Porträt Claudio Castiglioni

Claudio Castiglioni Der Impresario und die italienische Motorradgeschichte

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Mehr als dreieinhalb Jahrzehnte nahm Claudio Castiglioni entscheidenden Anteil an der Dramaturgie der italienischen Motorradgeschichte.

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Claudio Castiglioni war in den letzten Jahrzehnten zweifelsfrei eine der schillerndsten Persönlichkeiten der italienischen Motorradindus-trie, die stets Impulse setzte. Und zwar nicht nur bei der Schöpfung neuer Produkte, sondern auch in Sachen Design und Technik. Am 17. August verstarb der 64-Jährige in seiner Heimatstadt Varese und hinterließ ein großes Vermächtnis.

Denn ohne ihn würde Ducati heute Dieselmotoren bauen, MV Agusta wäre nicht mehr als ein ruhmreicher Name in der Rennhistorie, Husqvarna würde Kettensägen und Nähmaschinen produzieren und Cagiva hätte nie existiert. Eine Ducati 916 oder MV Agusta F4 hätten nie Motorradfahrer beglückt und Rennfahrer wie Carl Fogarty, Doug Polen oder Troy Bayliss keinen einzigen Superbike-Weltmeistertitel auf Ducati geholt. Aber nicht nur in der Straßenszene, sondern auch im Offroad-Sport verdanken Fahrer wie Pekka Vehkonen, Dave Strijbos oder Jacky Martens ihre Motocross-WM-Titel dem Engagement von Claudio Castiglioni. Nicht zu vergessen die beiden legendären Paris-Dakar-Siege von Edi Orioli auf der Cagiva Elefant.

Die Leidenschaft für die Technik im Allgemeinen und für Zweiräder im Besonderen wurde schon früh geweckt. Am 22. November 1946, in der turbulenten Nachkriegszeit, erblickte Claudio Castiglioni das Licht der Welt. 1960 gründete sein Vater Giovanni eine Metallwarenfabrik, die Gegenstände für das alltägliche Leben, wie Nieten und Knöpfe für Hosen produzierte. Das Geschäft florierte als die Söhne Claudio und Gianfranco einstiegen, obwohl beide eine ganz spezielle Leidenschaft  teilten, nämlich die für Motorräder. Das war wenig überraschend, da die Region als Zentrum des zweirädrigen Motorsports galt. In unmittelbarer Nachbarschaft lag das Aermacchi-Werk, das einst Wasserflugzeuge produziert hatte und nun Motorräder herstellte oder MV Agusta, die zu jener Zeit unter Fahrern wie John Surtees, Mike Hailwood oder Giacomo Agostini die Weltmeistertitel in der 350er- und 500er-Klasse abonniert hatten.

Als MV Agusta 1976 den Rennsport einstellte, wollten die Castiglioni-Brüder den MV-Rennstall erwerben, doch Corrado Agusta zog es vor, MV in Frieden ruhen zu lassen, anstatt zwei reichen Kids den glorreichen Markennamen zu überlassen.

Nichtsdestotrotz erstanden die Castiglionis einen Suzuki RG 500-Production Racer, ließen ihn in den traditionellen Farben Rot und Silber lackieren und sponsorten Marco Lucchinelli in der 1978er-Grand Prix-Saison. Im selben Jahr übernahmen sie das alte Aermacchi-Werk von Harley-Davidson und benannten es nach ihrem Vater GIovanni CAstiglioni, VArese in Cagiva um. Doch sie reizte weniger die Modellpalette von Alltags-Zweitaktern, sie waren viel mehr am Harley-Davidson-Rennstall interessiert, für den in den vorangegangenen Jahren Walter Villa immerhin vier WM-Titel in den Klassen 250 und 350 cm³ gewonnen hatte. Der lieferte die Basis für ihr eigenes 500er-GP-Team, mit dem sie die japanische Konkurrenz in der Königsklasse herausfordern wollten.

Parallel dazu strukturierten sie das Motorradwerk zum größten italienischen Zweiradhersteller um. Cagiva entwickelte eine erfolgreiche Offroad-Palette und produzierte 40000 Motorräder pro Jahr. Gleichzeitig setzten sie 1980 unter Virginio Ferrari eine komplett in Varese entstandene 500er in der Königsklasse ein. Und obwohl sie Milliarden von Lire inves-tierten, sollte es bis zum 12. Juli 1992 dauern, bis Eddie Lawson im Regenrennen von Ungarn den ersten Grand Prix-Sieg für Cagiva einfuhr. 1994 überzeugte sein Nachfolger John Kocinski auch die letzten Zweifler an der Kompetenz von Cagiva, als er den ersten Lauf in Australien gewann und mit mehreren Podestplätzen die Saison als Dritter im Gesamtklassement beendete. Darauf zogen sich die Castiglionis aus dem Grand Prix-Sport zurück, der die Finanzen von Cagiva gewaltig belastet hatte.

Bereits 1983 steckte ein anderer italienischer Hersteller, Ducati, tief in der Krise. Weniger als 3000 Motorräder verließen pro Jahr das Werk. Der Eigentümer, die staatlich verwaltete VM-Gruppe, wandelte die Firma mehr und mehr in einen Hersteller von Diesel-Motoren um. Ducatis Zukunft sah ziemlich trübe aus, bis 1985 die Castiglionis das Werk übernahmen. Sie beauftragten Chef-Ingenieur Massimo Bordi, einen neuen Motor zu konstruieren, der bahnbrechend sein sollte. Der Desmoquattro der 851 war die erste Ducati-Schöpfung mit elektronischer Einspritzung, Wasserkühlung und vier Ventilen pro Zylinder, von je zwei obenliegenden Nockenwellen, selbstverständlich desmodromisch, gesteuert. Er bildete die Basis für eine Reihe von Triebwerken, die unter Fahrern wie Fogarty, Polen oder Bayliss bis heute nicht weniger als 13 Superbike-WM-Titel eingefahren haben.

Während sich Bruder Gianfranco allmählich aus dem Motorradgeschäft zurückzog, erwarb Claudio Castiglioni das kleine, aber feine Entwicklungszentrum des Bimota-Firmengründers Massimo Tamburini, womit eine fruchtbare Zusammenarbeit begann. 1988 übernahm er auch Husqvarna und etablierte die Marke in Varese. Sie sollte das Offroad-Segment von Cagiva ersetzen und feierte mit ihren Produkten Sporterfolge in Serie. So gingen in der Castiglioni-Ära nicht weniger als 21 Enduro-, drei Motocross- und fünf Supermoto-Weltmeistertitel auf ihr Konto. Und auch der Traditionshersteller Morini tauchte kurz im Cagiva-Portfolio auf, doch die Firma spielte im Firmenverband nur ein kurzes Intermezzo.

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Geschäftspartner: C.C. und Massimo Tamburini, Mitbegründer von Bimota.

Claudios persönliches Verständnis für aufregende Formgebung und der latente Wunsch nach Innovationen veranlassten ihn, Massimo Tamburini für eine neue Aufgabe zu inspirieren. Der schuf prompt ein solch bahnbrechendes Werk wie die Ducati 916. Doch finanzielle Probleme der Castiglioni-Familie verschonten auch Ducati nicht. Als 1997 die letzten Anteile an die amerikanische TPG Group übergingen, hatte Claudio Castiglioni eine bittere Pille zu schlucken. Doch zu jener Zeit konzentrierte er sich bereits auf den Reihenvierzylinder mit Radialzylinderkopf, der schon seit 1994 bei Cagiva entstand.

Als Claudio Castiglioni das sensationelle Tamburini-Projekt im November 1997 auf der Mailänder Messe präsentierte, sorgte dies für eine handfeste Überraschung. Er hatte die Rechte am Namen MV Agusta erworben und die Marke wiederbelebt - sein Jugendtraum war erfüllt. Doch der Produktionsstart der MV Agusta 750 F4 verzögerte sich, und erneut geriet Castiglioni in finanzielle Probleme. Die zwangen ihn schließlich im Dezember 2004 die Aktienmehrheit an den malaysischen Konzern Proton zu verkaufen. Der veräußerte seine Anteile nur wenig später an GEVI, eine Finanzgruppe aus Genua, bei der Castiglioni Minoritätsteilhaber war. 2007 verkaufte GEVI Husqvarna an BMW, um alle Resourcen auf MV Agusta zu konzentrieren, und das, obwohl Husqvarna Gewinne einfuhr. Claudio Castiglioni war von diesem Schritt tief enttäuscht und auch MV Agusta lief Gefahr, die Tore schließen zu müssen.

Doch wieder zog Claudio Castiglioni einen Trumpf aus dem Ärmel. Im Juli 2008 übernahm Harley-Davidson die Firma - genau 30 Jahre, nachdem die US-Marke  dem Italiener Aermacchi verkauft hatte. Harley setzte Castiglioni als Präsident von MV Agusta ein, und nun stand der Weiterentwicklung der Vierzylinder sowie der Neuentwicklung einer 675er-Dreizylinder nichts mehr im Weg. Der Optimismus dauerte nur ein Jahr. Der Zusammenbruch des US-Motorradmarkts während der Finanzkrise traf Harley-Davidson schwer. Die Amerikaner mussten Buell schließen und MV Agusta zum Verkauf feilbieten.

Mit Hilfe seines Sohnes und Geschäftspartners Giovanni zauberte der Chef ein letztes Mal ein Kaninchen aus dem Hut. Am 6. August 2010 gingen sämtliche MV Agusta-Anteile in den Besitz der Castiglioni-Familie über.

Zwei Monate später zelebrierte Claudio Castiglioni seinen letzten großen Bühnenauftritt bei der Vorstellung der atemberaubend schönen Dreizylinder-MV Agusta F3 auf der Mailänder Messe. Noch einmal blitzten seine Begabung für Dramaturgie und sein Sinn für Schönheit und Innovationen auf, bevor er für immer von der großen Zweiradbühne abtrat. Auch wenn der Firmenpatriarch nicht nur Höhen erklommen, sondern  auch  tiefe Täler durchschritten hat, konnte er immer wieder Trends setzen und mit Meilensteinen wie der Ducati 916 oder der MV Agusta F4 Motorradgeschichte schreiben.

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