Spricht ein Antiblockiersystem den Motorradfahrer beim Bremsen von allen Fehlern frei, oder kann er die Probleme selbst genauso gut lösen? Eine umfassende Analyse.
Spricht ein Antiblockiersystem den Motorradfahrer beim Bremsen von allen Fehlern frei, oder kann er die Probleme selbst genauso gut lösen? Eine umfassende Analyse.
Der Top-Test der Yamaha FJR 1300 mit ABS (MOTORRAD 6/2003) trieb sie auf die Barrikaden, die ultimativen Spät- und Megabremser und zementierte ihre Vorurteile. Eine rege Diskussion um die vermeintlich geringe Verzögerung von 8,4 m/s² wogte im MOTORRAD-online-Forum auf. Vermeintlich, weil Test-Profis unter Idealbedingungen je nach Motorrad-Typ Werte um zehn m/s² im physikalischen Grenzbereich schaffen. Gar einen technischen Mega-Flop vermutete Volker Deutschmann – der, oh Jammer, eine FJR 1300 A ohne Probefahrt »blind« geordert hatte. Seine einzige Hoffnung: dass es vielleicht doch nicht am ABS selbst, sondern an den Reifen, den niedrigen Außentemperaturen oder dem Vollmond gelegen habe. Bernd J. kommentiert: »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Yamaha wirklich so einen Mist konstruiert hat (...) Die Werte mit ABS sind exakt die, die jeder Normalbremser hinkriegt.«
Letztere Aussage wird – zu Recht – in anderen Beiträgen relativiert. »Bei aller berechtigter Kritik ist der Bremsweg immer noch kürzer als bei Otto Normalfahrer ohne ABS. Oder er liegt dann schon dank überbremstem Vorderrad auf’m Pinsel. Interessant wäre es, wie unterschiedlich die Verzögerung mit und ohne ABS nicht nur im Profibremser-, sondern auch im Normalobereich ist.« Just die Frage, die MOTORRAD nun endgültig klären will, nicht zuletzt, um fragwürdige Weisheiten ein für alle Mal auszuräumen.
Wichtige Vorarbeit hatte bereits das MOTORRAD ACTION TEAM im Rahmen der Veranstaltung »Motorradfahrer des Jahres 2002« geleistet. In den Vorrunden des Wettbewerbs müssen nämlich in der Disziplin Bremsen mehrere hundert Probanden aus einer Anfangsgeschwindigkeit von zirka 70 km/h innerhalb kürzester Zeit zum Stillstand kommen. Dabei zeichnet ein Messgerät exakt den Verlauf der Verzögerung sowie deren Betrag auf. Aus diesem üppigen Fundus konnte sich MOTORRAD ein umfassendes Bild machen.
Exemplarisch werden die Ergebnisse zweier bunt gemischter Gruppen analysiert, die gleich für eine handfeste Überraschung gut sind: Die durchschnittliche Verzögerung von 19 Fahrern der ersten Gruppe beträgt 6,2 m/s², ein Wert, der für sich betrachtet ganz ordentlich ist. Unter der Vorgabe jedoch, dass die Aktion ambitionierte Motorradfahrer anspricht, die ihr Fahrkönnen als ziemlich hoch einschätzen, erscheint dieser Wert allenfalls durchschnittlich. Und ist zudem weit entfernt vom Niveau, das die FJR 1300 mit ABS aufweist. Des weiteren bemerkenswert: Die Sportfahrerfraktion mit Yamaha R1, Honda Fireblade und Co. stellte sich keineswegs als überlegene Bremsenspezies heraus, sondern verzögert mit 6,1 m/s² im Durchschnitt sogar noch geringfügig schlechter als der Rest der Motorradwelt. Absoluter Spitzenreiter ist R 1150 GS-Fahrer Aaron T. Er schafft – dank ABS – eine mittlere Verzögerung von 7,9 m/s², ohne dabei aber das Potenzial des Antiblockiersystems ganz auszuschöpfen.
Die zweite Vorrundengruppe mit 26 Fahrern bremst die erste mit einer durchschnittlichen Verzögerung von 6,8 m/s² förmlich aus. Doch bei der Analyse klärt sich die Differenz schnell auf. Nicht weniger als sechs BMW-Boxer- und F 650 GS-Fahrer mit ABS treiben den Schnitt der Gruppe in die Höhe. Mit Verzögerungen von 7,2 bis 8,1 m/s² liegen sie deutlich über ihren Mitbewerbern. Nur ein einsamer Yamaha TDM-Fahrer kann mit 8,1 m/s² in der Spitzengruppe der ABS-Bremser mitmischen.
Betrachtet man den Verzögerungsverlauf, belegen die Messungen glasklar: Selbst überdurchschnittlich routinierte Motorradfahrer schöpfen das Potenzial ihrer Bremsen nicht annähernd aus, weil auch sie gravierende Fehler machen. Nutzt der Normalfahrer im Ernstfall die Möglichkeiten seiner Stopper weit weniger als 50 Prozent, tun sich beim Verzögern erfahrene Zweiradler ebenfalls schwer, verlieren Zeit und damit wertvolle Meter. Der Grund: Über die Geschwindigkeit informiert der Tacho, bei der Verzögerung muss sich der Pilot allein auf sein Gefühl verlassen. Und das trügt oftmals. Zwar erzielen einzelne Probanden im Verlauf ihrer Bremsung durchaus Werte von bis zu 10,0 m/s², doch ihr zögerlicher Bremsdruckaufbau macht eine gute Gesamtverzögerung zunichte. Über die Hälfte der Piloten starten den Bremsvorgang mit extrem geringem Bremsdruck und steigern ihn kontinuierlich bis zum Ende der Bremsung. Eine instinktive Verhaltensweise, die aus Angst vor dem tückischen Überbremsen verständlich ist, aber bereits zu Beginn der Bremsung enorm viel Weg verschenkt.
Allein ein ABS kann den schnellen Bremsdruckaufbau gefahrlos bewerkstelligen. Eine Tatsache, die die weitgehend guten Ergebnisse der Fahrer mit Antiblockiersystem belegen. Die resultieren nicht zuletzt aus dem bedenkenlosen Griff in die Bremse, bereits nach zwei bis drei Zehntel Sekunden erreichen sie 80 Prozent ihrer maximalen Verzögerung. Doch nicht nur zu Beginn der Verzögerung werden ohne ABS wertvolle Meter verschenkt, sondern auch im weiteren Verlauf. Viele Fahrer steigern den Bremsdruck zwar kontinuierlich, bekommen aber weit vor der Blockiergrenze Angst vor der eigenen Courage – und lösen die Bremse kurzzeitig komplett; um dann erneut reinzulangen.
Bei den meisten Teilnehmern der Aktion »Motorradfahrer des Jahres« überlagern sich gleich mehrere Schwächen. Von insgesamt 45 Fahrern bauen 25 den Bremsdruck zu langsam auf,16 davon lösen die Bremse aus Angst vor dem Überbremsen völlig unnötigerweise weit vor der Blockiergrenze. Ernüchterndes Fazit: Von 45 Routiniers verdienen sich in der Disziplin Bremsen ganze acht das Prädikat gut, davon stammen drei aus dem ABS-Lager. Und das, obwohl die Fahrer dank vorheriger Kenntnis der Übung Zeit und Gelegenheit zum Training hatten. Eine Gelegenheit, die es beim anberaumten Lokaltermin von MOTORRAD nicht gibt.
Einsteigerin trifft Routinier bei der MOTORRAD-Aktion: »Besser bremsen mit ABS« Fünf Motorradfahrer (siehe untenstehende Links) mit ganz unterschiedlichen Ambitionen und Erfahrungen zeigen zunächst auf der Landstraße, wo sich das Verzögerungsniveau im realen Motorradleben bewegt. Alle Fraktionen sind vertreten: von der Einsteigerin Mirjam Müller über die Normalfahrer Daniel Alves de Jesus und Manuel Fuchs bis hin zum Sportfahrer Oliver Noske oder dem abgebrühten Routinier und Kilometerfresser Volker Deutschmann - genau jenem, der die Diskussion über das ABS der Yamaha FJR 1300 A im MOTORRAD-online-Forum losgetreten hatte.
Die erste Übung: Jeder Fahrer fährt einen Rundkurs von 35 Kilometern im schwäbisch-fränkischen Wald, der von engen, unübersichtlichen Biegungen bis zu ultraschnellen, weit überschaubaren, in Berg und Tal gebetteten Wechselkurven alles zu bieten hat, was des Motorradfahrers Herz begehrt. Jeder Pilot muss den Kurs ohne Streckenkenntnis und Vorausfahrenden absolvieren, genau wie auf der Ferntour im wirklichen Leben. Zur Wahl stehen je nach persönlichem Gusto ABS-Motorräder ganz unterschiedlicher Couleur. Die Palette reicht von der BMW F 650 GS über die sportlichen Tourer Honda VFR und Ducati ST 4S bis zum Powertourer Yamaha FJR 1300 A. Während Einsteigerin Mirjam die BMW F 650 bevorzugt, greifen Daniel und Manuel zur VFR, Ducati-998-Fahrer Oliver selbstverständlich zur Ducati ST 4S und FJR-Eigner Volker, wie könnte es anders sein, zur Yamaha. Die Maschinen sind mit Data-Recording bestückt, das bei jedem Turn exakt den Geschwindigkeitsverlauf und die Verzögerung aufzeichnet.
Das Ergebnis: Die durchschnittlichen Verzögerungen aller Probanden bewegen sich zwischen zwei bis drei m/s². Wobei es sich wohlgemerkt nicht um Vollbremsungen bis zum Stillstand handelt. Auch bei den Spitzenwerten liegt das Mittelfeld mit 4,2 bis 4,4 m/s² dicht beieinander. Als ausgewiesener Top-Bremser outet sich Volker. Seine Verzögerungen liegen tendenziell höher. Ein einziges Mal verzögert er sogar mit 6,4 m/s². Nach dem Grund befragt, liefert er augenblicklich die Erklärung: »Ich wollte ausprobieren, ob das ABS regelt.« Dazu müsste er die Stopper allerdings weit heftiger aktivieren.
Diese Chance bietet sich den Kandidaten kurze Zeit später. Vom schwäbisch-fränkischen Wald geht es auf direktem Weg ins badische Motodrom von Hockenheim. Auf abgesperrtem Terrain kann sich jeder Fahrer nicht nur an die eigenen, sondern – dank ABS – auch gefahrlos an die Grenzen der Physik herantasten. Die Aufgabenstellung: Er soll aus einer Anfangsgeschwindigkeit von 100 km/h eine Vollbremsung an seinem persönlichen Limit absolvieren – und zwar ohne Netz und doppelten Boden des Antiblockiersystem. Die Fahrer wissen nicht, ob das ABS aktiviert ist oder nicht. Wieder zeichnet ein Messgerät jede Verzögerung auf, zusätzliche Weg- und Geschwindigkeitsmessungen untermauern die einzelnen Ergebnisse.
Und die fallen ganz unterschiedlich aus: Zwischen 5,5 und 7,0 m/s² reicht die Bandbreite und liegt damit exakt in dem Bereich, den die »Motorradfahrer des Jahres« bereits vorgaben. Erneut fällt Volker aus dem Rahmen und bremst die anderen gnadenlos aus. Er benötigt am Anfang Zeit, um eine hohe Verzögerung aufzubauen, steigert sich dann aber bis ans Limit der FJR ohne ABS von 9,5 m/s². Hätte er zu Beginn der Bremsung nicht so viele Meter liegen lassen, käme er auf ein absolutes Topresultat. Doch auch respektable 7,9 m/s² im Durchschnitt können sich sehen lassen. Dennoch verfehlt er das Maximum der FJR mit ABS klar.
Als nächstes gilt: Übung macht den Meister. Nun sollen die fünf im Vertrauen auf das ABS ihre eigenen Grenzen verschieben und anschließend Erfahrungen mit den unterschiedlichen Systemen sammeln. Mirjam steigert sich nach zahlreichen Bremsungen mit der BMW in Sphären von über acht m/s² und gibt zu Protokoll, dass für noch höhere Verzögerungen ihre Handkraft nicht ausreiche. Wobei es sich jedoch eher um eine psychologische Barriere handeln dürfte. Daniel schöpft das Potenzial der VFR knapp unter der Regelgrenze fast vollständig aus. Das gleiche gilt für Manuel. Oliver steigert sich im Vertrauen auf die elektronischen Helfer bis auf zehn m/s², ein Bereich, in dem die Ducati langsam anfängt, das Hinterrad zu heben, aber noch nicht regelt. Lediglich Volker überlistet bei einzelnen Bremsungen durch dosierten Bremsdruckaufbau das ABS der FJR und schafft so bis zu 9,5 m/s². Zur Ehrenrettung der anderen sei erwähnt, dass der Routinier in der Vergangenheit bereits verschiedene ABS-Systeme getestet hat. Mit Regelung pendelt er sich auf die Yamaha-typischen 8,5 m/s² ein.
Nach den Erfahrungen mit den drei anderen Motorradmodelle kommen bei der Einschätzung der Antiblockiersysteme alle fünf Fahrer unisono zum gleichen Ergebnis: Das ABS der VFR ist unter den getesteten Systemen die erste Wahl. Es stellt keinen Fahrer vor ernsthafte Probleme. Selbst der kritische Volker Deutschmann stimmt wie die anderen Teilnehmer der Erkenntnis zu, dass ABS ein enormer Zugewinn für die Sicherheit ist. Das Potenzial eines Antiblockiersystems liegt haushoch über dem eines jeden Normalfahrers. So hoch, dass diese es selbst nach vielen Bremsungen oft noch nicht ausnützen können.
Immerhin erreichen vier der fünf Kandidaten am Abend Verzögerungen, von denen sie zu Beginn des Testtages nur träumen konnten. Die Dimensionen, das Wissen, was machbar ist, haben sich gewaltig nach oben verschoben. Allerdings erst nach intensiver Übung. Doch ABS kann noch viel mehr leisten. Nämlich den Unwägbarkeiten des Alltags wie plötzlich auftauchenden Hindernissen, nasser Fahrbahn oder gar rutschigen Bitumenflicken in der Bremszone Rechnung zu tragen. Solche Übungen sind, wie MOTORRAD schon in Zahlreichen Versuchen ermittelt hat, ausschließlich mit ABS zu bewältigen und hätten einen weiteren Testtag in Anspruch genommen.
Im Gegensatz zur Absolution im Mittelalter, die gegen bare Münze den Ablass der Sünden vorgaukelte, bietet heute jedes ABS für 500 bis 1000 Euro ein handfestes Sicherheitsplus, das im Ernstfall die Investition schnell wieder hereinspielt, von der Gesundheit ganz zu schweigen. Das hat der Test eindeutig bewiesen. Und nebenbei Volker beruhigt. Er wird nun doch seine alte Yamaha FJR 1300 gegen die neue tauschen. Denn ein Mega-Flop ist deren Antiblockiersystem keineswegs. Doch eine Forderung bleibt: »Ich erwarte von Yamaha, dass sie das ABS noch verfeinern.«
Der angehende Textredakteur der MOTORRAD-Schwesterzeitschrift PS verfügt über gut 20000 Kilometer Fahrpraxis. Die Einschätzung seines Fahrkönnens: nicht mehr Anfänger, noch lange kein Könner. ABS hält er bei dicken Brummern für sinnvoll, bei Sportlern ist es für ihn eher kontraproduktiv. Die Technik muss seiner Meinung nach erst noch reifen. Der Praxistest zeigt, dass er zügig unterwegs ist: Auf der Landstraße verzögerte er mit 3,0 bis 4,4 m/s² vergleichsweise ordentlich. Bei seinem ersten Versuch in Hockenheim (siehe Diagramm) benötigt Manuel dann aber über eine Sekunde Zeit, um den Bremsdruck aufzubauen, regelt zudem stark nach und löst weit vor dem Stillstand die Bremse. Das Resultat: Trotz Spitzenwerten von knapp über 9,0 m/s² erreicht er nur eine durchschnittliche Verzögerung von 6,2 m/s². bei den anschließenden Übungen schöpft er das Potenzial des VFR-ABS, seine erste Wahl beim Test, mit Werten um 9,0 m/s² erst nach vielen Bremsungen annährend aus.
Die ACTION-TEAM-Mitarbeiterin machte ihren Führerschein erst Ende 2001, fuhr seitdem ganze 4000 Kilometer. Zu Beginn des Tests wählt die Einsteigerin die BMW F 650 GS, weil ihr der Einzylinder ein unkompliziertes Fahrverhalten suggeriert. Während der Landstraßenfahrt pflegt Mirjam einen runden und weichen Fahrstil und verzögert mit maximal 3,0 m/s². Auf abgesperrter Strecke steigert sie beim ersten Versuch den Bremsdruck zwar relativ zügig, verharrt dann aber mit ständigem Nachregeln auf relativ niedrigem Niveau. Daraus resultiert eine durchschnittliche Verzögerung von 5,5 m/s². Mirjam hadert mit den für sie zu hohen Handkräften der BMW-Bremse und erreicht selbst nach mehr als einem Dutzend Bremsungen nur einen durchschnittlichen Wert von 8,0 m/s². Mit dem spontaner agierenden ABS der Honda VFR kommt sie besser zurecht, was auch am Verbundbremssystem Dual-CBS liegt. Mit dem Sporttourer freundet sich sich auf Anhieb an und erreicht sofort 9,1 m/s² im Durchschnitt und damit fast das Maximum der Honda.
Der derzeitige Praktikant bei MOTORRAD verfügt über 15000 Kilometer Fahrpraxis und hält ABS schon vor dem Test für sinnvoll. Derzeit besitzt Daniel kein eigenes Motorrad, ist also nicht in Übung. Trotzdem lässt er es bei der Landstraßenrunde flott angehen, verzögert die VFR im Bereich von 2,0 bis 3,0 m/s² mit einem einzelnen Spitzenwert von 4,2 und bestätigt damit die Einschätzung seines Fahrkönnes »mittel bis gut.« Auf abgesperrter Strecke braucht Daniel bei der ersten Bremsung mit der Honda VFR extrem lang, bis er das Maximum von 9,0 m/s² erreicht. Dadurch pegelt sich die durchschnittliche Verzögerung bei 6,9 m/s² ein. Bei den weiteren Versuchen bestätigt Daniel seine Einschätzung zum ABS: Je mehr man übt, desto besser klappts. Er steigert sich kontinuierlich von Bremsung zu Bremsung bis auf 9,0 m/s², bleibt damit aber knapp unter der Regelgrenze des ABS der Honda VFR. Ein sehr guter Wert. Sein Fazit: ABS gibt einem ein total sicheres Gefühl, am wohlsten fühlt auch er sich auf der Honda.
Volker wünscht sich grundsätzlich für jedes Motorrad ABS, er verfügt mit knapp 300000 Kilometern über eine überwältigende Fahrpraxis. Das schlägt sich bereits auf der Landstraße mit Werten von 3,0 bis 4,7 m/s² nieder. Auch in Hockenheim bestätigt der ehemalige R1- und jetzige FJR 1300-Fahrer seine solide Selbsteinschätzung: Touristisch, flott und sportlich lässt er es angehen und steigert sich gegen Ende seiner ersten Bremsung auf 9,5 m/s², das Maximum der Yamaha FJR, was ihm den Spitznamen »Volk the brake« einbringt. Bei einem schnelleren Bremsdruckaufbau hätte Volker absolute Spitzenwerte erreicht, so bleibt es bei guten, aber eben nicht sensationellen 7,9 m/s². Anschließend überlistet er durch gefühlvolles Dosieren das ABS der FJR und erreicht Maximalwerte von 9,4 m/s². Der Routinier reizt auch das ABS der Ducati ST 4S aus, was beinahe mit einem Überschlag endet. Das ABS der Honda hält er dagegen für »narrensicher und wirklich klasse« und revidiert seine anfängliche Abneigung gegen Verbundbremssysteme.
Sportlicher Freizeitfahrer mit 60000 Kilometern Fahrpraxis, so lautet Olivers Selbsteinschätzung. Er hält ABS dann für sinnvoll, wenn es abschaltbar ist, fährt derzeit eine Ducati 998 und wählt, wenig überraschend, zunächst die ST 4S. Auf der Landstraße verzögert er vergleichsweise stark mit 3,5 bis 4,4 m/s². In Hockenheim überzeugt Oliver bei der ersten Bremsung durch schnellen Bremsdruckaufbau von drei Zehntelsekunden erzielt maximal aber nur rund 7,3 m/s², löst lang vor dem Stillstand die Bremse und verschenkt so unnötig Bremsweg. Resultat: durchschnittlich 5,8 m/s². Nach mehreren Bremsungen mit der Ducati steigert er sich auf 10,0 m/s² und hält damit das Hinterrad gerade noch am Boden. Mit der VFR, die der überzeugte Ducatisto erst nach viel Zureden fährt, bremst er auf sofort in den Regelbereich und zeigt sich von ihrem Bremssystem auf Anhieb begeistert: »Meine 998 mit dem VFR-ABS wäre die ideale Kombination«, lautet sein Credo nach dem Test.
Das ABS der F 650 GS arbeitet höchst funktionell und problemlos. Es kombiniert hohe Verzögerung, Fahrstabilität im Regelbereich und Überschlagssicherheit. Nur Einsteigerin Mirjam Müller beanstandete die hohe Handkraft. Die fällt bei den Boxermodellen mit ABS dank des Bremskraftverstärkers gering aus. Allerdings arbeitet deren Antiblockiersystem in manchen Situationen nicht ganz so problemlos. Die zuletzt getesteten R 1150 GS und S erkennen neuerdings offensichtlich die Neigung zum Überschlag bei Extrembremsungen und reagieren mit dem Öffnen der Bremse am Vorderrad. Auch unter ungünstigen Bedingungen wie welliger Fahrbahn oder beim Zurückschalten während eines Bremsvorgangs gibt das ABS die vordere Bremse gelegentlich überdurchschnittlich lange frei, so dass sich der Bremsweg deutlich verlängert.
BMW-Pressesprecher Jürgen Stoffregen kommentiert: "Die Software zum Erkennen eines abhebendes Hinterrads ist schon seit der R 1100 RT in Serie. Dabei handelt es sich um ein indirektes Messverfahren, das aus dem Bremsdruck hinten und dem Geschwindigkeitsverlauf des Hinterrads auf Abheben schließen kann. Als Parameter wird nur die Auslöseschwelle, ab der die Funktion freigeschaltet wird, fahrzeugspezifisch appliziert. Sonst ist alles gleich. Die Einflüsse welliger Fahrbahnen sind bekannt. Den Zusammenhang mit Herunterschalten kennen wir nicht. Nach unserem Verständnis stempelt dann das Hinterrad, was zu Bremswegverlusten führen kann. Der Verzögerungsanteil des Hinterrads ist aber bei Vollbremsungen wegen der dynamischen Radlastverlagerung sehr gering und eigentlich vernachlässigbar."
Bei der Ducati ST 4S greift die Regelung des Antiblockiersystems beim Bremsen erst extrem spät ein. Wenn der Fahrer auf Fahrbahnen mit guten Reibwerten die Bremse im Ernstfall nicht löst, kann sich das Motorrad überschlagen. Dieses Verhalten führte bei den Testkandidaten zu äußerster Zurückhaltung im Umgang mit der Ducati.
Ducati-Pressesprecher Kuttruf kommentiert: »Die Auslegung und damit das Verhalten in der Praxis ist so gewollt. Das sportliche ABS regelt ganz bewusst erst unter widrigen Bedingungen wie im Nassen. Auf trockener Piste lässt sich das ABS auch von Profis praktisch nicht zum Einsatz bringen. Von einem Problem kann also nicht wirklich die Rede sein. Eher von einem Erfolg für die Sportfahrer. Sie werden im Trockenen nicht eingeschränkt und genießen unter schwierigen Bedingungen mehr Sicherheit. Das ABS wird dem Kunden genauso erklärt. Mit diesem Wissen sollten auch die Überschläge ausbleiben und zumindest nicht häufiger sein als bei Nicht-ABS-Fahrern.«
Eine Argumentation, die sich selbst ad absurdum führt. Denn bei Sportmotorrädern mit extrem haftfähigen Reifen hebt vor dem Blockieren des Vorderrads in der Regel das Hinterrad von der Fahrbahn ab. Ein »Sport-ABS« muss also zusätzlich zur Verhinderung der Blockade der Räder auch die Verzögerung auf den Wert begrenzen, ab dem der Überschlag droht. Nur so kann der Fahrer jederzeit ohne zu überlegen schnellen Bremsdruckaufbau mit maximaler Verzögerung kombinieren.
Letztlich spielt es keine Rolle, ob der Fahrer wegen eines blockierten Vorderrads oder eines sich überschlagenden Motorrads stürzt. Beides ist gleichermaßen fatal und deshalb inakzeptabel. Um den Anspruch Sport-ABS zu erfüllen, sollte Ducati also schnellstens nachbessern.
Das ABS der Honda VFR überzeugte im Test. Sämtliche Teilnehmer von der Einsteigerin bis zum Routinier fühlten sich mit dem System der VFR am wohlsten, unter anderem deshalb, weil die Techniker die Überschlagsgefahr berücksichtigten und die maximale Verzögerung auf 9,3 m/s² begrenzten. Selbst die Sportfahrer wünschen sich dieses System. Der Hersteller scheint diesem Thema nicht abgeneigt, setzt aber andere Prioritäten.
Klaus Bescher, Product Planning Manager von Honda Motor Europe North: "Unserer Auffassung nach ist die VFR das sportlichste japanische Motorrad mit einem Antiblockiersystem. Die Mehrzahl der deutschen Kunden entscheidet sich für die Version mit CBS und ABS. Die VFR bewegt sich allerdings auch in einem Preissegment, in dem die Honda-Fahrer bereit sind, den Aufpreis für das ABS zu bezahlen. Bei deutlich preisgünstigeren Modellen, wie beispielsweise einer Honda Hornet 600, sehen wir das kritischer. Bislang haben wir bereits 14 Modelle mit CBS beziehungsweise ABS ausgestattet und werden das Angebot zukünftig marktorientiert erweitern. Das Thema Supersportler mit ABS steht für uns nicht an erster Stelle, da wir für dieses Segment noch weiteres Entwicklungspotenzial bei den herkömmlichen Bremssystemen sehen."
Der Erfolg des preisgünstigen, 500 Euro teuren ABS in der BMW F 650 GS widerspricht der Einschätzung von Honda. Nicht weniger als 98 Prozent der Kunden ordern die F 650 GS, die genauso viel kostet wie eine 600er-Hornet, mit dem Sicherheitsmerkmal. Die Käufer haben den Mut von BMW belohnt, das sollte den Honda-Strategen zu denken geben.
Die FJR 1300 A erreicht im Regelbereich Verzögerungswerte von durchschnittlich 8,5 m/s² und damit schlechtere Ergebnisse als vergleichbare Modelle. Yamaha GTS 1000 A und FJ 1200 A verzögerten bereits vor einem Jahrzehnt auf diesem Niveau. MOTORRAD-Messungen belegen, dass die schlechte Regelqualität mit starken und langen Verzögerungseinbrüchen ein besseres Resultat verhindert. Das zeigt auch die ungewöhnlich große Diskrepanz zur FJR ohne ABS, die selbst bei 9,5 m/s² das Hinterrad noch am Boden hält.
Yamaha-Pressesprecher Karlheinz Vetter kommentiert: "Wir sind der Meinung, dass ein ABS die Hauptaufgabe hat, es dem Fahrer zu ermöglichen, in möglichst allen erdenklichen Fahrsituationen sichere Vollbremsungen zu erreichen. Der Realisierung eines minimalen Bremswegs wurde dabei nicht die allerhöchste Priorität gegeben. Ein minimaler Bremsweg stellt nicht immer unbedingt das Optimum für den Fahrer dar, da im Grenzbereich durchaus die Gefahr eines Überschlags bestehen kann. Dies wurde auch in MOTORRAD bei früheren Tests von ABS-Systemen anderer Hersteller reklamiert. Man macht bei der FJR also bewusst geringe Abstriche bei der maximalen Bremsverzögerung, um damit unter allen Umständen ein sichere Vollbremsung zu erreichen. Wir sollten auch berücksichtigen, dass das System auf Fahrer ausgelegt ist, deren Fahrkönnen sich im normalen Rahmen bewegt und nicht auf Profis, die aus dem System den letzten Zentimeter Bremsweg realisieren können."
MOTORRAD hat ein Trostpflaster parat. Die Umstellung auf Bremsbeläge mit deutlich höherem Reibwert gegenüber dem Serienbelag hob die Verzögerung mit ABS um 0,5 auf glatte 9 m/s² an. Unabhängig davon sollte Yamaha seine Software dringend überarbeiten.
Der Erfolg von BMW-Motorrädern basiert zu einem gut Teil auf der Tatsache, dass die komplette Modellpalette mit ABS ausgerüstet werden kann. Die überwältigende Mehrheit der Kundschaft ordert ABS als Extra oder erhält es sogar serienmäßig. Die Bayern beschäftigen sich schon seit Jahren mit diesen Sicherheitsfeatures und vermarkten es offensiv. Umso mehr verwundert es, dass andere Hersteller sich des Themas ABS eher zaghaft annehmen. Über die Gründe darf spektuliert werden, Honda beweist mit der VFR eindrucksvoll, wie gut ein japanisches ABS in Verbindung mit einer Intergralbremse funktionieren kann. Alle fünf Testteilnehmer erreichen mit der VFR hervorragende Verzögerungswerte, alle fühlen sich beim Bremsen am physikalischen Limit pudelwohl, egal, ob Einsteigerin oder Routinier.
Auch haben einige aus dem Supersportlager ihre Meinung zu ABS nach diesem Testtag revidiert. Hat gar nicht wehgetan, diese Selbsterfahrung. In der Sportfraktion herrscht leider noch immer die hartnäckige Meinung vor, ABS sei etwas für die Tourer- und Gore-Tex-Fraktion, aber nichts für echte Sportler. Gerade so, als mache ABS langsam. Was für ein Irrglaube. Ich spreche aus leidvoller Erfahrung. Im letzten Jahr verunglückten zwei meiner Freunde schwer. Zweimal die klassische Nummer mit dem Trecker und dem Feldweg. Zwei fatale Unfälle: Einer rammte samt Italo-Supersportler den Anhänger und wird noch lange mit den Folgen der Verletzungen zu schaffen haben. Für den anderen endete es tödlich. Er überschlug sich beim Bremsen und brach sich das Genick.
Unfälle, ich weiß, ein Tabu. Wird totgeschwiegen, manchmal im wahrsten Sinne des Wortes. Motorradfahren ist für mich das faszinierende Hobby der Welt. Es birgt Risiken, dessen bin ich mir bewusst. Jede Art der Fortbewegung kann tödlich enden. Schon klar. Aber bewusst auf ABS zu verzichten oder es für Supersportler nicht anzubieten ist fahrlässig. Genau wie der Erklärungsversuch von Ducati für das so genannte »Sport-ABS«, das genau den Ansprüchen der Kundschaft entspreche soll. Wenn es selbst Testprofis schwer fällt, damit am Limit zu bremsen, wie sollen es dann ganz normale Menschen geregelt bekommen. Vielen Dank für den Versuch, Ducati, doch ausgereift ist das System erst dann, wenn kein Überschlag mehr droht. Das wäre ein echtes Sport-ABS. Keiner unserer Teilnehmer wollte nach dem Beinahe-Salto von Volker das System ausreizen, weil ihnen auf gut deutsch der Arsch hochging. Ich bin überzeugt: Sobald Rossi und Co. auf der Rennstrecke mit ABS auch nur ein Zehntel pro Runde gewinnen würden, wären binnen kurzer Zeit alle Supersportler ohne ABS unverkäufliche Museumsstücke.