Eine Rudge-verrückte Familie
Begeisterung über Generationen

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Wenn man in den USA Deutsche trifft, die sich in Kanada um englische Rudge kümmern, ist das ganz normal. Selbst, wenn der Vater mit den Söhnen auf den raren Rennern um die Wette fährt...

Begeisterung über Generationen
Foto: TSR

Die brennende Sonne über Alabama lässt an diesem Oktober-Samstag die Luft flimmern, dröhnende Motoren die Erde beben, eifriges Gewusel das Fahrerlager leben – das Barber Vintage Festival gehört zu den ­großen Zugnummern der US-Oldieszene (siehe MOTORRAD Classic 2/2014). Mittendrin im riesigen Fahrerlager bleibt mein Blick an einer rabenschwarzen Rudge Ulster aus den 1930er-Jahren hängen. Hhmm, hab ich den Ein­zylinder-Renner jemals zuvor gesehen? Ich kann mich nicht erinnern. Über dem 75 Jahre alten Single wedelt ein Banner im warmen Wind, www.rudge.co.uk steht darauf.

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Begeisterung über Generationen
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Der perfekte Zustand der schwarzen Schönheit zieht mich magisch an. Als ich das mechanische Kunstwerk bewundere, nähert sich ein dramatisches Röhren und Stampfen, hämmert sich unter die Schädel­decke. Es ist eine weitere glänzende Rudge, eine TT-Replica mit offenen Megafonen. Staunen garantiert! Der Fahrer bittet mich, ihm beim Aufbocken zu helfen. Fahreranzug, Stiefel und Handschuhe sind perfekte Repliken im Stil der  30er-Jahre, nur der Helm ist aus aktueller Produktion. „Ist leider Vorschrift“, entschuldigt sich der Pilot. Und stellt sich vor: „David Sproule aus Kanada, nice to meet you!“

Die Begeisterung für Rudge hält über Generationen

Wir kommen ins Gespräch. Tropfender Vergaser? Ganz normal, kein Grund zur Besorgnis: „Das Gemisch der Rennvergaser muss man vor dem Start regulieren.“ Wenn ich mehr über Rudge wissen wolle, solle ich noch kurz warten. Dann könne ich mich auch auf Deutsch unterhalten. Wie jetzt, 7500 Kilometer von zu Hause entfernt? Da bebt die Erde erneut: Drei weitere der raren britischen Renner rollen ins Fahrerlager.

Als der erste Fahrer seinen Helm abnimmt, kommt ein schlanker junger Mann zum Vorschein. „Hi, I am Peter“, stellt sich der 21-Jährige vor. Ich bin überrascht, so einen Jüngling auf einem Motorrad von 1937 zu sehen. Stark. Fast seine ganze Familie fahre hier. Als er mich als Deutschen erkennt (nicht schwer bei dem Akzent), schaltet Peter plötzlich auf Deutsch mit amerikanischem Einschlag um: „Mein ­Vater spricht noch Düsseldorfer Platt.“ Was Ingo, sein alter Herr (67), sogleich ­unter Beweis stellt.

Er kommt ebenfalls gerade von der bildschönen, 3,7 Kilometer langen Strecke zurück, schält sich aus dem schwarzen Einteiler. „Isch bin 1980 nach Kanada ausjewandert, weil man da einfach mehr Ellbogenfreiheit hat. Und weil datt Land so schön iss.“ Seine Familie wohnt in Ontario, Peter ist in Kanada geboren. „Tja, vor 33 Jahren kam ich mit einem ganzen Container in Kanada an“, erzählt Papa Ingo, „darin waren haufenweise Teile und ­Maschinen, Bohrwerke und eine Kern-Drehbank. Und natürlich die 1938er-­Ulster meines Vaters.“ Die Begeis­terung für Rudge lebt diese Familie also über Generationen hinweg.

Rennen und Restaurieren

Stanley, der zweite Sohn (36), fährt ­eine 1935er-TT-Replica mit Doppelvergaser. Das gibt’s doch nicht, Vater und zwei Söhne zeitgleich in einem Rennen, alle drei auf äußerst raren 500er-Rudge-Modellen! Vermutlich gibt es weltweit nur wenige Hundert. Und hier stehen gleich sechs Rudges zusammen – darunter eine ­eierschalenweiße Rudge Multi von 1913. Volles Programm. Restaurations-Experte Ingo Reters freut sich: „Heute steht für uns das Fahren im Vordergrund, für den Spaß an der Freud.“ Zum ersten Mal ist seine Familie hier, und er war gleich Dritter in seiner Rennklasse. „Fast sogar Zweiter!“

Witzig feixen die drei – der Dad fuhr am weitesten nach vorn! Alter und Erfahrung sind eben doch ein Pfund. Ingo ist erleichtert, dass es Peter auf der Bilderbuch-Rennstrecke vorsichtig anging, sich selbst und die seltene Ulster heil wieder zurückbrachte: „Bei einem Sturz hätte ich dich nach Südafrika verbannt, möglichst weit weg.“ Nun fachsimpeln die drei. „Du fühlst, wie der Motor mit Spätzündung in die Knie geht“, berichtet Peter. Sein älterer Bruder erklärt, wie man sich das zunutze machen kann: „Beim Reinbremsen in ­Kurven Zündung zurücknehmen, beim Rausbeschleunigen Frühzündung geben.“ Mein Finger streicht über einen rundlich-sinnlichen Satteltank. „Die baut uns ein Freund nach originalen Rudge-Zeichnungen“, sagt Peter beiläufig.

Eine kurze, aber dramatische Geschichte

Ansonsten macht diese Rudge-verrückte Familie mit ihrer Firma „Reters ­Restorations“ jedoch fast alles selbst an den Rennern, vom Zylinder über die Kurbelwellen und Getriebe bis zum Tankdeckel (siehe Interview). Hier sind echte Enthusiasten am Werk. „Ich hatte schon immer Engländer, vor allem BSA Gold Star“, sagt Ingo. Was der besondere Reiz von Rudge sei? „Nun, Rudge hatte eine kurze, aber dramatische Geschichte, baute nur von 1910 bis 1939 Motorräder. Technisch war die Marke weit vorne, hat immer viel ausprobiert, das war wirtschaftlich auch ihr Problem. Rudge verbaute bereits ab dem Jahr 1924 kopf­gesteuerte Vierventilmotoren mit Stoß­stangen und Vierganggetriebe. Four speed, four valves – das war doch irre zu dieser frühen Zeit!“

Rudge hatte nur wenige Zweiventiler im Programm. „Ab 1926 gab’s gekoppelte Vorder- und Hinterradbremsen, ab 1932 Fußschaltung“, erklärt Ingo. Den sportlichen Nimbus der Marke begründeten sensationelle Rennerfolge, wie etwa der Dreifachsieg der 350er bei der Junior-TT 1930. Peter, Mechaniker-Azubi bei BMW in Kanada, weist das Greenhorn aus Germany in die Rudge-Historie ein: „Ulster heißen die Maschinen, weil Rudge mit Graham Walker beim Ulster-GP 1928 als erste Marke einen Sieg mit einem Schnitt von 80 Meilen pro Stunde, also knapp 130 km/h, holte.“ Fortan war die Ulster mit Vierventilkopf und zwei weit gespreizten Auspuffkrümmern die käufliche Supersportmaschine für jedermann.

Piekfein restaurierte Multi von 1913

Ab 1930 hatten die Werksrenner halbkugelförmige Brennräume mit vollradialer Ventilanordnung und offenen Ventilfedern. „Dagegen waren die semiradialen Köpfe ab 1937 geschlossen“, erklärt Peter, „die Auslassventile standen radial, die Ein­lassventile parallel.“ Papa Ingo erläutert die auffälligen Bronze-Köpfe der ­zivilen Ableger: „Die Qualität des Alugusses war in den 30er-Jahren noch bescheiden.“ Daher kam Bronze zum Einsatz, golden schimmernd, aber viel schwerer. „Bronze leitet die Wärme ähnlich gut ab wie Alu und ist dabei sehr elastisch.“

Umgekehrt hielt das Werk an manchen Bauprinzipien fest, etwa der Gabel-Konstruktion und dem Verhältnis von Bohrung zu Hub, und das über Jahrzehnte. Stanley weist mich in die Feinheiten der piekfein restaurierten Multi von 1913 ein. „Damit fuhr ihr Besitzer Kevin Grubb beim Century Race auf den dritten Platz“, erklärt er stolz. Das war ein Rennen für mindestens hundert Jahre alte Maschinen, von denen etliche aussahen, als wären sie gerade vom Band gelaufen. „Für Kevin Grubb haben wir die Maschine vor einigen Jahren komplett restauriert.“

TT-Sieg auf der Isle of Man

Aus der 85er-Bohrung mit damals kurzen 88 Millimeter Hub resultierten 499 Kubik. Der Halbliter-Single mit Einlass über dem Auslassventil war für 7,5 PS bei 2000 Touren gut. Er steht da wie am ersten Tag. „Solch ein Motorrad holte 1914 einen Senior-TT-Sieg auf der Isle of Man“, weiß Stanley. Den Namen Multi erhielt es wegen der komplexen Kraftübertragung zwischen Motor und riesigem Hinterrad: „56 Kupplungsscheiben und insgesamt 21 Gänge in Form einer verstellbaren Riemenscheibe setzen den langen Antriebsriemen in Bewegung.“

Mister Barber persönlich, Gründer des weltgrößten Motorrad-Museums, machte am Morgen den wilden Rudge-Reitern sei­ne Aufwartung. „Er bedankte sich für unser Kommen, die 1000 Meilen lange Anreise mit "tollen Motorrädern", freut sich Ingo Reters. „Das will was heißen.“

Interview mit Ingo Reters

Hicks
Ingo (rechts), Peter (Mitte) und Stanley Reters leben und lieben Rudge – beim Schrauben und Fahren.

Wie bist du auf die Rudge gekommen?

Reters: Diese Marke war meine Initialzündung bei Motorrädern. Mein Vater kaufte 1938 eine Ulster beim Düsseldorfer Händler Jörgens, für 1200 Reichsmark. Das war damals das Schnellste, was man auf der Straße fahren konnte: Das Werk garantierte 100 Meilen pro Stunde, 160 km/h! Das war selbst Ende der 50er-Jahre ein Top-Wert. Die Ulster versteckte mein Vater in Einzelteilen vor dem Kriegseinsatz. Mit diesem Motorrad wuchs ich somit auf. Dieses Exemplar habe ich dann  1980 mit nach Kanada genommen. In den 50er-, 60er-Jahren wohnten wir in Düsseldorf-Lichtenbroich, dort, wo heute der Flughafen ist. Der Freund meines Vaters, Werner Ehlen, hatte eine Imperia aus Bad Godesberg, mit Rudge-Einbaumotor, „Python” genannt. Aus dieser Zeit habe ich meinen Rudge-Fimmel, deren Vierventiltechnik finde ich bis heute faszinierend.

Wie wurdest du selbst zum Rudge-Experten?

Reters: Bereits Anfang der 60er-Jahre half ich mit bei Res­taurierungen, etwa einer originalen Hildebrand & Wolfmüller oder eines seltenen Krupp-Rollers. Seit Mitte der 70er-Jahre erstelle ich mir Ersatzteile selbst. Zunächst fertigten wir Rudge-Teile für uns, als Hobby. Doch mit der Zeit wurde daraus ein „sideline business”, ein echter Nebenerwerb. Ich hatte schon in Düsseldorf meine eigene kleine Firma „Ingo Reters Maschinenbau”, kurz IRM, baute ausgefallene Einzelteile. In Kanada machen wir vor allem Cosworth-Rennmotoren und Prototypenbau für Flugzeug- und Fahrzeugteile. Wir haben eigene Vierachs-CNC-Dreh- und Fräs-Bearbeitungszentren, unser Ding ist die anspruchsvolle mechanische Bearbeitung. Mein Sohn Stan programmiert die Maschinen je nach Anforderung ganz individuell.

Was ist typisch für Reters Restorations?

Reters: Wir kamen durch den Rudge Club an historische Konstruktions-Zeichnungen. Und können daher die wichtigsten Teile nachbauen. Etwa komplette Getriebe, vor allem für Rennzwecke, inklusive aller Zahnräder. Aber auch Kipp- und Schlepphebel. Das sind teure Teile, die sich nicht lohnen, wenn man nur zwei oder drei davon macht, sondern erst in Kleinserien von mindestens 20 oder 30 Stück. An sich sind wir eher spezialisiert auf spätere Rudges, haben aber auch die 100 Jahre alte Multi komplett restauriert.

Und was sind eure „Spezialitäten“?

Reters: Wir gießen Zylinderköpfe selbst oder fräsen sie aus dem Vollen nach. Zylinder bieten wir mit Laufbuchse oder Nikasil-beschichtet an, ganz nach Wunsch. Zudem fertigen wir eigene Kurbelwellen, verpresst mit zehn Tonnen Druck, original waren sie anfällig verschraubt. Aus Jux und Dollerei haben wir auch schon eine Acht-Schuh-Bremse mit kleinen Einzelbelägen gebaut. Ein wenig stolz sind wir auf unsere Repliken der Brumm-Rudges mit zwei Vergasern. Nur dass wir den 500er-Motor damit bestücken und nicht – wie der Berliner Brumm seinerzeit – den 350er. Der große Single hat damit richtig Dampf – man spürt den Hammer unter dem Tank!

Wo sitzen eure Kunden gewöhnlich?

Reters: Nicht nur in Kanada. Durchs Internet und über den Rudge Club liefern wir Ersatzteile weltweit, bis Europa, Australien und Neuseeland. Komplett-Restaurierungen gehen naturgemäß bloß vor Ort. Vor Kurzem ließ ein Anwalt aus Texas seine Rudge mehrere Tausend Meilen zu uns bringen. Für europäische Besitzer lohnt sich der Transport in der Regel leider nicht.

Wie verteilt sich die Nachfrage auf die unterschiedlichen Baureihen und Modelle?

Reters: Weltweit sind noch etwa 1200 Rudges im Rudge Club registriert, davon vermutlich 50 Prozent in Teilen. Eine Rudge steht nicht bei Ebay oder mobile zum Kauf. Wie will man bei so knappem Angebot seriös den Markt beurteilen? Aber Ulster genießen wohl das höchste Renommee.

Und wie liegen die Preise für eine Rudge?

Reters: Bei so einem geringen Angebot gelten bei jedem Kauf eigene Gesetze. Classic-tax aus Bochum ermittelte laut MOTORRAD Classic für gepflegte Exemplare in Deutschland folgende Preise für Straßenmaschinen: Standard 350 etwa 8400 Euro, 500 Special rund 14.100 Euro, 500 Ulster zirka 15.600 Euro. Rennmaschinen sind jedoch deutlich teurer, gute Exemplare kosten gut 20.000 bis knapp 30.000 Euro.

Die aktuelle Ausgabe
MOTORRAD CLASSIC 6 / 2023

Erscheinungsdatum 05.05.2023