»Ich stampfe all eure Bestzeiten ein«, schallte es durchs Telefon. Am Ende der Leitung: Elmar Geulen, das Enfant terrible der Rennszene. Nun, der beste MOTORRAD-Messwert von null auf 300 km/h liegt immerhin bei 13,5 Sekunden...
»Ich stampfe all eure Bestzeiten ein«, schallte es durchs Telefon. Am Ende der Leitung: Elmar Geulen, das Enfant terrible der Rennszene. Nun, der beste MOTORRAD-Messwert von null auf 300 km/h liegt immerhin bei 13,5 Sekunden...
Null Komma acht bar? »Das ist Pippifax!« raunt Elmar Geulen. »Ich hab den Mechaniker heut morgen angewiesen, den Turboladedruck auf 1,1 bar zu erhöhen. Dann hat die Suzi zwischen 380 und 400 PS. Das reicht!«
Klar, das sollte reichen. Ist dann allerdings leider nicht mehr ganz legal. Aber was solls... Der 49-Jährige, der ausschaut wie eine Mischung aus Meister Proper (Körper) und Armin Müller Stahl (Augen) rückt sein Lächeln zurecht und lehnt leger an seinem »Wohnmobil«. Ein Neoplan Skyliner, 30 Tonnen, Zehnzylinder-Motor, diver-
se Kühlschränke, Fernseher, acht Einzel-, zwei Doppelbetten. Es ist Samstagvormittag, der 19. August 2006. Die Sonne sticht, 31 Grad, verirrte Wolkentrümmer. Geulen will im Rahmen der Public Race Days in Hockenheim seine Aussage wahr machen und alle von MOTORRAD jemals ermittelten Bestwerte bezüglich Bescheunigung einstampfen. Alle! Von null auf 100 km/h, auf 200, auf 300. Und das mit einem straßenzugelassenen Motorrad.
Einer getunten MAB-Hayabusa. Unter dem Reifenwärmer kauert ein serienmäßiger Bridgestone BT 56 auf einer Fünfspeichen-Karbonfelge von Dymag. Der Tourenreifen soll über seine handtellergroße Auflagefläche die mutmaßlichen 400 PS mit dem Belag verzahnen. Damit die überhaupt am Gummi ankommen, darum bemühen sich verstärkte Kupplungsfedern, eine besonders zugfeste Kette und ein spezielles Stahlkettenrad. Die Schwinge ist 35 Millimeter länger als bei der Serienmaschine, der Radstand der Hayabusa beträgt nun 1640 Millimeter. Dies soll der Überschlagsneigung entgegenwirken. Denn der Ab-
gasturbolader setzt schlagartig ein, pustet dem knapp 1300 Kubik starken Vierzylinder abrupt eine Leistung ein, mit der sich gemeinhin schwere Vorzeigekarossen der Oberklasse über die Autobahn bewegen. Was, wenn das 228 Kilogramm leichte
Motorrad sich überschlägt, das Karbonrad zersplittert oder der Reifen sich auflöst? Man muss schon etwas verrückt sein, um in den Sattel zu steigen. Vor allen Dingen aber Sportsgeist besitzen.
Elmar Geulen hat definitiv Sportsgeist und ist darüber hinaus ein Unikat der besonderen Art. 102 Kilogramm schwer, 1,88 Meter groß, Spitzbart, rasierter Schädel. Bizepsumfang knapp unter 50 Zentimeter. Um den Hals eine Goldkette, mit der man notfalls liegen gebliebene Kleinwagen abschleppen könnte. Ein Mann vom Proto-
typ Türsteher, der mit einem Leisetreter so
viel gemein hat wie Sylvester Stallone mit Roger Willemsen. Seine eisblauen Augen,
die scheinbar einzigen nicht tief gebräunten Flecken an seiner Körperoberfläche, sind durchdringend.
Und erzählen von seinem bewegten
Leben: BWL-Studium, Profiboxer, Fitnessstudio-Betreiber, Unternehmer, Rennfahrer. Geulen, dem die Medien nach eigenen Angaben den Beinamen »Mr. Hayabusa« verpassen, sieht sich selbst als Speedjunkie. Auf zwei Rädern hat er fast alles durch, wurde als Schmiermaxe im Motocross-Seitenwagen vier Mal deutscher Jupo-Sieger, mischte solo in der Superbike-DM, im 500er-Grand-Prix und in der Langstrecken-WM mit. Startete zwölf Mal auf der Isle
of Man, fuhr Rennen in Macao, wechselte zum Supermoto und fand im Jahr 2000 mit der Suzuki Hayabusa endlich die mecha-
nische Gespielin, nach der er immer schon gesucht hat.
Geulen lässt die Maschine tunen, startet in der Pro-Superbike-Klasse und stellt mit der 217 PS starken LKM-Suzuki einen Weltrekord auf: Den Skater-Profi Jürgen Köhler im Schlepptau, erreicht er den Fabelwert von 281,25 km/h und entfacht
ein Presseinferno. Die Firma MAB steigt als Sponsor bei ihm ein. Heute steht der Euskirchener mit einem der stärksten zugelassenen Straßenmaschinen der Welt am Dragstrip von Hockenheim, um ein paar Bestzeiten zu setzen.
Die bisher schnellsten MOTORRAD-Beschleunigungszeiten aller StVO-konformen Bikes hatte der 69 Kilogramm leichte Testfahrer Karsten Schwers auf einer ebenfalls von MAB auf 337 PS getunten Suzuki
Turbo-Hayabusa vor zwei Jahren herausgefahren: null auf 100 in 3,0 Sekunden, bis 200 in nur 6,6 Sekunden. Und nach gerade einmal 13,5 Sekunden ermittelte das GPS echte 300 km/h.
Korrekt ermittelt wird auch in diesem Fall. Geulen rollt an den Start, ein kräftiger Burnout soll den Hinterreifen auf Tempe-
ratur bringen. Flimmernder Teer, unterm Helm Backofenklima. Hinter dem Wasserkühler der MAB-Hayabusa wirbeln zwei Lüfter, im Motor zirkuliert Spezial-Öl, Viskosität 0W20. Der Zylinderkopf ist von LKM optimiert, der Lenkanschlag auf jeder Seite um einen Zentimeter eingeschränkt, ein Lenkungsdämpfer soll etwaiges Kickback bereits im Keim ersticken. Geulen klemmt seinen gestählten Körper hinter
die Scheibe, stemmt einen Fuß auf die
verstellbare Fußrastenanlage und versetzt dem Motor einen letzten Gasstoß im Stand. Dumpf grollt sie auf, die 400-PS-Rakete. Irgendwie mächtig, selbstbewusst, dennoch nicht zu laut. Soll ja schließlich
alles halbwegs legal sein. Gelbes Licht grün! Los gehts.
Für die Zuschauer gleicht Geulens Fahrt dem Gewippe auf einem Schaukelstuhl. Ständig steigt das Vorderrad, dreht das Hinterrad durch. In jedem Gang! Es
ist der Ritt auf einem verrückt gewordenen Wildpferd. Erst im vierten Versuch findet Mr. Hayabusa die richtige Dosierung zwischen Gasgriff, Kupplung und Gang. Und besseren Grip: Er schafft die 300 km/h in nur 13,1 Sekunden, braucht bis 200 lediglich 6,3 und von null auf 100 gerade mal 2,9 Sekunden. Jubel, geschafft!
Der Sohn aus einem alten Adelsgeschlecht sprüht vor Begeisterung. War es vorher noch pures Adrenalin, das er auf
die Umgebung übertrug, so schwappt jetzt unbändige Freude über. Wäre man mit etwas weniger Power und ergo effekti-
veren Grip nicht noch schneller? Er winkt
ab. »Immer alles, was geht.« Seine Lebens-
maxime. Denn Geulen ist und bleibt
Extremsportsmann. Neulich hat er Michael Schumacher mit seinem Ferrari herausgefordert: von null auf 300 km/h. Ohne Traktionskontrolle selbstverständlich. Fortsetzung folgt...
Nicht vom Gas gehen, hat Elmar Geulen geraten. Sonst bricht der Ladedruck ein, dann geht nichts mehr. Kaum zu
glauben, bei knapp 400 PS.
Ich stehe am Ampelbaum zum Start, hab den Reifen ebenfalls
per Burnout angewärmt. Doch der BT 56 ist ein Tourenreifen. Bis
der durchgewärmt ist, das dauert. Und dauert. Grün, Gas, einkuppeln. Meine Gedanken reduzieren sich auf das Notwendigste. Halten die Kette, das Karbonrad, der Reifen? Egal jetzt, im Fokus ist nur noch der Horizont. Das Hinterrad wimmert, jeder noch so winzige Zug lässt es durchdrehen, oder das Vorderrad schnellt himmelwärts. Adrenalin statt Blut. Bloß den Ladedruck nicht zusammenbrechen lassen, denke ich, und schalte jedes Mal, wenn das Überdruckventil des Turboladers zischt. Mit effektivem Vortrieb hat das Ganze nichts mehr zu tun.
Jetzt den vierten Gang rein. Endlich, denke ich, kann ich stärker aufziehen. Doch Pustekuchen im Wortsinn. Die MAB-Hayabusa schlingert, zieht einen fetten schwarzen Strich. Ich habe Mühe, die Fuhre
auf Kurs zu halten. Sicher bringt die verlängerte Schwinge etwas. Aber eben nur etwas. Die 400 Meter des Dragstrip sind längst vorbei, bis man so etwas wie Grip am Hinterrad spürt. Dies hier ist ein Projektil, das kaum mehr etwas mit einem Motorrad gemein hat.
400 PS in einem Bike machen sowohl auf der Rennstrecke als auch auf jeder normalen Straße oder der Autobahn überhaupt keinen Sinn. Doch darum geht es ja wohl nicht. Es geht einzig und allein
um den Kick, um den Augenblick.