Unfallforschung

Unfallforschung Neue Erkenntnisse aus Sicherheitsprojekt

Motorradunfälle stellen Forscher immer wieder vor große Herausforderungen: Jeder Crash ist anders. Neue Erkenntnisse, wie sie in dem EU-Sicherheitsprojekt APROSYS gewonnen wurden, sind vor diesem Hintergrund gar nicht hoch genug zu bewerten.

Neue Erkenntnisse aus Sicherheitsprojekt Küppers

Es mögen mehrere Wochen gewesen sein. Vielleicht sogar Monate. Genau kann Jens König, Unfallforscher beim Deutschen Kraftfahrzeug-Überwachungsverein (Dekra), gar nicht mehr sagen, wie viel Zeit er insgesamt mit der Auswertung von Motorrad-Unfallgutachten zugebracht hat. Allein in der hauseigenen Dekra-­Datenbank sind Tausende enthalten. Etliche hundert davon hat er mit einem kleinen Team, Akte für Akte, auf 350 relevante Parameter untersucht: Wie ist der Unfall passiert, wann, wo, wer, welche Verletzungen? König weiß: „Je gründlicher die Datenanalyse, desto besser die Forschungsergebnisse.“

Ähnlich wie er gingen auch seine Kollegen aus Italien, Spanien und den Niederlanden vor. Erst mit ihren Auswertungen haben sie schließlich die Basis für das Sicherheitsprojekt APROSYS geschaffen, denn: ohne Unfallanalysen keine Unfallforschung. APROSYS ist die Abkürzung für Advanced Protection Systems, zu Deutsch: fortschrittliche Sicherheitssysteme, und nur eines von vielen europaweiten Verkehrssicherheitsprojekten. Aber eines, in dem die Sicherheit von Motorradfahrern eine große Rolle spielt. Zwar sinkt die Zahl der Verkehrstoten in Deutschland trotz steigenden Fahrzeugbestands, doch umgerechnet kommen pro Tag immer noch zwei Motorradfahrer ums Leben. Europaweit sieht es insgesamt noch schlechter aus. Hier stagniert die Zahl der Getöteten auf einem Niveau von jährlich etwa 40000. 15 Prozent, zirka 6000, sind Motorradfahrer. In Deutschland fällt bei näherer Betrachtung der Statistiken auf: Im Gegensatz zu anderen Verkehrsteilnehmern sinkt die Zahl der im Straßenverkehr getöteten Motorradfahrer weniger schnell. Anders ausgedrückt: Das Risiko, als Motorradfahrer tödlich zu verunglücken, ist in Relation zu Fußgängern, Fahrrad-, Auto- und Lkw-Fahrern seit 1992 gestiegen.

Die Zahl der Verkehrstoten zu verringern ist das große Ziel der EU. Nach Artikel 71c des EG-Vertrags fallen „Maßnahmen zur Verbesserung der Verkehrssicherheit“ in ihren Kompetenzbereich – APROSYS ist eine davon: 50 Partner aus Universitäten, Forschungseinrichtungen, Zuliefer-Firmen und Herstellern in Europa, dazu gehören neben Dekra beispielsweise die Universität München, Piaggio und Dainese, forschen seit 2004 in enger Zusammenarbeit für dieses Projekt. Ihr Schwerpunkt: die passive Sicherheit zu erhöhen – also Systeme zu entwickeln, die Unfallfolgen mindern und eingreifen, wenn ein Sturz, eine Kollision unausweichlich ist. Für APROSYS steht ein Budget von 32 Millionen Euro bereit, gut die Hälfte sind EU-finanziert. Das Projekt teilt sich in sieben Bereiche auf, von denen sich einer mit der Sicherheit von Pkws beschäftigt, andere mit der von Lkws, Fahrradfahrern und Fußgängern oder eben mit der Sicherheit beim Motorradfahren. Aber auch ganz grundlegende Dinge der Unfallforschung, wie der Einsatz von Dummies, Computersimulationen oder Normen für Crash- oder Helmtests, kamen auf den Prüfstand.

"Das Besondere an APROSYS ...

Ebberg
Ohne Unfallanalyse keine Unfallforschung.

... ist die enge Verflechtung verschiedener Bereiche", erklärt Jens König und berichtet aus der Praxis. So sei beispielsweise ein Vorschlag aus der Forschungsgruppe Pkw, die Türen eines Autos bei einer Seitenkollision generell – ohne sensorische Unterscheidung des Unfallgegners – zu versteifen, schnell im Papierkorb gelandet. „Eine Versteifung mag zwar die Sicherheit der Pkw-Insassen bei einem Seitenaufprall erhöhen, gleichzeitig aber schnellt das Verletzungsrisiko für einen Motorradfahrer im Falle einer Kollision um ein Vielfaches in die Höhe, so König. Fast jeder zweite Motorradunfall in Deutschland, das verrät ein Blick in die Statistik, passiert just auf diese Weise: Ein Auto nimmt einem Motorrad die Vorfahrt – rumms. In Ländern Südeuropas ist der Anteil sogar noch höher. Dagegen ist in keinem anderen Land die Zahl der Alleinunfälle auf Landstraßen, vermutlich in Folge von Unkonzentriertheit und hoher Geschwindigkeit, so hoch wie in Deutschland. Die dritthäufigste Unfallart ist die sogenannte Begegnungskollision nach Überholmanövern. „Mit diesen drei Szenarien deckt man etwa 80 Prozent aller Motorradunfälle in der EU ab, erklärt der Dekra-Mann und umreißt damit die Baustellen, mit denen sich die Forscher im Rahmen von APROSYS beschäftigt haben.

Drei Ergebnisse hat ihre Arbeit hervorgebracht. Am Zentrum für Innovation und Sicherheit der Universität Florenz ist ein Helm entwickelt worden, der die Kopfbeschleunigung und die bei einem Unfall auftretenden Kräfte am Kinnriemen verringert. Dafür verfügt der Helm über ein thermoplastisches Kinnteil mit Glasfiberverstärkung sowie seitlichen Honigwabenstrukturen, die Energie aufnehmen. Unfallsimulationen zeigten deutlich geringere Belastungswerte, vor allem hinsichtlich der rotatorischen Kräfte, die an Kopf und Halsbereich auftreten und für Hirnverletzungen verantwortlich sind. Mit Hilfe der Ergebnisse wollen die Forscher zudem erreichen, dass die Helmnorm ECE-R 22 den Erkenntnissen angepasst wird. Der neue Helm könnte Ende 2010 Marktreife erlangen.

Kein Unfall ist wie der andere

Ebberg
In den Crashtests werden die häufigsten Motorrad-Unfallszenarien nachgestellt.

Ein neuartiger Thoraxprotektor, um den sich Forschungseinrichtungen an der Universität München und bei Dainese in Italien verdient gemacht haben, könnte sogar noch in diesem Jahr erhältlich sein. Mit ihm sollen gefährliche Rippenfrakturen vermieden werden, die Motorradfahrer häufig bei einem Frontalanprall erleiden. Dass man die Gefahren von Thoraxverletzungen so lange vernachlässigt hat, obwohl entsprechende Protektoren im Motocross seit Jahren zur Standardausrüstung gehören, verwundert, zeigt aber auch die Schwierigkeit der Unfallforschung: Kein Unfall ist wie der andere, ständig ändern sich Parameter – Geschwindigkeit, Aufprallwinkel, körperliche Verfassung des Fahrers, Zustand der Fahrbahn... Von der sonstigen Beschaffenheit des Unfallorts ganz zu schweigen. Verkehrsschilder im Sturzbereich und einfache Schutzplanken sind fatal für Motorradfahrer. Die APROSYS-Forscher sprechen sich deshalb nicht nur für den Einsatz von Unterfahrschutzsystemen aus, sie fordern auch – Ergebnis Nummer drei – eine Änderung der Schutzplanken-Norm, in Deutschland DIN EN 1317. Bei der Zulassung von Schutzplanken spielen in den meisten europäischen Ländern Crash-Versuche mit Motorrädern (noch) keine Rolle. Ausnahme: Spanien.

„Nicht nur, dass es hier eine Sicherheitsnorm, UNE 135900, gibt, die Motorrad-Crash-Tests bei der Erprobung vorschreibt, erläutert König, „es sind auch bereits Systeme vorhanden, die sie erfüllen.“ Inwieweit die APROSYS-Ergebnisse erfüllen, was man von ihnen erhofft, wird ihre Umsetzung zeigen. Das Ziel, die Zahl der Unfalltoten zu verringern, ist genauso ehrgeizig wie schwer. Das Projekt zumindest ein erster Schritt. Weitere, nicht nur, aber auch auf EU-Ebene, werden folgen. Zum Beispiel SIM – Safety in Motion (Sicherheit in Bewegung), bei dem es darum geht, ein Motorrad mit Traktionskontrolle, Airbag und halbaktivem Dämpfungssystem zu entwickeln. Die Dekra ist wieder mit von der Partie. Unfallforscher Jens König ebenfalls.

European Transport Safety Council (ETSC) - Brücke zwischen Forschung und Politik

Jeder Verkehrstote ist einer zu viel. Die Europäische Union hat sich deshalb 2001 zum Ziel gesetzt, die Zahl der Verkehrstoten (15 EU-Länder plus Schweiz 2001: 50326) in Europa bis zum Jahr 2010 zu halbieren. Soviel steht heute bereits fest: Erreichen wird sie dieses Ziel nicht. Auch, weil sich die EU in der Zwischenzeit immer wieder erwei-tert und damit Verkehrsflächen und -teilnehmer hinzugewonnen hat. Aktuell stagniert die Zahl nach einem anfänglichen Rückgang in den 27 EU-Ländern bei rund 40000 Verkehrstoten pro Jahr. Neben der EU hat sich auch der 1993 gegründete ETSC (www.etsc.be) dem Ziel der Erhöhung der Verkehrssicherheit verschrieben. ETSC steht für European Transport Safety Council, zu Deutsch: Europäischer Verkehrssicherheitsrat. Zu seinen Mitgliedern – aktuell 40 – zählen nationale Verkehrssicherheitsorganisationen wie beispielsweise der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DVR), Universitäten und Forschungseinrichtungen. Als seine Aufgabe sieht es der ETSC an, anhand der Ergebnisse aus wissenschaftlichen Verkehrsstudien oder Projekten wie APROSYS politische Forderungen abzuleiten, die er über Lobby-arbeit in die EU-Kommission und das Parlament einbringt. Im Fokus des Rats steht die Sicherheit aller Verkehrsmittel, also auch die von Motor-rädern. Motorradfahrer laufen beim ETSC in der Kategorie „Verletzliche Verkehrsteilnehmer“.

Über sie hat der Rat zuletzt 2008 einen 30-seitigen Lagebericht (Vulnerable Riders – Safety implications of motorcycling in the European Union) herausgegeben, in dem er Empfehlungen für künftige Richtlinien erteilt. Daneben vergleicht der ETSC die EU-Länder regelmäßig hinsichtlich ihrer Anstrengungen, die Verkehrssicherheit zu erhöhen. Nach einem für 2007 aktuellen Ranking von 27 europäischen Staaten sind die Straßen in Nor-wegen, der Schweiz, Dänemark und Finnland am wenigsten gefährlich für Motorradfahrer mit 30 bis 45 Toten pro einer Million gefahrener Kilo-meter. Deutschland folgt auf Platz fünf in einer zweiten Gruppe zusammen mit Ländern wie Österreich, Portugal, Schweden und Griechen-land, in denen durchschnittlich weniger als 86 Motorradfahrer je einer Million gefahrener Kilometer ums Leben kommen. Am Ende stehen Lettland, Ungarn, Tschechien und Slowenien: über 200 getötete Biker. Anders ausgedrückt: Das Risiko, in Slowenien tödlich zu verunglücken, liegt 44-mal höher als in Norwegen und immerhin noch 35-mal höher als in Deutschland. In der EU ist das Risiko von Motorradfahrern, im Straßenverkehr zu sterben, im Vergleich zu Autofahrern 18-mal höher.

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