Tourer? Sportler? Tourensportler? Bei der strengen Zuordnung der neuen Honda VFR könnte sich so manche Schublade verklemmen. Mit ihr können Fahrer der unterschiedlichsten Couleur glücklich werden.
Tourer? Sportler? Tourensportler? Bei der strengen Zuordnung der neuen Honda VFR könnte sich so manche Schublade verklemmen. Mit ihr können Fahrer der unterschiedlichsten Couleur glücklich werden.
Knalle blauer Himmel, ein laues Lüftchen und die silberne VFR vor der Tür. Unter solchen Umständen ist gegen die Sieben-Tage-Arbeitswoche nix einzuwenden. Also rein in die Rennkombi. Rennkombi? Nee, heute lieber gediegen im Textildress. Oder doch lieber Leder? Die Bequemlichkeit siegt: Textil, passt ohnehin besser auf so nem Tourer, basta.
Ohne Choke-Gefummel und mit moderater Drehzahl brummelt der neue V4 los, kein hässliches Klonck beim Gangeinlegen, federleichte Kupplung, schnurriger Motor VFR eben. Dann die erste Überraschung: der Sound. Ziemlich nah dran an der legendären VFR 750 R, der RC 30. Knurrig, böse, wenn man das Gas aufsperrt. Schön zu hören. Und zu spüren. Denn die Einspritzung füttert den V4 ohne Verzögerung mit Kraftstoff, spurtet aufs Kommando vorwärts. Logisch, denkt sich der technisch versierte Mensch, steckt ja schließlich VTEC dahinter, eine aufwendige Steuerung des Ventiltriebs, die durch Abschalten je eines Ein- und Auslassventils pro Zylinder im unteren Drehzahlbereich für mehr Drehmoment und weniger Kraftstoffverbrauch sorgen soll (siehe Zeichnungen Seite 25). Behauptet Honda.
Ein gewisser Fortschritt lässt sich nach eingehenden Fahrversuchen und Messungen nicht von der Hand weisen. Doch eine Revolution in Sachen Verbrauch bahnt sich mit VTEC nicht an. Mit Werten von 4,4 Liter bei konstant 100 km/h und 6,2 Liter im moderaten Landstraßenbetrieb bleibt die VFR den Beweis schuldig. Beim Drehmoment verbucht sie bis auf den markanten, im Fahrbetrieb spürbaren Einbruch bei 7000/min gegenüber der Vorgängerin einen kleinen Vorteil übers gesamte Drehzahlband.
Den Übergang zum Vierventiler gestaltet der Vierzylinder mit einem leichten Durchhänger bei 6500/min, wenn die kleinen Querschnitte der beiden Ventile nicht mehr Füllung und somit Leistung zulassen. Schalten sich wenige Umdrehungen später die restlichen acht Ventile dazu, weckt ein helles, fast kreischendes Schnarren alle Lebensgeister. Ein kräftiger Tritt in den Hintern, akustisch untermalt vom grollenden Schub, der auch auf dem Leistungsdiagramm deutlich abzulesen ist (siehe Seite 27). Mit ungehemmter Drehfreude marschiert der V4 Richtung Höchstleistung von gemessenen 109 PS. Die sollten selbst eiligen Touristen genügen, zumal das Honda-Triebwerk eine geschmeidige, vibrationsarme Darbietung bis in höchste Drehzahlen liefert. Alles in allem eine sehr launige, unterhaltsame Art der Fortbewegung, die man bei dem bislang eher bieder-funktionellen VFR-Image so nicht vermutet hätte.
Spaßige Dynamik bringt noch ein anderes Element ins Spiel: das Getriebe. Über den direkt auf der Schaltwelle, also ohne Umlenkhebel und Gestänge, befestigten Schalthebel wechseln die Gangstufen blitzschnell mit geringsten Bedienkräften und bombenfester Arretierung ihre Position. Absolute Spitzenklasse. Motorseitig also beste Voraussetzungen für genussvolles Touren mit sportlichen Akzenten.
Und die setzen sich in den Fahrwerksqualitäten fort. Endlich haben sich die Entwicklungsingenieure von der bislang favorisierten hoch komfortablen böse Zungen behaupten eher schlabbrigen Abstimmung der Federelemente verabschiedet. Straff gedämpft, doch ohne markante Einbußen an Federungskomfort spielt der Sporttourer die Vorteile des Konzepts voll aus. In bequemer, aufrechter und entspannter Sitzposition dirigiert der Pilot seinen Untersatz millimetergenau durch heimtückisches Kurvenlabyrinth. Die 43er-Telegabel reagiert sehr direkt, lenkt tadellos auf den gewünschten Kurs. Dank der harmonischen Abstimmung von Reifenkontur, Lenkgeometrie und Balance findet die Honda ohne Korrekturen und Zauberei immer die angepeilte Linie. Das schont Nerven und Konzentration, ein entscheidender Vorteil für Langstreckenpiloten.
Einen ganz massiven Beitrag zur aktiven Sicherheit leistet neben dem sehr berechenbaren Fahrwerk das Antiblockiersystem. Das Argument, dass die VFR die Spitzen-Verzögerungswerte von ABS-losen Maschinen im MOTORRAD-Fahrversuch nicht erreicht, ist spätestens dann wertlos, wenn die Bremsversuche nicht unter optimalen, jedoch durchaus alltäglichen Bedingungen wiederholt werden. Zum Beispiel, wenn bei einer Vollbremsung aus 150 km/h der trockene, griffige Straßenbelag in einen nassen, rutschigen Streckenabschnitt übergeht. Reibwertsprung heißt dieses Testverfahren im Fachjargon und sorgt selbst bei hart gesottenen Testprofis für Herzrasen. Nicht aber mit dem Honda-ABS, das mit sanften Regelintervallen und einer spontanen Anpassung auf die deutlich rutschigeren Verhältnisse reagiert. Lediglich bei niedrigen Geschwindigkeiten oder auf Schotter kann das Vorderrad für eine kurzen Moment blockieren, ohne dass die Maschine dabei in Schieflage gerät.
Den einzigen echten Schwachpunkt am VFR-Chassis deckt MOTORRAD auf der permanenten Top-Test-Strecke auf. Deutliche Ansätze zum Lenkerschlagen beim hastigen Ritt über zerfurchte Landstraßen bringen den Testpiloten ins Schwitzen. Leichte Besserung stellt sich ein, nachdem die Vorspannung der Gabel und die Zugstufendämpfung am Federbein reduziert wurden. Gut ist dennoch anders.
Trauter Zweisamkeit dagegen ist das VFR-Fahrwerk jederzeit gewachsen. Das Heck über die Federbasis ordentlich angehoben, ein Tucken mehr Dämpfung reingedreht, und schon brettert das Duo wie an der Schnur gezogen durch die Landschaft. Nix schaukelt, nix gautscht, tadellos pfeift die beladene Honda durch wellige Kurven und Kehren. Leider kann der Passagier den Fahrgenuss nicht ganz teilen. Sehr hoch und zu weit vom Fahrer entfernt, somit etwas haltlos, sitzt der Beifahrer auf dem an sich bequemen Soziusplatz tatsächlich nur in der zweiten Reihe, klemmt sich beim Bremsen und auf welligen Strecken mit kräftigem Schenkeldruck an den Hüftknochen des Fahrers fest. Da hätten die Honda-Tester wohl noch ein paar Runden mehr im Duett drehen sollen. Bei der Gelegenheit hätte man eventuell auch erkannt, dass die kurze Verkleidungscheibe bei Menschen um 175 Zentimeter Körpergröße heftige Windgeräusche im Helmbereich verursacht. Eine Handbreit höher oder tiefer, und das nervige Tosen ist verschwunden. Hat Honda deshalb die höhere Verkleidungscheibe im Zubehörprogramm?
Ein Lichtblick im wahrsten Sinne: die vierstrahlige Flutlichtanlage. Bereits in Abblendstellung eifern die beiden Freiflächen-Scheinwefer um die Wette, erhellen jeden Straßenwinkel und leuchten auch in engen Kehren den richtigen Weg. Knipst man die beiden Fernlichtscheinwerfer dazu, wird die Nacht endgültig zum Tag. Nichts geändert hat sich an Ausstattung und Übersichtlichkeit der Armaturen und Instrumente beim 2002er-Modell, alles ist ziemlich perfekt arrangiert, vom klar gezeichneten Drehzahlmesser bis zur Außentemperaturanzeige, den einstellbaren Handhebeln bis zur elektronischen Wegfahrsperre. Insgesamt ist der ausgewogene Charakter der VFR geblieben, mit ihrer neuen Fahrwerksauslegung und dem neuen Motor macht sie auch Sportfahrern richtig Laune.
Der Spagat ist geglückt. Die straffe Fahrwerksauslegung der neuen Honda tut dem bewährtem Allroundkonzept keinen Abbruch, im Gegenteil. Der immense technische Aufwand mit Einspritzung, Katalysator und VTEC geht in die richtige Richtung, doch unterm Strich bleibt die VFR eine VFR. Vielseitig und mit ABS wohl auch einer der sichersten Sporttourer der Welt.
Plus0 Wasserabweisender Sitzbezug0 Tank nach Lösen von zwei Schrauben klappbar0 In Rücklicht und Verkleidung integrierte, sturzgeschützte Blinker0 Einfach Hinterradmontage durch EinarmschwingeMinus0 Zu kurzes Schutzblech vorn, Schmutz wirbelt an Krümmer und in Motorbereich0 Komplizierte Leuchtweitenverstellung für die Scheinwerfer0 Benzinleitung zwischen Tank und Einspritzung ohne SchnellverschlußFahwerkseinstellung und Reifen Gabel: drei von vier Ringen der Federbasisvertellung sichtbarFederbein: Hydraulische Federbasisverstellung für Soziusbetrieb 5, für Solobetrieb 15 Klicks von maximaler Einstellung auf Zugstufe: Solobetrieb 1 (sportliche Fahrweise und mit Sozis) bis 11/2 Umdrehungen auf. Bereifung im Test: Bridgestone BT 020 Radial »BB«, Luftdruck 2,5/2,9 bar
MOTORRAD-MesswerteBremsen und FahrdynamikBremsmessungBremsweg aus 100 km/h 39,9 mMittlere Verzögerung 9,7 m/s2Bemerkungen: Sehr sanfte, kaum spürbare Regelung des ABS, dadurch gute Bremsstabilität ohne lästige Nickschwingungen. Bei geringer Geschwindigkeit oder sehr glattem Untergrund teilweise kurzes Blockieren vorn, jedoch ohne Sturzgefahr. Handling-Parcours I. (schneller Slalom)Beste Rundenzeit 20,7 sekVmax am Messpunkt 8,9 km/hBemerkungen: Dank der strafferen Dämpfung an Gabel und Federbein für Tourensportler gute Stabilität und Handlichkeit. Handling-Parcours II. (langsamer Slalom)Beste Rundenzeit 29,7 sekVmax am Messpunkt 57,7 km/hBemerkungen: Gute Lenkpräzision und Stabilität beim Schräglagenwechsel. Jedoch gewöhnungsbedürftiges Einlenkverhalten am engen Umkehrpunkt bei Zuhilfenahme der Hinterradbremse, da hierbei stets auch das Vorderrad mitbremst und sich die VFR etwas aufstellt. Kreisbahn 0 46 MeterBeste Rundenzeit 10,7 sekVmax am Messpunkt 52,2 km/hBemerkung: Nach Entfernen der eingeschraubten Rastenverlängerung setzen Rasten und Seitenständer nur noch leicht auf. Somit gute Schräglagenfreiheit und hohe Kurvenstabilität. Geringes Aufstellmoment beim Bremsen in Schräglage und gute Haftung der Serienbereifung.