»Wenn du über 300 km/h kommst, zahle ich eine Flasche Champagner«, gab Urs Wenger, der Motorenkonstrukteur im elf 500-Grand Prix-Team, seinem neuen Fahrer Jürgen Fuchs mit auf den Weg, als nach anderthalb Regentagen auf dem Circuit Paul Ricard in der Provence endlich der zweite Sechs-Runden-Turn möglich war. Fuchs nahm die Hürde mit Präzision. Exakt 300,4 km/h zeigten nur wenig später die Data Recording-Aufzeichnungen. Mit Rückenwind wurden später gar noch 308 km/h gemessen. »Das war nur ein km/h weniger als Carles Checa auf der V4-Werks-Honda«, stellte Wenger nicht ohne Stolz klar. Fuchs-Mechaniker Konrad Hefele hatte inzwischen Wenger veranlaßt, die Prämie in ein ausgewachsenes Faß Bier umzuwandeln, »schließlich sind wir jetzt großteils auch ein bayerisches Team«.
Aber alle gute Stimmung in der multinationalen Truppe aus Bayern, Schweizern, Franzosen und nicht zuletzt dem zweiten Fahrer im Team, dem Spanier Juan Bautista Borja, kann nicht über die Probleme hinwegtäuschen, die das Team auch noch in der sehr weit fortgeschrittenen Saisonvorbereitungsphase belästigen.
Banalitäten wie schlechtes Wetter behinderten die Testarbeit ebenso wie eine Verletzung von Jürgen Fuchs. Auf der spanischen GP-Strecke in Jerez war er Mitte Februar gestürzt und hatte sich dabei Knochenabsplitterungen sowie eine angerissene Sehne im rechten kleinen Finger zugezogen. Zwei Wochen später in Südfrankreich war der Aufsteiger aus Bayern alles andere als schmerzfrei: »Speziell in Kurven beim Umgreifen vom Bremsen zum Gasgeben tut es ziemlich weh.« So lag Fuchs bei den Paul Ricard-Tests noch fast drei Sekunden hinter Alex Crivillés letztjähriger Trainingsbestzeit beim Grand Prix zurück.
Auch Urs Wengers Partner auf der Chassis-Seite wäre gern schon etwas weiter in der Vorbereitung des ersten GP am 13. April in Malaysia. »Wir sind wie viele andere Teams etwas hinter dem Zeitplan«, bedauert Serge Rosset, als Chef der Spezialfirma ROC veranwortlich für die Fahrwerke und außerdem von Hauptsponsor und Teambesitzer Michel Métraux mit der Aufgabe des Teamkoordinators betraut, »aber uns trifft es härter, weil wir im Winter so viele konstruktive Änderungen erarbeitet haben, die jetzt auszusortieren sind.«
Tatsächlich entstanden in den ROC-Hallen im französischen Annemasse in der Nähe von Genf für die 1997er Saison vier unterschiedliche Chassis-Varianten. Dazu realisierte Motoren-Mann Wenger fast eine Handvoll Konfigurationen, die sich zwar nicht von den Grundfesten auf unterscheiden, aber immerhin in Sachen Vergaser, Zündreihenfolge, Kühlung und Beatmung verschiedene Wege gehen.
»Bei den Vergasern ist die Entscheidung bereits gefallen«, erklärt Wenger, »wir verwenden jetzt hochwertigere Mikuni-Vergaser mit 35 Millimeter Durchlaß statt den 39er Dellorto. Damit konnten wir neben zuverlässigerer Funktion den Spritverbrauch senken und den Durchzug bei niedrigeren Drehzahlen entscheidend verbessern.«
Form und Position der Airbox sowie der Atemwege zu den Vergasern sind derzeit der Schwerpunkt von Wengers Testprogramm.
Während Jürgen Fuchs Ende Februar auf dem Circuit Paul Ricard eine Maschine bewegte, die nach Auskunft von Urs Wenger dem Stand von 1997 schon sehr nahe kam, testete Teamkollege Borja noch eine stark unterschiedliche Zwitterversion, die im Gegensatz zum Fuchs-Bike mit geschlossenem Bugteil die Kühllufteinlässe noch oberhalb des Vorderrads hatte wie die 1996er elf 500 und sich in der Airbox deutlich unterschied.
Sehr interessant ist im übrigen die Einstellung im elf 500-Team zum Thema Big Bang. Sowohl Fahrer Jürgen Fuchs wie auch Ingenieur Urs Wenger sehen die vielgerühmten Vorteile der unregelmäßigen Zündreihenfolge weiterhin mit großer Skepsis. »Der Big Bang-Motor und das Triebwerk mit gleichmäßiger Zündreihenfolge zeigen auf dem Prüfstand keine signifikanten Abweichungen in Leistung und Drehmoment«, stellt Fuchs klar, »und ich halte, wenn auch nur aufgrund meiner bisherigen geringen Erfahrung mit den 500er Vierzylinder-Motoren, den Standard-Motor für angenehmer zu fahren als den Big Bang, der mit seiner ruckartigen Be- und Entlastung am Kurvenausgang Unruhe ins Fahrwerk bringt.«
Techniker Wenger, von Anfang der elf 500-Entwicklung an nicht unbedingt ein Verfechter der Big Bang-Philosophie, sieht darin immer noch nicht der Weisheit letzten Schluß: »Durch unsere in der Mitte geteilte und verzahnte Kurbelwelle sind wir mit relativ wenig Aufwand in der Lage, den Zündrhythmus zu ändern und können so sofort auf Streckenbedingungen und Fahrerbedürfnisse reagieren. Einen generellen konzeptionellen Vorteil des Big Bang-Konzepts sehe ich aber nicht.«
Das größte Zeitproblem sieht Jürgen Fuchs selbst weniger auf der Motorenseite als bei der Fahrwerksabstimmung: »Die Abstimmungsarbeit läuft im Moment noch in radikalen, eher grundlegenden großen Schritten ab. Es geht zunächst einmal darum, wie das Chassis reagiert. Feinere Maßnahmen sind erst möglich, wenn ein gewisser Bereich steht, innerhalb dessen Veränderungen sinnvoll sind.«
Daß speziell bei diesen Fahrversuchen eine Behinderung wie Jürgen Fuchs schlimmer Finger mehr als lästig ist, versteht sich angesichts der zahlreichen Kilometer, die hochkonzentriert und mit nur kurzen Pausen absolviert werden müssen, von selbst. Bleibt also zu hoffen, daß die Verletzung schnell ausheilt und die restlichen drei Testsessionen, zweimal wieder auf dem Circuit Paul Ricard und Ende März in Jerez ergiebig genug sein können, um ohne allzuviel Wagemut bei den ersten Grand Prix in Übersee die Elfer-Wette zumindest auf Platz setzen zu können.
Jürgen Fuchs vor der ersten 500er GP-Saison : elf er-Wette
Wohlüberlegt war Jürgen Fuchs Aufstieg in die 500er GP-Klasse. Ganz banale Störungen aber bringen das Testprogramm mit der kräftig weiterentwickelten elf 500 in Verzug.