Kurven sind Kunstwerke. Wo sich Linien krümmen, entstehen Spannung und Intensität. Ein subjektiver Blick auf das famose Spiel mit Gravitation und Fliehkraft.
Kurven sind Kunstwerke. Wo sich Linien krümmen, entstehen Spannung und Intensität. Ein subjektiver Blick auf das famose Spiel mit Gravitation und Fliehkraft.
Ein Planet ohne Kurven wäre nicht nur sterbenslangweilig, sondern auch widernatürlich. Denn selbst die unendlichen Distanzen des Universums sind gekrümmt. Auch in der nicht immer gradlinigen Biografie des Autors waren Kurven von Anfang an so wichtig wie schockierend: Denn nicht alle Kurven habe ich gekriegt, viele endeten ungeschmeidig. Mal mit Fahrrad in einem Ford, mal mit Mofa an einer Mauer.
Die Jugend fordert das Ausloten von Grenzen. So blieb das Thema „überhöhte Geschwindigkeit“ im Zusammenhang mit Kurven noch lange relevant. Eine Kehre zog sich so hinterhältig zu, dass ich die geliehene Suzuki GSX 750 mit gewaltigem Geschwindigkeitsüberschuss geradeaus über eine Bordsteinkante in den Wald brechen lassen musste. Links und rechts zischten die Bäume vorbei, ehe die Suzi zum Stehen kam. Schaden? Gestauchte Gabel, eingedellte Krümmer und ein Knick in der Psyche. Dessen Effekte wirkten leider nicht lange genug, um zu verhindern, dass ich in der Schweiz mit einer Yamaha FZR 750 aus einer Passkurve flog.
Zu den physikalischen Gesetzmäßigkeiten, denen das Motorrad samt Fahrer in Kurven ausgesetzt ist, gibt es ausreichend kompetente Quellen. In diesem Text soll es mehr um Erlebnisse gehen, die Fliehkraft und Gravitation auslösen. Seelisch, geistig, körperlich. Jeder Motorradfahrer weiß, wie beglückend es sein kann, anspruchsvolle Kurven schnell und unversehrt durcheilt zu haben. Der Ideallinie in Wechselkurven folgen zu können. Beweise dafür zu bekommen, dass man die Straße richtig gelesen, den Grip des Asphalts korrekt antizipiert, das Kurvenverhalten der eigenen Maschine einfach intus hat.
Kurven sind das Spiel mit dem Grenzbereich. Was du dich traust, was dein Motorrad kann, wo die Haftgrenze der Reifen liegt. Hier liegt die Chance für lebenslanges Lernen. Auf der Rennstrecke ganz besonders, weil hier für jene Fahrer, die Mut, Instinkt und Kraft mitbringen, meistens Sturzraum vorhanden ist. Und das Thema Kurve hinsichtlich Speed und Schräglage in eine neue Dimension gehoben wird. Wer keine Lust auf „learning by doing“ inklusive Stürzen hat, kann Kurvenkompetenz auch in Trainings erlangen. Was man hier über Blickführung, Ideallinie, Psyche und Fahrphysik lernt, ist von unschätzbarem Wert. Die wichtigste Schlüsselqualifikation aber lautet Erfahrung. Jede Kurve mehrt diesen Schatz.
Bei Richtungsänderungen stellt jeder Motorrad-Typ andere Herausforderungen an den Fahrer und wirft Fragen auf, die unbewusst abgearbeitet werden: Wie viel Schräglage geht, bevor tragende Teile aufsetzen und dich aushebeln können? Wie ist das Motorrad ausbalanciert, wie die Schwerpunktlage? Ist das Fahrwerk hart oder weich? Bremst du stärker vorn oder hinten? Wann führt Bremsen oder Gasanlegen zum Aufrichten? Wie setzt du deinen Körper ein, um das Motorrad erfolgreich durch die Kehre zu begleiten?
Das Geniale ist: keine Kurve ist gleich. Selbst wenn du dieselbe Kurve mehrmals durchfährst, die Ideallinie präzisierst, an derselben Stelle rausbeschleunigst, fühlt sie sich eine Nuance anders an. Das Glücksgefühl der Kombination von Schräglage und Richtungsänderung ist intensiv. Und wenn ich als motorradfahrender Globetrotter schon drei Wochen Pisten in den Knochen habe, voll beladen und mit der besten aller Sozias hinter mir: Die Windungen der Wege machen immer noch und immer neu Freude. Selbst wenn die schwere Fuhre mal auf rutschigem Untergrund über das Vorderrad an den Pistenrand drängt. Und ich sie nicht wie früher mit jugendlicher Frische lastenlos allein auf dem Moped einfach durch einen Gasstoß oder eine Schleuderbremsung wieder in die richtige Richtung anstellen kann. Wenn nur noch eine Mischung aus zart umlegen, bremsen, auskuppeln oder runterschalten, jeden noch so feinen Anlieger nutzen und beten hilft.
Manchmal bringen Kurven mich ans Ende meiner Kräfte. Dann leitet mich nur noch eine geheime Kraft aus Instinkt und Willen. Dann will ich nur noch ankommen und werde blind für die Überraschungen, die hinter jeder Biegung lauern können. Doch spätestens am nächsten Tag erlebe ich, welche Kraftquellen Kurven sein können. Weil sie Perspektivwechsel bedeuten und damit grandiose Reize für die Sinne.
Und ja, auch Ausweichmanöver sind kleine Kurven. Hier sind besonders in den Weiten Afrikas, Asiens und Südamerikas immer wieder Kunststücke am Lenker gefragt, weil jeden verdammten Tag zahllose Lebewesen vor dein Vorderrad rennen. Den Hund im Himalaya konnte ich noch austricksen, das große Lama in Bolivien war fixer als meine Reaktionen. Die auf der traktionslos überflogenen Wellblechpiste ohnehin nicht geholfen hätten. Anschließend beschrieben wir ein paar hübsche Kurven in der Luft (siehe "Motorradreise Altiplano Chile und Bolivien"). Deren Folgen zu einigen Schlenkern in der Gesundheitsbilanz führten. Aber ist es nicht echte Kurvenliebe, wenn man auch nach Unfällen wieder aufsteigt und die Kehren wieder aufsucht? Die weiten, die engen, die sich zuziehenden, die sich öffnenden, die steil nach unten oder oben führenden? Eben all jene Kunstwerke zum schwindlig fahren.
Johannes Müller, jüngster Testredakteur bei MOTORRAD, drückt seine Liebe zum Kurvenfahren so aus: „Kurvenfahren ist die Essenz des Motorradfahrens, und in vielerlei Hinsicht eine Metapher für das Leben an sich. Eine Gerade mag die kürzeste, effizienteste Verbindung zwischen zwei Punkten sein. Eine Aneinanderreihung von Kurven aber ist die sinnlichste. Kurve, das ist das Spiel mit Schräglage und Grip, Risiko und Vertrauen. Unendlich tief kann man in dieses Spiel eintauchen. Und man kann vor Kurven genauso wenig flüchten wie vor dem Leben. Die perfekt getroffene Kurve ist ein bis ins kleinste Detail durchorchestrierter Vorgang: Vorausschauend den Weg sichten, Linie zurechtlegen, Geschwindigkeit anpassen, einlenken, die Linie halten, Korrektur, wenn nötig. Und dann im richtigen Moment Gas. Jeder einzelne dieser Aspekte will geübt sein. Im besten Fall stellt sich der Flow ein, Schwerelosigkeit, das ‚Ich’ verschwindet, Fahrer und Kurve werden eins. Ein Moment höchsten Glücks.“ Applaus, Johannes!
Vor einer Linkskurve lenken wir zunächst leicht nach rechts. Dieser Lenkimpuls ist notwendig, damit die Fliehkraft das Motorrad nach links in Schräglage kippen kann. Je größer der Lenkimpuls, desto abrupter klappt die Maschine ab. Auf einem leeren Parkplatz lässt sich das prima testen.
Bei 15 Grad Schräglage ist der Lenker mit zirka zwei Grad relativ weit eingeschlagen. Meist muss der Fahrer dann mit Gegendruck am kurveninneren Lenkergriff arbeiten, weil der außermittige Radaufstandspunkt die Lenkung nach innen verdrehen möchte. Das Motorrad würde sich aufrichten.
Mit 30 Grad Schräglage ist man bei trockener Straße auf der sicheren Seite. Zu sehen daran, dass die Fliehkraft (rot) deutlich kleiner ist als die Schwerkraft (gelb). Gut zu erkennen: Der Reifenaufstandspunkt wandert mit steigender Schräglage an die kurveninnere Reifenflanke.
Bis zu 50 Grad Schräglage sind möglich, weil sich moderne Sportreifen mit dem Asphalt regelrecht verzahnen. Jetzt verringern sich Lenkwinkel und somit die Lenkkräfte, der Fahrer hat die sogenannte kraftneutrale Kurvenfahrt erreicht. Fliehkraft und Schwerkraft wirken gleich stark.
Der Reifen ist die Schnittstelle zwischen Straße und Motorrad. Was passiert in Kurven?
Die Reifenaufstandsfläche, der sogenannte Latsch (rot), stellt den Kontakt zwischen Straße und Motorrad her. Die Skizze zeigt einen 180er-Sport-reifen mit spitzer Reifenkontur in 48 Grad Schräglage. Aus etwa 38 Quadratzentimetern Kontaktfläche ergibt sich die Seitenführungskraft des Reifens. Meist hat gerade mal ein Reifenteil von der Größe einer Kreditkarte Bodenkontakt.
Bei zu niedrigen Reifentemperaturen kann es bei speziellen Gummimischungen, zum Beispiel für den Sporteinsatz, zum sogenannten Glasverhalten kommen. Das Gummi ist zu hart, um sich mit der rauen Oberfläche zu verzahnen (blau). Erst mit steigender Temperatur bildet die warme Lauffläche des Reifens (rot) einen nahezu formschlüssigen Kontakt zur Straße.
Jahr für Jahr sind unsere Fotografen unterwegs, um die besten Kurvenstrecken aufzuspüren. Einer von ihnen hat nun ein ganzes Buch der Kurve gewidmet.
Infos: Gerhard Eisenschink ist den MOTORRAD-Lesern als bewährter Autor für Reisereportagen und als Fotograf bekannt. In seinem neuen Buch DIE KURVE heißt es: „Literarisch-fotografisches Anti-Depressivum und Mittel bei Morbus Curva, dem Kurvenfieber“. Das wohl weltweit erste Motorradbuch mit medikamentenmäßigem Beipackzettel, auf dem vor „bis ins Zwanghafte gehenden Wunsch nach Kurvenfahrten und die Ablehnung gerader Strecken“ gewarnt wird. Außer dieser humorvollen Beigabe setzt das Buch aber ernsthafte Akzente bezüglich der Kurve und lässt sie aus wissenschaftlicher, emotionaler, aber auch philosophischer Sicht von erlesenen Gastautoren beleuchten. So nennt Archäologe Harald Braem das Rund, den Kreis, die Kurve, „das natürlichste und zutiefst menschlichste Signal, das existiert. Eine Art Urlogo für das Leben“.
Ein Altstraßenforscher hingegen belegt, dass bis ins 19. Jahrhundert die Kurve auf Straßen und Wegen ein Schattendasein führte, weil man sich wegen des höheren baulichen Aufwands lieber auf fast senkrechten Wegen die Berge hochquälte. Die gestiegenen Ansprüche eines motorisierten Verkehrs brachten dann die technisch perfekte Kurve hervor, auf der wir uns heute als Motorradfahrer so sportlich bewegen. Ein Straßenbauer erklärt das Know-how zum Kurvenbauen. Natürlich muss in diesem Buch auch ein Fahrtrainer zu Wort kommen. Darüber hinaus berichtet der MOTORRAD-Technik-Redakteur Werner Koch als Rennfahrer über „Kurven auf der letzten Rille“. Doch auch kritische Stimmen lässt DIE KURVE zu Wort kommen. Ein Beifahrer spricht über Kontrollverlust und Vertrauensbildung. Bei der großen Bandbreite von Aspekten, die dieses Buch zum Thema Kurve bietet, ist der Text eines Mönchs aus einem buddhistischen Kloster sicher einer der überraschendsten. Unterlegt hat Gerhard Eisenschink das Buch mit seinen besten Bildern aus 25 Jahren Kurvensuche. Dazu gibt es Aphorismen zu Kurven und Reisen, über das lustvolle Abweichen vom geraden Weg und vieles mehr.