Alpen-Masters 2011: Classic Bikes
Harley-Davidson 1200 Custom, Kawasaki W 800, Moto Guzzi Bellagio, Triumph Scrambler

Kein Stress, kein Leistungsdruck. Dafür entspannte Haltung, lässiges Kehrenwedeln und ein kurviges Vergnügen. Mit diesen vier Classic Bikes sind in den Alpen Stunden mit dem gewissen Etwas garantiert.

Harley-Davidson 1200 Custom, Kawasaki W 800, Moto Guzzi Bellagio, Triumph Scrambler
Foto: Gargolov

Eigentlich schade: Moderne Alpenkönige werden in der Gruppe der Classic Bikes nicht geboren. Dazu fehlt es ihnen allein schon an Ausstattung, denn sie schlagen sich ohne ABS, Traktionskontrolle und Windschutz durchs Leben. Spaßbremsen sind sie deswegen aber lange nicht – ganz im Gegenteil.
 
Die bildschöne Kawasaki W 800, die smarte Triumph Scrambler, die edle Moto Guzzi Bellagio und die eigenwillige Harley-Davidson Sportster 1200 Custom bescheren zwar keine Königswürde, dafür aber ein Bergerlebnis der ursprünglichen Art.

Um sich mit der Harley unbeschwert ins Kehrengetümmel am Stilfser Joch zu stürzen, bedarf es allerdings guter Nerven und einer gehörigen Portion Selbstbewusstsein, denn sie kratzt schon in normalen Kurven beharrlich an der Asphaltdecke. Wie soll das erst in den Serpentinen gehen? Besser als erwartet. Allerdings nur, wenn man sich voll auf den Twin aus Milwaukee einlässt, vor allem auf die zwar nicht extreme, aber gewöhnungsbedürftige Sitzposition. Kontrollfreaks, die ihr Motorrad stets straff am Gängelband halten wollen, stürzen wegen der weit vorn positionierten Fußrasten in eine tiefe Führungskrise, denn das Feedback lässt zu wünschen übrig. Doch wer dieses mentale Hindernis überwindet und ein gewisses Grundvertrauen aufbaut, dirigiert die Harley recht entspannt um die Haarnadelkurven, denn der drehmomentstarke Motor bügelt die Schwächen des Fahrwerks locker aus. Zwar verlangt die Kupplung viel Handkraft, aber man braucht sie wenig. Satte 95 Newtonmeter garantieren den ganz speziellen, begeisternden Serpentinenkick. 

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Eine gewisse Leidensfähigkeit ist trotzdem nötig, etwa auf dem schnellen Holperstück am Umbrail-Pass. Die viel zu lasche Federung reicht praktisch jede Bodenwelle direkt an die Wirbelsäule weiter. Für einen etwaigen Mitfahrer endet der Spaß schon deutlich früher, denn auf der schmalen Sitzbank rutscht er selbst bei minimaler Beschleunigung nach hinten weg. Nach Punkten landet die Sportster Custom mit dieser Vorstellung nur auf dem letzten Platz in ihrer Gruppe. Doch dafür erntet sie viele Sympathien für das lässige Cruiser-Feeling und den satten V2.

Regelrechte Sympathiewellen schlagen der Kawasaki W 800 schon im Stand entgegen, denn Königswelle, Kühlrippen und liebevoll gemachte Speichenräder ziehen nicht nur Nostalgiker magisch an. Mit ihrer harmonischen, perfekten Linie wirkt sie wie ein Gesamtkunstwerk aus den Swinging Sixties und gewinnt den Schönheitspreis in ihrer Gruppe mit links – nur gibt es dafür keine Punkte. Die holt der Zweizylinder aber locker in anderen Bereichen. Dank des geraden Lenkers und nur 217 Kilogramm Gewicht fällt es federleicht, die 800er schwungvoll selbst durch engste Kehren­radien zu bugsieren. Und die komfortable Sitzposition für Fahrer und Beifahrer macht Lust auf mehr. Auf anderen Feldern muss die Retro-Queen allerdings Federn lassen, vor allem die stumpfen Bremsen nagen an ihrem Punktekonto. Bei der Messung bergab von 75 auf 25 km/h braucht sie 39,2 Meter. Eindeutiger Rekord im Alpen-Masters – aber leider ein negativer. Das Fahrwerk funktioniert besser als bei der Harley, fällt aber ebenfalls arg soft aus. Das setzt einer engagierten Kurvenhatz gewisse Grenzen, verdirbt den Spaß an der Freud aber nur dann, wenn man zu ehrgeizige Ziele anpeilt. Mit gemessenen 49 PS ist die W 800 nun mal die Schwächste im Feld, und das spürt man an den steilen Anstiegen des Stilfser Jochs deutlich. 

Wie das besser geht, zeigt die Triumph Scrambler, die zwar lediglich sechs PS mehr mitbringt, sich auf den Pässen aber quirliger gebärdet. Ihr Motor zieht absolut gleichmäßig nach oben und entwickelt sein maximales Drehmoment schon bei 3400 Touren; angesichts einer solchen Charakteristik reichen selbst bescheidene 65 Newtonmeter für das hochalpine Kurvenvergnügen. Draufsetzen und sich wie zu Hause fühlen, lautet das Motto der kleinen Engländerin, die sich mit zwei auffälligen, chromblitzenden Auspufftüten auf der rechten Seite gut in Retro-Szene zu setzen weiß, wenn auch nicht so elegant wie die W 800.

Der breite und flache, enduromäßige Lenker scheint für lässiges Serpentinengewedel wie geschaffen. Nur schade, dass Triumph ihn so weit weg vom Fahrer anbringt, dass der sich danach strecken muss. Die Sitzposition wirkt dadurch etwas merkwürdig, das kostet wertvolle Punkte. Zwar liegt die Scrambler beim Handling auf Passstraßen vorn, doch mit einem glücklicher positionierten Lenker hätte es für sie noch besser laufen können. Beschwingt eilt sie das Joch hinauf, nimmt es dank ihres vergleichsweise straffen Fahrwerks mit den meisten Bodenwellen am Umbrail auf und bringt den Sozius auf einem ordentlichen Plätzchen unter. Eine echte Stimmungs­kanone, die selbst bei nasskaltem Wetter für sonnige Laune sorgt.

Ein so entspannter und doch flotter Vorwärtsdrang hätte für den Gruppensieg reichen können, wäre da nicht die Moto Guzzi Bellagio. Die Italienerin profitiert davon, dass sie ein klassisches Design mit moderner Technik mischt. Das gilt insbesondere für das steife Chassis und die gut ausbalancierte, straffe Federung sowie die Doppelscheibenbremse mit ordentlichem Biss. Links, rechts, rauf, runter: Die Guzzi wirkt nie überfordert, da darf man ruhig etwas forscher am Gas drehen. Zwar fällt der Lenkeinschlag nicht wirklich üppig aus, doch das macht die Bellagio mit jeder Menge Feedback locker wett. Präzise folgt sie dem vorgegebenen Kurs und lässt sich dabei weder von starken Bodenwellen noch von tiefen Rissen im Asphalt in ihrer Stabilität erschüttern; solche kleinen Ärgernisse bügelt sie einfach weg und gleitet zielstrebig dem Gipfel entgegen. Ganz oben auf der Wunschliste steht, nicht nur wegen der schwierigen Wetterbedingungen, ein ABS.

Der Motor möchte beim Gipfelsturm bei Laune gehalten werden, denn er leistet sich bei niedrigen Drehzahlen zwei kleine Durchhänger. Ab 4500 Touren schiebt der Kurzhub-V2 dafür tapfer an – da hält die Konkurrenz nicht mit. Zudem betört er mit einem Wummern und Grummeln, wie es einfach nur einem Guzzi-V2 gelingt: kernig, urtümlich, schlicht herrlich. Zügig peilt die Bellagio eine Passhöhe nach der anderen an, während die Verfolgerinnen schwächeln. Der Einzug ins Finale ist geschafft.

Classic-Bikes: Fazit

Gargolov
Am Ende hat die Moto Guzzi Bellagion die Nase vorn. Und die anderen? Auch nicht schlecht, aber Retrobikes sind eben keine Punktesammler.

Eine echte Klasse für sich: Die Classic Bikes fordern nichts, sondern fördern das Wohlbefinden. Besonders gut gelingt das der Moto Guzzi Bellagio, die sich mit ihrem ausgewogenen Fahrwerk fürs Finale qualifiziert. Kaum weniger Applaus heimst die Triumph Scrambler ein, eine Art Hansdampf auf allen Pässen. Die schöne Kawasaki W 800 gibt zwar nicht den Wirbelwind, wahrt aber in jeder Kehre und Kurve die Contenance. Ein Fall für Kenner ist die Harley: Nur wer sich voll auf sie einlässt, wird mit ihr in den Bergen glücklich.

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Erscheinungsdatum 15.09.2023