Motorräder der Vernunft

Motorräder der Vernunft Turn the Ratio on

Vernunft sei langweilig, sagen viele und kaufen ihr Bike aus dem Bauch raus. Damit ist jetzt Schluss, denn MOTORRAD klärt auf. Über das Glück, vernünftig zu sein.

Turn the Ratio on Montage: MOTORRAD

Es wird dies eine sehr grundsätzliche Geschichte, und wer Angst hat, mit gewohnten Meinungen
zu brechen, der sollte gleich aussteigen. Hier! Jetzt! Okay, vielen Dank. Als Gegenleistung fangen wir die Sache beim Motorrad an und verschieben das Philosophieren noch etwas.
Unumstritten dürfte sein, dass in unseren Breiten und in unserer Gesellschaft fast jedes Motorrad überflüssig ist. Streng genommen ein Ornament im Alltag, so etwas entbehrt – nach landläufigen Vorstellungen – jeder Vernunft. Dennoch sehen sich
die Fahrer unschuldiger Motorräder von ER-5 bis R 1150 R ständig dem Vorwurf
ausgesetzt, ihrem Untersatz fehle jegliche Emotion (*siehe Erläuterungen im Glossar). Sei wohl eine reine Kopfentscheidung gewesen, he, sich so ein Brot-und-Butter-Krad zu kaufen. Während der Erwerb einer Duc, Harley,
R1, GSX-R, tja, das sei Herzenssache (*). Und so weiter.
Längst wissen Neurobiologen, dass der Verstand (*) gar nicht allein entscheiden kann. Und dass im Affekt gefällte Bauchentscheidungen selten lange Bestand haben. Die Mischung macht’s, wobei mit derlei ausgewogenen Entscheidungen nicht der Vergleich von Fakten – technischer Daten etwa – gemeint ist, sondern das Vermögen, wohl strukturiert auf eigene Erfahrungen zurückzugreifen. Was tut mir gut? So lautet die ebenso rationale wie emotionale Kernfrage. Auch bei der Partnerwahl, und zwar egal, ob der Partner zwei Beine oder zwei Räder besitzt. Dann eine Nacht drüber schlafen und die grauen Zellen hirnen lassen, schwups, schon strahlt sonnenklar am Firmament des eigenen Wollens, dass Blond noch nie geholfen hat. Oder Stummellenker. Na ja, so ähnlich.
Auf jeden Fall glaube niemand, ein CBF-600-Fahrer kenne keine Emotionen. Vielleicht kommen sie ihm an der Zapfsäule. Dummer Scherz, nein, wahrscheinlich kann er sich auf fröhliches Bauchkribbeln verlassen, sobald er mit ihm gemäßen Tempo über Landstraßen gondelt. Und das kribbelt munter weiter, wenn 999-Geschwader vorbeidonnern.
Denn vielleicht durchrieselt unseren CBFler just dann das wohlige Ahnen,
dieser oder jener aus der roten Meute
sei nur einem kindlichen Reflex gefolgt: Will ich auch haben. Immerhin, das lässt sich niemals ausblenden, leben wir in einer leicht deformierten Leistungsgesellschaft (*), die das Sein ihrer Mitglieder oft allzu kurzschlüssig mit deren Schein verknüpft. Hast de was, kannst de was. Womit
groteske Übermotorisierungen oder akrobatische Kredit-Konstruktionen einhergehen können, wenn der Schein unbedingt das Sein überstrahlen soll. Also speichert der schuldenfrei und leistungsgerecht
reisende Honda-Pilot auf seiner sozialpsychologischen Festplatte: Vermutlich sind nur sieben von zehn Ducati abgezahlt, und offensichtlich können höchstens acht von zehn Fahrern deren Potenzial annähernd nutzen.

Freilich hat dieses milde Gefühl von Überlegenheit nichts mit Vernunft
zu tun. Und führt sowieso in die Irre, weil – in gewissen Grenzen – jeder tun und lassen kann, was ihm behagt. Egal, dass ein Minderbegabter auf einer ZX-10R
niemals glücklich (*) wird, schnurz piepe, dass sich manches Sportstalent höherer Freuden beraubt, indem es aus lauter Geiz lebenslang auf einer SR 500 rumgurkt.
Hier sollte nur beleuchtet werden, dass viele Kaufentscheidungen unter den obwaltenden Umständen nicht wirklich frei sind. Denkbar, dass Leute Indian fahren, weil Schumi mal eine hatte. Oder eine Proton kaufen würden, weil sie Kenny Roberts senior sexy finden.
Kommen wir zurück zu wirklich freien Individuen. Unserem CBFler, beispielsweise. Der ganz bewusst eine Wahl der Vernunft getroffen und zur Absicherung
gar zuvor im Großen Bertelsmann Lexikon nachgeschaut hat: »Vernunft: (oberes) Erkenntnisvermögen, das... auf den totalen Zusammenhang der Erscheinungen gerichtet ist und das Einzelne aus diesem
Zusammenhang oder aus universellen, systematisch geordneten Prinzipien heraus begreift.«

Ist ja wohl das Größte, oder? Darf sich nun jeder CBFler zurückwerfen und
posaunen: Ich hab’s gebracht, ihr tumben Narren, mir ein Motorrad der Vernunft gekauft! Darf er? Wir lassen mal außen vor, dass ein nettes und sparsames Motorrad wie diese Honda tatsächlich für eine gewisse Sensibilität gegenüber den universellen Prinzipien des Weltganzen spricht. Vergessen sogar Einstandspreis, Reifenkosten und überhaupt alle ökonomischen Aspekte. Sondern wenden uns schlicht der Ganzheit des Motorradfahrens zu.
Es muss sein. Zurücklehnen, bitte. Und nun die eigenen oder durch Kumpels zugetragenen alltäglichen Moped-Nervereien Revue passieren lassen. Alle! Von »Ich hab’ die schwere Karre kaum vom Ständer
gekriegt« über »Auf so’n Sitz hockt sich
meine Frau nie wieder« und »Ging mir doch mitten auf dieser Hochebene der Sprit aus« bis hin zu »Schotterpass und Stummellenker – echt kein Bock mehr«. So wird ein Schuh draus: Wer alles ausprobieren möchte, was man mit einem Motorrad
anstellen kann, der landet zwangsläufig
in der Schnittmenge aus F 650, ZR-7 und V-Strom 650. Vielleicht auf einer CBF.
Also: Wenn der CBFler wirklich viel im Schilde führt, dann darf er sagen: Uaahh, mein Bike ist vernünftig – und das ist gut so. Prima, haben’s alle gehört? Den Unterton ebenfalls? Dieser Mensch hat seine Honda gekauft, weil er mit einem Maximum an Möglichkeiten herumfahren möchte
und Beschränkungen verachtet. Der kann
prima damit leben, dass sein praktischer (*)
Allrounder nie eine Hauptrolle spielen wird, wenn V-Rod- und MV-Fahrer über Ästhetik (*) diskutieren. Dass R1- oder Fireblade-Treiber den Fortschritt (*) für sich beanspruchen und R 1200 GS-Freunde die Lust (*) am Bike. Der lässt sich auf schnellen Landstraßen gerne supersportlich überholen, weil er gegen Abend die gekrümmten Helden mit ihren schmerzenden Handgelenken alle wieder einsammeln kann. Auf der Autobahn mögen Pan European oder K 1200 LT vorbeiziehen, na und?
Zur Ganzheit des Motorradfahrens zählen auch geschotterte Spitzkehren bei voller Beladung. In der Stadt geben Duke oder
XT 660 den Ton an? Pah, kurz hinterm Ortsschild geht ihnen der Sprit aus.
Was noch lange nicht bedeutet, Pan-Europäer seien unvernünftig. Oder 999-Treiber grundsätzlich masochistisch. Es gibt schließlich real existierende Bikerleben zwischen Horster Dreieck und Nürburgring, für die hoch spezialisierte Geräte genau das Richtige sind. Aber sie bilden nur einen Ausschnitt aller Möglichkeiten. Weshalb denen, die Allrounder fahren, endlich der nötige Respekt gebührt: Kann nämlich sein, dass diese Jungs und
Mädels von zwei Rädern einfach mehr verlangen. Mehr Freiheit (*), zum Beispiel.

Bei jedem verlockenden Feldweg zahlt sich dann aus, auf den hübsch flachgelegten Starrrahmenchopper gepfiffen zu haben. Wissend, dass Freiheit und Vernunft zusammengehören. Schon lange: Als sich das Bürgertum im 18. Jahrhundert anschickte, gegen Fürsten, Bischöfe und Könige aufzumucken und die Freiheit des Einzelnen zu fordern, da machte es die Vernunft zur Waffe. Klar, was hilft besser gegen Willkür als vernünftige Argumente. Jeder sollte nach seiner Façon glücklich werden, weil die Summe sich frei entfaltender Individuen am Ende ein blühendes Ganzes erbringen musste. Was ja dann auch zu rasender Industrialisierung und – nicht einmal 100 Jahre später – den ersten Motorrädern führte. Beinahe zwingend.
Allerdings ging es der Vernunft nicht immer nur gut, in diesen und den nächs-
ten 100 Jahren. Jenseits der Philosophie musste sie sich häufig für disziplinari-
schen Stumpfsinn missbrauchen lassen: Vernunftehe, zur Vernunft bringen. Noch schlimmer: Sei vernünftig und reiß dich
zusammen. Da darf nicht wundern, wenn am Ende sogar das Motorrad der Vernunft dastehen musste wie die Ausgeburt eines flotten Dreiers von Gehorsam, Sparsamkeit und Fleiß.
Und auch die Freiheit, man ahnt es
bereits, hatte ihr Päcklein zu tragen. Schon bald nach der bürgerlichen Revolution tauschte beispielsweise mancher Kaufmann die Freiheit des Geistes gegen jene auf Besitz. Und wähnte sich frei, nur
weil ihn – was früher ausschließlich den Herren erlaubt war – vier Pferde durch
die Gegend zogen. Möglich, dass die Vierspänner der Neuzeit Fat Boy, Gold Wing, Tornado und Hayabusa heißen. Was das einzige Manko der aktuellen Vernunftmotorräder umreißt: F 650, GS 500, CBF, FZ6 – alles Na

Glossar

Ästhetisch: sinnlich wahrnehmbar, das Schöne (oder sein Gegenteil) betreffend
Emotion: eine Gemütsbewegung, eine Leidenschaft oder Stimmung, in welcher das Andere durch den Betrachtenden quasi beseelt wird
Fortschritt: die nie endende Entwicklung der Menschheit hin zum Besseren, Höheren, Vollkommeneren, besonders auch durch Anwendung der Vernunft
Freiheit: Selbstbestimmung des Menschen, durch Abwesenheit von inneren und äußeren Zwängen gekennzeichnet. Freiheit meint in der Philosophie immer Willensfreiheit
Herz: schon im Altertum als
Hort der Gefühle und des Mutes bekannt
Glück: Zustand vollkommener Wunschlosigkeit, der sich durch sinnvolles Wirken und Zusammenwirken einstellt. Nach Aristoteles (384 bis 322 vor Christus, griechischer Philosoph) wird jedes Wesen durch die Entfaltung seiner eigenen Natur und der ihm eigentümlichen Tätigkeiten glücklich. Der Mensch vorrangig durch die Vernunft
Leistungsgesellschaft: Form menschlichen Zusammenlebens, in der diejenigen am meisten gelten, die unter – letztlich – ökonomischen Gesichtspunkten am nützlichsten sind
Lust: ein Gefühl, das sich einstellt, wenn ein Wunsch in Erfüllung gegangen ist. Profaner: ein Gefühl, das ein Wohl-
gefallen an etwas, aber auch die Begierde auf etwas ausdrücken kann
Poesie: übertragen für: voller Stimmung und Zauber
Praktisch: passend, tauglich, für das Handeln des Menschen brauchbar
Verstand: das Vermögen zu
erkennen, zu urteilen und
begrifflich zu umreißen. Ist nötig, um Vernunft entwickeln zu können

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