit dem unkonventionellen Hubzapfenversatz bietet, demonstriert dennoch akustisch die Nähe zur MotoGP-Rakete.

Nur macht die Yamaha YZF-R1 das nicht mit rüder Lautstärke. Dumpf röhrend geht es hinaus auf die Strecke. Ein vertracktes Ding. Ende Start – Ziel wartet ein furchteinflößend schneller Linksbogen. Dazu welliger Belag. Hängende Kurven, blinde Kuppen und eine Folge enger Wechselkurven. Harte Kost.

Doch wie die neue Yamaha YZF-R1 diese Kurvenfolgen entwirrt, ist der Hammer. Ihre Wendigkeit liegt weit von ihrer Vorgängerin entfernt. Geradezu gierig stürzt sie sich auf den Einlenkpunkt, lässt sich mit gleichmäßig geringem Kraftaufwand immer tiefer abwinkeln und blitzartig auf die andere Seite werfen. Zackt wie eine Flipperkugel durch die Wechselkurven. Großes Kino. Schneidet präzise wie ein Skalpell ihre Linien, lässt sich auch auf der Bremse eng um den Scheitelpunkt zirkeln. Reagiert intuitiv auf Lenkbefehle, Ändern der Linienwahl in Schräglage? Kein Problem.

Kein Runterschalten ohne Kupplung

Ein Superbike mit dem Handling einer 600er? Kommt dem schon recht nah. Ihre Wendigkeit ist eine Wucht. Allerdings: Wird die Yamaha YZF-R1 aggressiv mit viel Zug am Lenker durch wechselnde Schräglagen gerissen, quittiert sie solche Behandlung trotz Lenkungsdämpfer hin und wieder durchaus mit kräftig zuckendem Lenker.

In Sachen Power ist die Yamaha YZF-R1 nun ebenfalls voll bei der Musik. Dabei kommt der kurzhubiger ausgelegte Vierzylinder (Bohrung/Hub 79/50,9 mm statt bisher 78/52,2 mm) zunächst fast unspektakulär rüber. Doch darf man sich vom tiefen, dumpfen Sound und der linearen Leistungsentfaltung nicht täuschen lassen: Das Ding schiebt aus mittleren Drehzahlen kraftvoll voran und dreht leichtfüßig mit gleichbleibender Gewalt in die Höhe, zerrt unnachgiebig bis zum Leistungsgipfel bei 13.500/min (bisher 12.500/min) vorwärts. Erst bei 14.500/min (bislang: 13.500/min) setzt der Begrenzer dem Toben ein Ende. Wobei der Schaltblitz im vor Informationen nur so strotzenden TFT-Display (Thin Film Transistor Display) ruhig etwas deutlicher auf sich aufmerksam machen dürfte. Akkurat reiht sich beim Hochschalten dank Schaltautomat ein Gang an den anderen. Runterschalten ohne Kupplung ermöglicht er nicht.

Der Motor hat insgesamt 4,2 Kilo abtrainiert

Bei 299 km/h wird die Yamaha YZF-R1 elektronisch eingebremst. Bei Messfahrten in Japan ­ohne diese Fessel wurden auf der Test­strecke in Fukuroi allerdings 307 km/h gemessen. Die Potenz des Motors und die aerodynamischen Qualitäten der Verkleidung scheinen in Ordnung zu sein. Spontan und direkt hängt der Vierzylinder am Gas. Vier Power Modes (PWR) stehen zur Verfügung. Von sanft ansprechend mit reduzierter Leistung (4) bis knackig-direkt (1). In Modus 1 hängt der Vierzylinder spontan am Gas, reagiert sehr direkt auf Gaskommandos, speziell bei niedrigeren Geschwindigkeiten aber auch etwas hart.

Größere Ventile (Einlass 33, Auslass 26,5 mm statt 31/25 mm) sowie schärfere Nockenwellen mit 0,6 (Einlass) und 0,7 mm mehr Hub sorgen dafür, dass stets ­genug Gemisch die CNC-gefrästen Brenn­räume fluten kann. Bei der Ventilbetätigung vertraut Yamaha nun statt auf Tassenstößel auf DLC-beschichtete (Diamond like Carbon) Schlepphebel. Nach wie vor muss das Ventilspiel nur alle 40.000 km kontrolliert werden.

Variable Ansaugtrichter (YCC-I) geben bei hohen Drehzahlen leistungsfördernd kurze Ansaugwege frei. Damit die Dreh­orgien nicht in Kernschrott enden, bestehen die Einlassventile aus Titan. Ebenso die Pleuel, die ersten ihrer Art im Serienbau mit gecrackten Füßen. Sie bringen ­gerade noch 220 Gramm (bisher: 338 Gramm) pro Stück auf die Waage. Über­arbeitet haben die Techniker auch die Ölversorgung der 20 mm schmaleren Kurbelwelle. Insgesamt hat der Motor 4,2 Kilo abtrainiert. Gegenüber der etwas pummeligen Vorgängerin wirkt die Yamaha YZF-R1 nun austrainiert, sehnig – ein Sportler mit Licht. Mit erstklassig zupackenden und nur zwei Fingern fein dosierbaren Bremsen. Selbst beim heftigen Ankerwerfen schwänzelt die R1 nur ein wenig mit dem Hintern, bleibt aber, nicht zuletzt dank der Anti-Hopping-Kupplung, sauber in der Spur.

Die Yamaha R1 ist mehr Racer denn je

Neben Motor und Fahrwerk hat Yamaha auch bei der Elektronik in die Vollen ­gelangt. Denn ohne geht bei Superbikes heutzutage nichts mehr. UBS, TCS, SCS, LIF, LCS, QSS, ERS. Alles klar? Hier mal in Kürze, was sich dahinter alles verbirgt:

Ein Sechsachsen-Mess­system (Inertial Measurement Unit, IMU) erfasst Beschleunigung und Geschwindigkeit der Maschine und damit ihre Bewegung in allen Richtungen. Es steuert schräglagenabhängig das nicht abschaltbare Bosch-ABS, das beim Griff zur vorderen Bremse auch die hintere in Abhängigkeit zur Schräglage für bessere Bremsstabilität mit betätigt (Unified Brake System, UBS) sowie die Traktionskontrolle (TCS). Dabei wird die Seitwärtsbewegung des Hinterrads, der Drift, erfasst. Dieses Slide Control System (SCS) kam erstmals vor zwei Jahren in der MotoGP zum Einsatz. SCS wacht gemeinsam mit TCS über das Hinterrad und greift bei zu raschen oder großen Bewegungen in die Motorsteuerung ein. Das funktioniert in der Praxis ausgezeichnet. Weich und feinfühlig regelt die Elektronik. Drifts ­gehen sanft vonstatten, und selbst bei groben Rutschern greift die Elektronik souverän ein. Das gilt auch für die Wheelie Control (LIF), die das Vorderrad sanft, aber bestimmt auf dem Boden hält. Eine Launch Control (LCS) komplettiert das elektronische Arsenal. Diese Funktionen lassen sich zusammen mit den Power Modes in drei frei konfigurierbaren Fahrmodi abspeichern. Klingt komplizierter als es ist, weil die Bedienung in der Praxis recht ­logisch per Stellrad am rechten und per Wippschalter am linken Lenker erfolgt.

Die neue Yamaha YZF-R1 ist in Sachen Sportlichkeit ein gewaltiger Schritt nach vorne. Sie ist mehr Racer denn je. Ob dafür große Zugeständnisse an die Alltagstauglichkeit nötig waren, wird sich zeigen. Der erste Auftritt auf der Rennstrecke zeigt jedenfalls klar: Die R1 ist zurück. Und sie hat das Zeug, die Hierarchie unter den Superbikes durcheinanderzuwirbeln.

Technische Daten: Yamaha YZF-R1 (YZF-R1M)

Werte in Klammern für Yamaha R1M.

Motor: Wassergekühlter Vierzylinder-Viertakt-Reihenmotor, eine Ausgleichswelle, zwei obenliegende, kettengetriebene Nockenwellen, vier Ventile pro Zylinder, Schlepphebel, Nasssumpfschmierung, Einspritzung 4 x Ø 45 mm, geregelter Katalysator, Lichtmaschine 368 W, Batterie 12 V/6 Ah, mechanisch betätigte Mehrscheiben-Ölbadkupplung (Anti-Hopping), Sechsganggetriebe, O-Ring-Kette, Sekundärübersetzung 41 : 16.

Bohrung x Hub: 79,0 x 50,9 mm
Hubraum: 998 cm³
Verdichtungsverhältnis: 13,0 : 1
Nennleistung: 147,1 kW (200 PS) bei 13.500/min
Max. Drehmoment: 112 Nm bei 11.500/min

Fahrwerk: Brückenrahmen aus Aluminium, Upside-down-Gabel, Ø 43 mm, hydraulischer Lenkungsdämpfer, verstellbare Federbasis, (elektronisch verstellbare) Zug- und Druckstufendämpfung, Zweiarmschwinge aus Aluminium, Zentral­federbein mit Hebelsystem, verstellbare Federbasis, (elektronisch verstellbare) Zug- und Druckstufendämpfung, Doppelscheibenbremse vorn, Ø 320 mm, Vierkolben-Festsättel, Scheibenbremse hinten, Ø 220 mm, Einkolben-Schwimmsattel, Traktionskontrolle, ABS.

Alu-Gussräder: 3.50 x 17; 6.00 x 17
Reifen: 120/70 ZR 17; 190/55 ZR 17 (200/55 ZR 17)

Maße + Gewichte: Radstand 1405 mm, Lenkkopfwinkel 66,0 Grad, Nachlauf 102 mm, Federweg v./h. 120/120 mm, Sitzhöhe 855 mm, Gewicht vollgetankt 199 kg (200 kg), Tankinhalt 17 Liter.

Garantie: zwei Jahre
Farben: Blau, Rot (Silber)
Preis: 18.495 Euro (22.995 Euro)
Nebenkosten: 170 Euro

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MOTORRAD 12 / 2023

Erscheinungsdatum 26.05.2023