Endurance-WM in Oschersleben
Reine Nervensache

Acht-Stunden-Rennen sind ein heikles Zwischending zwischen Endurance- und Sprintwettbewerb. Das war auch beim Langstrecken-WM-Lauf in Oschersleben so. Sonst folgt der Tortur eine große Party, doch die fiel dieses Jahr aus.

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Foto: Felix Wissmann

Punkt 12.00 Uhr erfolgt der Le Mans- Start. Ganz vorn an der Boxenmauer steht die schwarze R1 vom Team Monster Energy Yamaha. Doch Markus Reiterberger ist noch schneller als Broc Parkes zu seinem Motorrad gerannt und übernimmt auf der BMW vom Team Penz13.com die Führung. Der Bayer will es wissen. Den IDM-Superbike-Titel hat er vorzeitig in der Tasche, ein Sieg in der Langstrecken-WM wäre auch nicht übel. Doch die acht Stunden werden zur Zerreißprobe. Teamkollege Bastien Mackels fällt im zweiten Turn zurück, deshalb soll Reiterberger gleich noch mal ran. Er ist erst zur Hälfte in seiner Kombi drin, da kommt Mackels ohne Vorwarnung früher als gedacht an die Box. Der Reifen ist platt und die Spritberechnung nicht aufgegangen. Der Belgier hätte noch draußen bleiben können. Auch wenn die BMW ein echter Bayer ist: Sie säuft wie ein Loch. Alles schreit und springt im Zickzack. Reiterberger zieht den Reißverschluss hoch, schnappt seine blauen Ohrstöpsel, Helm auf und los. Die Handschuhe zieht er auf dem Weg zum Motorrad an. Die Zeit läuft. Die Räder sind in 7,2 Sekunden gewechselt, der Tankmann kommt aus dem Hintergrund gesprungen. Den Pit-Stopp hat das Team im Training bis zum Erbrechen geprobt. Doch so einer war nicht geübt worden. Die Lage beruhigt sich endlich. 

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Es dauert keine fünf Minuten, bis ein Computertechniker von seinem Stuhl aufspringt und brüllt: „Er kommt!“ Auf den Streckenbildschirmen ist deutlich zu erkennen, dass Reiterberger Richtung Box abbiegt. Das darf nicht wahr sein. Panisch sucht jeder Helfer nach seinen Handschuhen. Plötzlich heißt es: „Fehlalarm.“ Auf Eurosport 2 lief gerade eine Wiederholung von Turn eins. Aber nun ist auch der Letzte in der Box hellwach. Aus der Münchner BMW-Zentrale ist ein Großaufgebot angereist: Berti Hauser, Technischer Direktor von BMW Motorrad Motorsport, und Udo Mark, der Marketing-Direktor. Dazu zwei Mechaniker. In Suzuka war nur einer, aber die acht Stunden von Oschersleben lässt sich keiner entgehen. „Wir wollen uns ein Bild von der Gesamtsituation machen“, sagt Ex-Rennfahrer Mark. Das Team von Rico Penzkofer ist ein Kundenteam. Das heißt: Es gibt technische Unterstützung, kommunikative Hilfe und Punkte in der weltweiten BMW-Trophy. „Der Endurance-Weltmeisterschaft ist vielleicht etwas mehr Aufmerksamkeit gewidmet als anderen Serien“, gibt Mark zu. Außerdem sitzt ja mit Reiterberger der neue Superbike-Champion im Sattel. Dass das Ziel des 21-Jährigen allerdings Superbike-WM und nicht Langstrecke heißt, ist klar. Ob sein Superbike-Wunschprojekt 2016 mit BMW-Unterstützung stattfindet, ist weiter ungewiss. „Es ist logisch, dass wir alles daran setzen“, so Mark, „aber wir können uns nicht einbilden, im August zu wissen, was nächstes Jahr passiert. Wir arbeiten daran, aber an unserem Kundenprogramm wird sich deshalb nichts ändern.“ So bleibt Reiterberger also weiter in der Warteschleife. 

Nach sieben Stunden liegt das Team BMW Motorrad France Penz13.com, das den größeren Etat aus Frankreich bezieht und deshalb so heißt, auf dem dritten Platz. Das sieht gut aus. Reiterberger kommt zum letzten Stopp an die Box und übergibt an Mackels. Und meldet gleich an, dass die Kupplung spinnt. Das Problem: Die YART-Yamaha auf Platz vier befindet sich in der gleichen Runde. Aber es hilft alles nichts. Mackels kriegt noch einen Umlauf hin und kommt zurück. Die Kupplung ist endgültig hinüber und muss getauscht werden. Die Prozedur dauert nur fünf Minuten, aber der dritte Platz ist damit 40 Minuten vor dem Ende des Rennens weg. Nach acht Stunden, Platz sechs und etlichen Falten mehr im Gesicht liegen sich trotzdem alle in den Armen. Reiterberger, Mackels und Pedro Valcaneras haben die S 1000 RR ins Ziel gebracht. Nur Teamchef Penzkofer hat schon einmal glücklicher ausgesehen. 

Das GMT 94-Team lässt sich am Ende des Tages als Sieger feiern. Damit sind die Franzosen, für die auch der IDM Superstock 1000-Erste Mathieu Gines fährt, der Titelverteidigung wieder ein großes Stück näher gekommen, nachdem sie mit dem sechsten Platz in Suzuka viele Punkte auf das derzeit führende SERT-Suzuki-Team eingebüßt hatten. Seit Oschersleben trennen beide vor dem Finale beim legendären Bol d’Or am 19. September in Le Castellet nur 13 Punkte.

Es war der reinste Wahnsinn, was sich in den letzten Runden abspielte. GMT 94 führte eine Viertelstunde vor Schluss mit 40 Sekunden Vorsprung vor SERT. Aber die Suzuki knallte noch unglaubliche Zeiten hin und war in jeder Runde eine Sekunde schneller als die Yamaha. Was trotzdem nicht mehr für den Sieg reichte. 

Auf dem dritten Platz wurde deutsch gesprochen. Die Zielankunft war ein Befreiungsschlag für die YART-Truppe des Österreichers Manfred „Mandy“ Kainz. Es war die erste in diesem Jahr. „Im Training sind wir die Schnellsten, aber sobald das Rennen anfängt, kommen Probleme, die wir noch nie hatten. Meine Frau sagt schon, dass wir eigentlich nur eine Runde fahren müssten und uns den Rest sparen könnten.“ Bei YART ist seit dem Gewinn des Weltmeistertitels 2009 der Wurm drin. Auch in Oschersleben war es nicht anders. In der Einführungsrunde stimmte noch alles, aber nach dem Start fiel bei Broc Parkes die komplette Elektronik aus. Später schmiss der Australier die Yamaha auch noch weg. An der R1 flogen die Fetzen. Kainz schwante Übles, doch zur allgemeinen Überraschung ließ sich das Motorrad diesmal reparieren. 

Das renommierte Bolliger-Team aus der Schweiz, in dem IDM Superstock 1000-Mann Roman Stamm fährt, erwischte es nach vier Stunden und zwölf Minuten. Das Trio wurde nach einem Sturz von Horst Saiger nach hinten durchgereicht. Schuld war die Wassertemperatur im Kühler. Schon im ersten Turn kochte das Wasser der Kawasaki auf 100 Grad, im zweiten waren es schon 120. Beim Nachfüllen schwappte etwas über. Saiger rutschte beim Rausfahren auf der eigenen Suppe aus. In der Gesamtwertung ist das Team trotzdem noch Dritter. „Oschersleben ist irgendwie immer speziell“, resümierte Roman Stamm. „Es ist unser Heimrennen. Die acht Stunden reichen auch völlig aus. Die 24-Stunden-Klassiker sind schon arg streng.“ Der Bezahlsender Eurosport 2 will die Langstrecken-WM 2016 von momentan vier Events auf sechs bis acht Veranstaltungen ausweiten und live übertragen. Stamm glaubt: „Es werden maximal zwei bis drei 24-Stunden-Rennen darunter sein.“ Die SRC-Kawasaki mit Gregory Leblanc, Matthieu Lagrive und Fabien Foret schaffte es in der MotorsportArena nicht ins Ziel und packte nach drei Stunden mit Ventilschaden am Motor ein. 

Wie üblich taten sich bei der deutschen WM-Runde jede Menge deutsche Fahrer zusammen. IDM-Superbiker Dominik Vincon verbündete sich mit den Superstock 1000-Piloten Stefan Kerschbaumer und Marco Nekvasil im Völpker-Team. Sie starteten in der Stocksport-Klasse. Für Vincon und Kerschbaumer war es die Premiere auf der Langstrecke. Je nach Boxenstopp lag das Trio auf dem ersten oder zweiten Platz in seiner Wertung. Dann stürzte ausgerechnet der erfahrene Nekvasil. Beim Einbiegen in die Kurve rutschte ihm das Vorderrad weg. Vom Tank bis zum Kühler waren alle Anbauteile an der BMW Schrott. Nach 20 Minuten war das Motorrad repariert, aber das Team auch auf den 24. Platz zurückgefallen. „Bis dahin lief es richtig geil. Wir waren unmittelbar am Suzuki Junior Team dran und hatten eine Runde Vorsprung auf den Drittplatzierten. Theoretisch hätten wir noch einen ganz entspannten Boxenstopp ein­legen können“, meint Vincon. Falls die Truppe auch beim Bol d’Or startet, dann in der genau gleichen Besetzung. 

In der Open Klasse wurde IDM-Supersportler Jan Bühn als Startfahrer auf der ­Aprilia RSV4 Factory bei Aprilia Grebenstein gesichtet. Bühn saß geschlagene vier Stunden auf dem Bock, fast so lange wie während einer ganzen IDM-Saison. Aprilia Grebenstein konnte die Open Klasse im dritten Anlauf zum ersten Mal gewinnen.

Die angekündigte Live-Band im Infield und die große Party wurden allerdings abgesagt. Unmittelbar vor dem Endurance-Rennen hätte der ADAC Junior Cup fahren sollen. Dabei war es in der Nachwuchsklasse zu einem tragischen Startunfall gekommen, in den vier Fahrer verwickelt waren. Der 15-jährige Jonas Hähle erlitt schwerste Verletzungen. Die Rettungskräfte waren sofort zur Stelle. Die düsteren Vorahnungen wurden am Abend traurige Gewissheit. Auch eine Notoperation hatte das Leben des Sachsen nicht mehr retten können. 

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Erscheinungsdatum 15.09.2023