Noch mal 17 sein. Wie oft hört und hat man diesen Wunsch? Doch mal ehrlich damals war auch nicht alles besser...
Noch mal 17 sein. Wie oft hört und hat man diesen Wunsch? Doch mal ehrlich damals war auch nicht alles besser...
Der Eddigerhäuser Berg trennte die Spreu vom Weizen. Wie mit der Fliegenklatsche geplättet kauerten wir hinter den Lenkern, Pobacken zusammen, die rechte Hand um den voll geöffneten Gasgriff gekrampft. Meine Augen flackerten zwischen Tacho, Blick voraus und dem Rückspiegel hin und her. Unter mir keuchte der kleine Zweitaktmotor einer Yamaha DT 50 M. Vor mir spie Olafs gelbe Vespa P 50 ihren Zweitaktnebel aus, an meinem Rücklicht klebte mein bester Kumpel Chaos mit seiner frisierten Malaguti Ronco. Die Szene hatte was. Denn der Eddigerhäuser Berg wartet auf der Südseite mit 20 Prozent Steigung auf. Und der Topspeed unserer Böcke betrug hier höchstens 26 km/h. Rückenwind vorausgesetzt.
Wir schreiben das Jahr 1982. Es war Ende Mai, und die Welt war in bester Ordnung. Kein Weg schien uns zu weit. Dauerlauf hieß noch nicht joggen und spät frühstücken nicht brunchen. Wir schenkten unseren Angebeteten selbst aufgenommene Kassetten, auf denen zwischen den Songs meist Wortfetzen der Moderatoren zu hören waren. Es gab lediglich drei Fernsehsender, wovon einer nur bei gutem Wetter zu empfangen war, und BMW drehte seinen Kunden jetzt schon im zweiten Jahr kalt gepresstes Stahlblech in der fetten Monsterenduro R 80 G/S als obere Gabelbrücke an. Fast jeden Abend trafen wir uns auf der Parkbank am oberen Dorfende. Sie stand gegenüber von Olafs Haustür. Und Alfred, Olafs Vater, war Getränkehändler. Ein günstiger Zufall. Die Böcke wurden
gut sichtbar geparkt und mindestens alle zwanzig Minuten kurz bewegt. Vor allem, wenn die Mädels bei uns saßen und wir reelle Chancen witterten, sie am kommenden Tag ins Freibad mitnehmen zu dürfen. Zwischendurch griffen wir gut gekühltes Bier aus Alfreds Lager ab. Ein rundherum perfektes Leben.
Bis zu einem Dienstagabend im Juni. Die Luft schien so dick, dass selbst ein Ohnmächtiger nicht umfallen könnte, der Vollmond hing rotblond und riesig unter spärlichen Wolken. Olaf hatte schon den ganzen Abend still in sich hineingegrinst. Kurz vor Mitternacht ließ er die Katze aus dem Sack. »Morgen kommt sie«, lächelte er. »Alfred wird die Vespa weiterfahren. Und ich bekomme eine neue DT 80 MX.« Natürlich hätte ich mich mit ihm freuen können. Doch diese Nachricht traf. Genauso gut hätte uns jemand prophezeien können, niemals eine Freundin zu haben. Chaos stammelte etwas von »dringend Kühe misten«, kickstartete die Ronco, und ich hatte urplötzlich Kopfweh. Als ich auf den kleinen Hof vor unserer Garage rollte, stand mein Vater da und rauchte. Er rauchte eigentlich immer. »Olaf bekommt morgen eine Achtziger«, hörte ich meine Stimme wie in Trance. Mein Vater zog lange an seiner Zigarette, blies den Rauch in den Sternenhimmel, seufzte und sagte etwas, was ich bis dato schon tausend Mal von ihm gehört hatte: »Fuffzig, achtzig oder tausend was solls? Die Japse heute kannste doch alle vergessen. Damals, die DKW, das sach ich dir, die konnste in Bach werfen, aufheben, ein Tritt schon lief se.« Hatte irgendjemand je tröstendere Worte empfangen?
Man kann der Realität nicht entkommen. Als Olaf seine DT heimpilotierte, schaute ich demonstrativ weg. Drei lange Tage mieden wir erfolgreich jeglichen Kontakt. Dann kam der schwarze Freitag. Chaos und ich kämpften uns im zweiten Gang den Eddigerhäuser Berg hoch. 20 km/h. Vielleicht auch 22. Die Soziussitze besetzt mit Petra und Silke. Wir waren auf dem Weg ins Freibad, als der Blitz in unsere Rückspiegel einschlug. Es war Olaf. Auf seiner verdammten Achtziger, na klar. Das Duo schoß mit mehr als dreifacher Überschallgeschwindigkeit an uns vorbei und hinterließ einen Kondensstreifen verbrannten Zweitaktöls. Im Freibad lagerten wir in zwei Gruppen. Olaf in Sandwichform zwischen Petra und Silke. Chaos und ich verschwörerisch wie Ölsardinen. Es folgten dramatische Wochen. Wir experimentierten mit allen uns bekannten Tuning-Tricks. Tankten nur Superbenzin, montierten Raschgasgriffe von Magura, größere Ritzel, dünnere Kopfdichtungen und versaubeutelten die Steuerzeiten mit einer Feile. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Chaos Ronco lief kurzzeitig 70 Sachen, meine DT rang die 60 nieder. Zwei Tage später hatten beide Mopeds Kolbenfresser.
Am 27. Juli schließlich war die Welt durch eine aufgegangene Rechnung wieder im Lot: Erlös für eine schreckheftgepflegte 50er plus verständnisvolle Großeltern ergab Chancengleichheit. Chaos hatte sich bereits tags zuvor eine silberne Hercules Ultra 80 AC geleistet. Und ich stand pünktlich um 11 Uhr auf dem Hof von A. Steiger. In der Hand 1500 Mark. A. Steiger nahm sie entgegen, überreichte meinem Vater den Kfz-Brief und mir den Zündschlüssel. Dann ging endlich das Tor und für mich die Sonne auf. Dort stand sie. Geputzt, gepflegt, poliert, Verschleißteile neu. Eine Honda MT 8. Die Karten waren neu gemischt.
Aber nicht einfach zu spielen. Den Abend verbrachten wir, nun, nachdem wir alle endlich eine Achtziger hatten, wieder vor Olafs Heim. Saßen auf der Bank und gafften auf die Bikes. Zwischen DT und Ultra wirkte meine MT 8 wie zu heiß gewaschen und eingelaufen. »Fährt sie so, wie sie aussieht?« frotzelte Olaf. Wohl wissend, dass die Frage kommen musste, vertraute ich auf die technischen Daten. Yamaha DT 80 MX: 6,8 PS. Honda MT 8: acht PS. »Die rennt sogar mit zwei Personen schneller als deine Krücke solo den Eddigerhäuser Berg rauf.« »Niemals!« Die Kraftprobe sollte am kommenden Tag stattfinden. Darauf tranken wir. Chaos wollte rauchen. Der nächste Zigarettenautomat stand im Nachbardorf, durch den Wald lediglich drei Kilometer. Ein zerfurchter Feldweg verband beide Orte. »Fahr mich hin«, sagte Chaos. »Dann können wir schon mal checken, ob deine Kiste morgen tatsächlich Chancen hat.« Nun sollte man fairerweise erwähnen, dass Chaos im wirklichen Leben Rüdiger Wohlgenuss hieß und seinem Nachnamen alle Ehre machte. Chaos schleppte ballettfeindliche 100 Kilogramm auf die Waage und brachte die vierfach verstellbaren Stoßdämpfer der MT selbst in der härtesten Einstellung zur Verzweiflung. Ich gab alles. Vier Bier in der Blase, acht PS unterm Hintern, zwei Zentner im Nacken. Dazu ein Speed, der, vorsichtig ausgedrückt, mehr als gewöhnungsbedürftig war. Die MT 8 fuhr mit uns. Nicht wir mit ihr. Es ging durchs Unterholz. Hecke auf, Hecke zu. Wir schlugen Haken, strauchelten, fuhren unfreiwillig Wheelies, frästen neue Fahrrillen und stürzten mehrmals. Durch den Wald dauerte es fast doppelt so lange wie mit meiner 50er. Chaos legte die Stirn in Falten. Dann kam der Asphalt. Bekanntes Terrain.
Was ich allerdings nicht kannte, war die neue Baustelle. Es wurden überall neue Abwasserrohre verlegt. Wir brausten die Steigung runter. 17 Jahre jung, unbeschwert. Alles, was ging. »95«, jubilierte Chaos in den Fahrtwind. »Damit gewinnst du garantiert.« Mit wimmernden Reifen nahmen wir die Kurve am Ende, gewohnheitsmäßig zog ich scharf nach rechts. Doch der Geschwindigkeitsunterschied zwischen DT 50 und MT 8 war enorm. Wir touchierten zwei Zaunpfähle, mähten einen Leitpfahl nieder, nutzten den Baustellenaushub als Rampe und landeten im Morast des Kanalschachts. Die MT schien intakt. Wir ebenso. Von oben glotzten drei Typen fragend herab, die offensichtlich zu tief ins Glas geschaut hatten. »Wir suchen den Zigarettenautomaten«, sagte Chaos trocken. »Iss hier oben rechts.« Am nächsten Tag lederte ich Olaf ab. Silke, meine 15-jährige Beifahrerin, wog lediglich 41 Kilogramm. Zudem hatte ich darauf bestanden, dass wir zwecks verlängertem Anlauf unten im Tal starteten. Das wars. Beide mussten wir in den Vierten runterschalten. Und die MT war besser übersetzt. Olafs DT verschmachtete trotz Windschatten. Der Rest des Sommers schien gerettet. Und war es tatsächlich. 6000 Kilometer in drei Monaten. Zwei Plattfüße, zwei Dutzend Stürze. Ein Quadratmeter Pflaster. Heutzutage hätte es vielleicht ein halber getan. Doch die »Schutzkleidung« von damals war wahrlich arg verbesserungswürdig: Plastikhelm, Bundeswehr-Hose, Lederhandschuhe, Nierengurt mit integriertem Schaffell, Jeansjacke und Adidas-Turnschuhe. Natürlich Allround, die schwarzen. Sie verdienten ihren Namen. Mit ihnen konnte man sich auf jeder Party, an jeder Parkbank und in jeder Disco sehen lassen. Leider waren sie äußerst wasserdurchlässig. Bei Regen wickelten wir Plastiktüten um die Füße. Nicht ohne Folgen.
Chaos stürzte im Spätherbst, weil sich an der Ampel die Plastiktüte an der Fußraste verhakte. Er schlug der Länge nach auf den Asphalt. »Verdammt, ruf einen Krankenwagen«, flehte er in der Pfütze liegend. »Aber erzähl bloß niemand, wie das passiert ist.« Jetzt müsste man ein Handy haben, dachte ich damals. Wir kannten die Dinger aus dem Fernsehen. Die amerikanischen Cops trugen in ihren Jackets immer solche backsteinförmigen Gebilde mit einer Antenne, die notfalls auch als Angel brauchbar gewesen wäre.Egal. Münzfernsprecher, 20 Pfennig, Klinikum Göttingen. Unterarmbruch, zweimal genagelt. Neun Stiche. Sechs Wochen zu Fuß. Letzteres war besser so. Denn schon ab November klopfte der Winter beherzt an die Tür. Nach knapp fünf Kilometern musste man anhalten und die heißen Abgase in die Handschuhe leiten, um die Finger aufzutauen.
Donnerstags trafen wir uns regelmäßig bei Chaos. Er hatte eine Stereoanlage der Kult-Marke Schneider, anthrazit, 80 Watt, zwei Boxen groß wie Milchkannen. Zwischen 19 und 21 Uhr moderierte Thomas Koschwitz auf HR3 die internationale Hitparade. Chaos, ganz der Hobby-DJ, schnitt nebenbei mit. Seine Englischkenntnisse waren begrenzt. Er schrieb so, wie er hörte. Auf seinen Kassetten mischten sich Hits von Bartley Finns Harnisch, Kwien, dem Elecktrick Leit Orschestra und Jeffersohn Starschit. Im Frühjahr 1983, drei Monate vor meinem 18. Geburtstag, machte ich mir zum ersten Mal Gedanken über die Zukunft. Opel Kadett, stumpfblau, fünfsitzig, 45 PS, oder Yamaha XT 500, 27 PS, rot-weiß, mördergeil. Beides gabs gebraucht für rund 2000 Mark um die Ecke. Chaos trug rosa gebatikte Latzhosen mit Atomkraft-nein-danke-Aufdruck und entschied sich für einen Opel. Ich musste noch ein Vierteljahr MT 8 fahren. Aber das war okay. Wheelies klappten immer besser, und bis auf die Tatsache, dass ich mit meiner ersten Freundin auf einem Kuhfladen gestürzt und wir uns tief in einen Misthaufen gebohrt hatten, schien das Leben ein einziges Geschenk.
Dann kam der Tag, an dem ich die geliebte MT 8 verkaufen musste. Sie war geputzt, eingeölt und stand auf unserem Hof. Mein Vater saß auf der Bank daneben und rauchte. Ich hatte mir im Baumarkt schwarze Auspufffarbe besorgt. »Im Abstand von 15 Zentimetern kreuzförmig aufsprühen und den Motor anschließend eine halbe Stunde im Standgas laufen lassen«, stand auf der Dose. »Hmm«, überlegte mein Vater, »das klappt nicht.« Ich verdrehte die Augen, sprühte kreuzweise, kickstartete den Motor und ließ ihn laufen. Keine zehn Minuten später orgelte die MT sich die Seele aus dem Leib. Ich drehte den Zündschlüssel herum nix, der Motor röhrte weiter. Off-run-Schalter nix. Zündkerzenstecker ab keine Reaktion.
»Hilfe, Hilfe«, schrie ich. Mein Vater sog seelenruhig an der Zigarette, erhob sich bedächtig und schloss den Benzinhahn. Eine Minute später erstarb der Motor. »Glühzündung«, brummte mein Vater in sich hinein. »Die MT ist luftgekühlt, Fahrtwind ist gefragt. Du musst noch viel lernen...« Ich nickte kurz, blickte an ihm vorbei in die Garage. Dort stand sie schon und wartete, meine XT 500. Damit, so dachte ich, braucht man am Eddigerhäuser Berg garantiert nie wieder runterschalten.