Antiblockiersysteme gehen bis an die Haftgrenze der Reifen. Wem gelingt die Gratwanderung am besten - BMW, Honda oder Kawasaki?
Antiblockiersysteme gehen bis an die Haftgrenze der Reifen. Wem gelingt die Gratwanderung am besten - BMW, Honda oder Kawasaki?
Von 100 auf 0 km/h in unter 2,8 Sekunden, von 100 auf 0 km/h nach weniger als 39 Metern Bremsweg oder von 100 auf 0 km/h mit einer mittleren Verzögerung von über 9,9 m/s² - ganz egal von welcher Seite man die Rechnung aufzieht, diese drei Werte sind die Grenze des theoretisch Machbaren, mehr gibt die Reibpaarung Reifen und Fahrbahn eigentlich nicht her. So bilden die Werte 2,8 - 39 - 9,9 die Eckpfeiler eines magischen Dreiecks, in dem sich die wunderbare Welt der Grand Prix-Piloten abspielt. Drumherum, in mehr oder weniger großem Abstand, versammelte sich bisher der Rest der Motorradfahrer. Schneller, kürzer oder mehr, je nach Pfeiler, ging nicht. Zumindest nicht ohne den Verzahnungseffekt zwischen Reifen und Asphalt gnadenlos auszureizen, nicht ohne dabei gegen eine Wand zu klatschen oder, neuerdings, nicht ohne ABS.
Nehmen wir`s vorweg: BMW und Honda haben ein neues Kapitel in der Qualität von Antiblockiersystemen aufgeschlagen, sie haben die Eckpfeiler des magischen Dreiecks eingerissen. Aber blättern wir zunächst ein paar Kapitel zurück: 1988 hatte BMW als erster Hersteller ein Antiblockiersystem für Motorräder zur Serienreife entwickelt, damals als Sonderzubehör für alle K 100-Modelle. Doch zumindest auf trockenem Asphalt war das System einem geübten Motorradfahrer ohne ABS unterlegen. 1991 präsentierte Yamaha in der FJ 1200 A und 1993 in der GTS 1000 A ihre Interpretation von Blockierschutz. Der war dem BMW-ABS zwar überlegen, aber immer noch nicht gut genug, um es mit einem ausgebufften Homo sapiens aufnehmen zu können. So konnte MOTORRAD-Spätbremser Siggi Güttner ohne ABS aber mit einem Messer zwischen den Zähnen schon mehrmals die 10 m/s² knacken, während der Rekordhalter mit ABS - deutlich abgeschlagen - bis vor wenigen Wochen GTS 1000 A hieß: Von 100 auf 0 km/h mit einer mittleren Verzögerung von 8,93 m/s², macht einen Bremsweg von 43,2 Meter.
Schon 1992 feierte in der ST 1100 ein Honda-ABS Premiere, das für das Modelljahr 1996 komplett überarbeitet und mit einer Verbundbremse ergänzt wurde. Die technischen Details wurde bereits in MOTORRAD 23/1995 vorgestellt, deshalb hier nur noch einmal eine kurze Zusammenfassung: Mit der Handbremse werden die äußeren Kolben, mit der Fußbremse die jeweils mittleren Kolben der drei - vorne zwei, hinten einer - Dreikolben-Schwimmsättel aktiviert. In Verbindung mit dem ABS kann damit theoretisch die jeweils maximal mögliche Bremsleistung über beide Räder übertragen werden, ganz egal, welche der beiden Bremsen betätigt wird.
In der Praxis stellte sich aber heraus, daß sowohl auf trockener als auch auf nasser Fahrbahn die Fußbremse der Handbremse überlegen ist (siehe Balkendiagramme Seite 28 und 30) und erst die Kombination aus beiden zum echten Rekordbrecher wird: 10,05 m/s² mittlere Verzögerung ergeben bei 100 km/h einen Bremsweg von 38,4 Metern bis zum Stillstand. Auch auf nassem Asphalt blieb diese Kombination, wenn auch knapp, ungeschlagen. Dafür legte die ST 1100 in der Disziplin »nur Fußbremse« ein halbes Fußballfeld zwischen sich und die Konkurrenz, dank der Verbundbremse brauchte sie noch nicht einmal deren halben Bremsweg.
Mit dem neuen Boxer kam 1993 die zweite ABS-Generation von BMW, das ABS II, auf den Markt. Auch dieses System wurde schon in allen Details beschrieben (siehe MOTORRAD 4/1993), so daß wir uns ohne Umschweife dem Eingemachten widmen: 9,99 m/s² Verzögerung als Mittelwert aus sechs Messungen entsprechen einem durchschnittlichen Bremsweg aus 100 km/h von 38,6 Metern - zum zweiten mal während des ABS-Vergleichstests dringt ein Serienmotorrad in die wunderbare Welt der Grand Prix-Piloten vor - und ausgerechnet der dickste Boxer, die RT. Seltsamerweise gelingt das Kunststück nur mit der Vorderradbremse, mit beiden Bremsen verzögert der Tourer zumindest auf trockener Fahrbahn etwas schlechter. Sicherlich gebührt ein Teil des Lorbeers für die Spitzenposition unter den Vorderradbremsen der Telelever-Anordnung, die einen 70prozentigen Nickausgleich ermöglicht und die BMW beim Bremsen kaum eintauchen läßt. Nur die Fußbremse trübt den weiß-blauen Himmel der Bayerin, denn die läßt die Konkurrentinnen aus Fernost weit hinter sich - nach dem Bremsen.
Nach BMW, Yamaha und Honda vertraut nun auch Kawasaki auf einen elektronisch-hydraulischen Blockierschutz, zumindest in der GPZ 1100 ABS (Funktionsweise in MOTORRAD 6/1996). Im Gegensatz zur Honda und zur BMW beginnt der Hand- und Fußbremshebel der GPZ heftig zu pumpen, sobald das ABS aktiv wird. Um darauf in einer Notsituation gefaßt zu sein, sollte man das Bremsen im Regelbereich auf jeden Fall üben. Außerdem empfiehlt es sich mit der Kawasaki, stets mit beiden Bremsen in die Vollen zu gehen, denn die Verzögerung nur mit den vorderen Stoppern hält sich in Grenzen, das ABS gibt das Vorderrad immer wieder frei, und der Bremsweg ist entsprechend lang.
Erst als die MOTORRAD-Tester die Bremshilfe außer Betrieb setzten, um manuell noch einige Meter pro Sekundenquadrat herauszuquetschen, konnte der eigentliche Übeltäter entlarvt werden: Beim Bremsen aus Geschwindigkeiten über 70 km/h beginnt das Vorderrad der Kawasaki heftig zu stempeln und droht in gleichmäßigen Abständen mit Pft - Pft - Pft demnächst zu blockieren, falls der Bremsdruck weiter steigt. 8 m/s² waren ohne ABS das Ende der Fahnenstange, da nützte auch ein Wechsel von den relativ harten Dunlop D205 auf die etwas weicheren Metzeler ME Z2 nichts. Das ABS unterdrückt dieses gefährliche Stempeln, verbraucht aber dabei entscheidene Meter an Bremsweg. Deshalb fällt die Kawasaki sowohl im Trockenen als auch im Nassen gegenüber der Honda und der BMW deutlich ab, zumindest in den Disziplinen, in denen die Vorderradbremse beteiligt ist.
Allerdings sollte sich jetzt niemand der Illusion hingeben, er könne auf Serienreifen auch nur eine der Testkandidatinnen auf nasser Fahrbahn ausbremsen. Bei den dann gültigen Reibwerten zwischen Teer und Reifen kann kein Mensch das Limit so schnell und exakt ausloten wie die Rechenzentralen der drei Antiblockiersysteme. Wie schnell diese arbeiten, wurde bei Vollbremsungen über Streusplit und über eine Bodenwelle deutlich: Bei etwa 50 km/h brauchten alle drei Systeme etwa eine halbe Radumdrehung oder genau sieben Hundertstelsekunden, um das Rad zunächst freizugeben, den Bremsdruck dann wieder aufzubauen und schließlich den Fahrbahnbedingungen neu anzupassen.
Bleibt eigentlich nur der Wunsch, daß sich Kawasaki demnächst die Gabel der GPZ 1100 ABS zur Brust nimmt und daß möglichst schnell auch Motorräder unter 19 000 Mark mit ABS auf den Markt kommen. Auf daß wir uns bald alle im Wunderland bewegen.