Aktuell bestimmt noch weitgehende Ratlosigkeit den Umgang mit den meisten Fahrerassistenzsystemen, wie zumindest eine Online-Umfrage von MOTORRAD nahelegt. Die große Mehrheit hatte zu den allermeisten Systemen keine Meinung. Klar "dagegen" fiel das Votum nur beim Automatikgetriebe aus, noch klarer "dafür" allerdings beim ABS. Das ist gut so, denn der Blockierverhinderer ist das mit Abstand wichtigste direkt eingreifende Assistenzsystem und seit 2017 sogar Vorschrift für alle Neumotorräder über 125 Kubikzentimeter.
Und die Automatik? Ist für die meisten ein Komfortfeature, das im Motorrad nichts zu suchen hat. Sie bleibt, in welcher Form auch immer, eine Frage der persönlichen Vorlieben. Einen Gewinn für die aktive Sicherheit wie das ABS stellen hingegen etliche andere elektronische Assistenzsysteme dar, deren Sinn und Funktion sich noch nicht herumgesprochen hat. Dabei gilt es zu unterscheiden zwischen Systemen, die innerhalb der physikalischen Grenzen helfen, einen Ausrutscher zu verhindern und solchen, die das Fahren angenehmer machen. Um diese in erster Linie komfortorientierte Elektronik soll es hier nicht gehen. Und dann gibt es da noch die Helferlein, die nach einem Unfall sogar für uns Hilfe holen sollen.
Assistenzsysteme für Fahrdynamik können in vielen Situationen nützen. Egal, ob sie nun ABS, Kurven-ABS, Antischlupfregelung, Stoppie- oder Wheeliekontrolle heißen. Sie alle eint, dass wir sie so lange nicht wahrnehmen, wie wir uns diesseits des Grenzbereiches aufhalten. Sprich, so unterwegs sind, dass dies auch mit einem konventionellen Motorrad ohne all die Elektronik sturzfrei möglich wäre. Sie greifen erst ein, wenn wir den Grenzbereich überschreiten, wenn wir also ohne sie auf die Nase fallen würden oder zumindest alles Können aufbieten müssten, um nicht runterzufallen.
Aber was tun die einzelnen Helferlein denn nun eigentlich? Und wie tun sie das?
Antiblockiersystem
Beginnen wir mit dem bekannten ABS, das erstmals 1988 in Serie verbaut wurde. Wenn wir die Bremse zu heftig betätigen, sprich, zu viel Bremsdruck einsteuern, öffnet ein Ventil und reduziert den Bremsdruck so weit, dass das Rad nicht mehr blockiert.
Bei einer Schreckbremsung entfaltet das ABS den größten Segensreichtum. Denn genau in diesem Fall, in dem wir früher fast zwangsläufig gestürzt sind, ermöglicht die Technik nun eine sichere Vollbremsung. Moderne Systeme agieren so hart am Optimum, dass selbst ein geübter Fahrer ohne sie keinen Vorteil mehr erzielen kann. Nicht einmal mehr auf der Teststrecke, vom Alltag ganz zu schweigen.
Kurven-ABS

Das gilt besonders für die nächste Stufe, das Kurven- oder Schräglagen-ABS, erstmals vorgestellt Ende 2013 in der KTM 1190 Adventure.
Hier bezieht der Rechner zusätzlich zum Schlupf der Räder noch über sogenannte Gyro-Sensoren die Schräglage mit ein und reduziert in Abhängigkeit von der Schräglage den Bremsdruck so weit, dass die Seitenführungskraft gerade noch ausreicht. Bei einer Schreckbremsung in Schräglage ist das ein enormer Sicherheitsgewinn!
Wenn der Grip allerdings so schlecht ist, dass auch schon ohne Bremsung das Rad weggerutscht wäre, hilft natürlich auch kein Kurven-ABS weiter.
Traktionskontrolle/Antischlupfregelung

Ähnliches gilt für die Traktionskontrolle oder auch Antischlupfregelung. Sie stellt quasi das Gegenteil vom ABS dar, sie verhindert ein Durchdrehen der Räder beim Beschleunigen. Das wäre, präzise Geradeausfahrt vorausgesetzt, zunächst einmal kein Sicherheitsproblem. Ist die Straße jedoch nicht topfeben oder das Motorrad gar in Schräglage, droht ein seitlicher Rutscher. Wenn das Bike dann erstmal quer zur Fahrtrichtung steht und der erschrockene Fahrer das Gas zumacht, bekommt der Hinterreifen wieder Grip und die Maschine wirft ihren Dompteur im hohen Bogen ab.
ine Traktionskontrolle greift ein, bevor es so weit kommt und regelt je nach Einstellung mehr oder weniger sanft die Leistung weg. Denn für Profis ist die ASR, die Antischlupfregelung, oftmals einstellbar, um gezielte Drifts zu ermöglichen. Allerdings sollte einem stets bewusst sein, dass wir am Vorderrad keine "Wegrutschkontrolle" haben. Wenn wir zu heftig einbiegen und die Maschine schon ohne zu bremsen über das Vorderrad schiebt, hilft uns auch keine Antischlupfregelung mehr weiter.
Wheelie-/Stoppiekontrolle

Ebenfalls über die Motorsteuerung funktioniert die Wheeliekontrolle. Sofern beim Beschleunigen das Vorderrad gen Himmel strebt, wird die Leistung so weit gekappt, dass es unten bleibt. Bei einem Stoppie, also einem abhebenden Hinterrad während des Bremsens, wird der Bremsdruck vorne so weit reduziert, dass das Hinterrad gerade eben so am Boden und die Fahrstabilität erhalten bleibt.
Speziell letztere Einrichtung wird auch gerne als Überschlagschutz bezeichnet. Beide Techniken werden gerade im Motorsport eingesetzt, um voll am Limit bremsen und beschleunigen zu können. Bei Rennen kann man als Zuschauer das Einsetzen der ASR beim Rausbeschleunigen aus den Kurven deutlich hören, am veränderten Motorgeräusch. Klar, dass leistungsstarke Maschinen auch auf der Straße damit sicherer unterwegs sind, sofern man die physikalischen Grenzen nicht überschreitet.
Elektronisch einstellbare Fahrwerke
Auch beim Fahrwerk moderner Bikes hat mittlerweile die Elektronik Einzug gehalten, in Form von auf Knopfdruck einstellbaren Federelementen, die so an verschiedene Beladungszustände oder wechselnde Fahrbahnbeschaffenheiten angepasst werden können. Anstatt mit einem Hakenschlüssel, Einstellrädern oder gar -schrauben sich die Finger schmutzig zu machen, reicht ein Knopfdruck, und Dämpfung wie Federvorspannung werden über elektronisch gesteuerte Stellmotoren passend einjustiert.
Da ein falsch eingestelltes Fahrwerk neben dem eingeschränkten Fahrspaß durchaus auch ein Sicherheitsrisiko bedeuten kann, sind die Bits und Bytes anstelle der Klicks mehr als ein Komfortextra. Vor allem dann, wenn der Fahrer nicht tief genug in der Materie drinsteckt, um sich aus den unzähligen Möglichkeiten die jeweils passende herauszupicken.
Vollends faszinierend wird die Vorstellung, wenn ein "aktives“"Fahrwerk Dämpfung und Ansprechverhalten der Federelemente sogar während der Fahrt selbsttätig und in Abhängigkeit vom Tempo an die jeweilige Fahrbahnbeschaffenheit anpasst.
Motormappings und Fahrmodi

Der Fahrsicherheit ebenfalls durchaus dienlich können einstellbare Motormappings sein, bei denen die Reaktion der Einspritzanlage auf Befehle vom Gasgriff justiert werden kann. Knackig und direkt für zügige Fahrt auf trockenen Straßen etwa, oder etwas verhalten und sanfter einsetzend für regennasse Fahrbahn.
Krönung bei vielen aktuellen Reiseenduros, Supersportlern und großen Tourern ist die kombinierte Einstellmöglichkeit aller bisher genannten Parameter über die Auswahl verschiedener Fahrmodi. In der Stellung "Sport" etwa ist dann das Ansprechverhalten aufs Gas direkter, es steht die volle Leistung zur Verfügung, ABS und ASR regeln spät, die Dämpfung ist straff. Bei "Urban" wird die Leistung reduziert, der Motor geht sanfter ans Gas, das Fahrwerk agiert nicht so straff und ABS wie ASR greifen früher ein. Bei "Enduro" wird dann die Dämpfung noch weiter geöffnet, damit die Räder auf holprigem Geläuf stets Bodenkontakt halten; die ASR lässt Drifts zu, und das ABS reagiert vorne spät, wird je nach Modell hinten sogar abgeschaltet.
Die komplette Vernetzung aller Parameter kann einem, etwa bei einer Einstellung für "Regen", den Umgang mit einem leistungsstarken, schweren Motorrad durchaus erleichtern. Da geht der Motor dann besonders sanft ans Gas und die Antischlupfregelung greift so früh ein, dass auch beim Beschleunigen in Schräglage nichts passieren kann.
Weitere Elektronikfeatures

Keine Fahrhilfen, aber der aktiven Sicherheit sehr dienlich sind Kurvenlicht und "Toter-Winkel-Assistent".
Beim Kurvenlicht sorgt ein Schräglagensensor, gekoppelt an schwenkbare Reflektoren, für gute Ausleuchtung der Fahrbahn auch bei Kurvenfahrt, wo man sonst ja schon gerne mal einen großen, schwarzen Keil vor sich herschiebt.

Der "Toter-Winkel-Assistent" warnt mit einem leuchtenden Dreieck vor Fahrzeugen auf der Nebenspur, die wir nur sehen würden, wenn wir den Kopf auf die Seite drehen. Bei Zweirädern aktuell nur von BMW am großen Tourenroller C 650 GT verbaut, hat diese Technik im Automobilbereich bereits bei vielen Modellen Einzug gehalten. Bleibt zu hoffen, dass sie Motorräder und Roller im toten Winkel immer zuverlässig erkennt.
Automatisierte Notrufe

Wenn es dann trotz aller Vorsicht zu einem Unfall gekommen ist, kann ein System wie E-Call helfen. Am Motorrad fest verbaut und über Mobilfunk-Notruf mit einer Zentrale verbunden, ruft E-Call um Hilfe, wenn die Sensoren einen Unfall oder Sturz erkennen, auch wenn der Fahrer dazu nicht mehr in der Lage wäre. Ist er ansprechbar und hat ein Headset im Helm verbaut, kann die Zentrale auch Kontakt aufnehmen.
Diese Funktion kann gerade bei Alleinunfällen auf einsamen Strecken Leben retten. Doch auch, wenn der Biker zu einem Unfall dazu kommt, kann er selbst aktiv werden und über die SOS-Taste die Notrufzentrale direkt erreichen und Hilfe holen.
Im Autobereich wird die Vernetzung der Verkehrsteilnehmer bereits entschieden vorangetrieben. Fahrzeuge können etwa über WLAN und Mobilfunk miteinander kommunizieren und so zum Beispiel herannahende andere Fahrzeuge erkennen, bevor der Fahrer selbst diese sehen kann. So kann man entweder den Fahrer nur warnen, oder die Technik leitet sogar Fahrmanöver ein, um eine drohende Kollision abzuwenden.
Viele Hersteller arbeiten bereits an Systemen, die auch Motorräder einbeziehen. Bleibt zu hoffen, dass so künftig tatsächlich weniger Motorradfahrer übersehen werden.