Vergleichstest: Yamaha YZF-R1, 2006 gegen 2007
Generation X

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Die Frage aller Fragen: Welche ist die bessere R1, die neue oder die alte? Die Antwort hat seit 2002 keinen mehr so sehr beschäftigt: Damals stellte Yamaha von Vergasern auf Einspritzung um. Heuer kommt mit dem Vierventiler wieder eine komplett umgekrempelte R1-Generation. Also, lösen wir das X auf und klären die Generationenfrage.

Generation X
Foto: Jacek Bilski

Unbehelligt stehen die beiden Einsen im Fahrerlager des spanischen Circuito de Calafat. Kaum jemand der zahlreichen Renntrainingsteilnehmer bemerkt, dass hier zwei Eckpfeiler einer Sportmotorradlegende darauf warten, die bohrenden Fragen der Yamaha-Anhängerschaft zu klären: Besser – oder was? Hat sich der Wechsel von fünf auf vier Ventile gelohnt? Welchen effektiven Sinn haben technische Kniffe wie variable Ansaugrohrlängen und der elektronische Gasgriff?

Die Antwort liegt irgendwo da draußen, in der Sonne, auf der Rennstrecke und der Landstraße. Noch bevor sich die Zündschlüssel drehen, hat das Publikum – unwissentlich – einen kleinen Aspekt geklärt: Die Mega-Anmache ist die neue R1, Typkürzel RN19, nicht. Den Boah-ey-Effekt, den die R6 letztes Jahr auslöste, erzielt die 1000er kaum. Dazu unterscheidet sie sich optisch nicht deutlich genug von ihrer Vorgängerin; man muss schon genau hinschauen. Aber genug der Standbilder, machen wir das, wozu wir hier sind: Motor an, Visier runter, Gas auf.

Sachte wärmen die ersten Meter auf der Strecke die Michelin Pilot Power 2CT in der kalten Meerluft der Costa Brava auf. In diesem Samtpfoten-Modus in unteren Drehzahlen läuft der Motor der 2007er-R1 mechanisch spürbar rauer als sein Vorgänger. Nach zwei weiteren Runden und auf warmen Schlappen, bei Drehzahlen konstant jenseits der 5000/min, spielt das jedoch keine Rolle mehr.

Was spätestens in der nächsten Links ganz offensichtlich wird, ist die deutlich härtere Gasannahme der Neuen. Zwar geht auch die Vorgängerin, die RN12, nach dem Scheitelpunkt etwas unsanft zurück an die Arbeit, aber sie tut’s immerhin nicht ganz so ruckartig. Ein erster kleiner Rückschlag für die Neu-und-besser-Euphorie. Außerdem setzt die Leistung etwas verzögert ein, braucht die Elektronik einen Tick Zeit, bis der Befehl aus der rechten Hand in den Brennkammern eine angemessene Reaktion erzeugt. Das kann die alte R1 besser: Der Zug am schnöden Kabel bringt den gewünschten Effekt unmittelbarer, und die 1000er fliegt in Windeseile der nächsten Kurve entgegen.

Die lässt nicht lange auf sich warten. Auf den ersten Abschnitten dieses eng gewundenen Kurses unweit von Barcelona hat die Neue kaum eine Chance, ihr deutliches Leistungsplus ab 7500/min auszuspielen und die etwas unorthodoxe Reaktion auf den Gasdreh sofort wieder wettzumachen. Stattdessen heißt es nach dem brachialem 1000er-Leistungseinsatz, den beide Modelle abliefern, die Kanonenkugeln schnell wieder einzufangen.

Mission erfüllt, kein Zweifel. Yamaha hat gehandelt. Die Stopper der RN19 sind endlich einer 1000er auf der Rennstrecke würdig und beißen scharf zu. Nur wenig Bedienkraft fordern sie, um das vollgetankt 210 kg schwere Kraftpaket mit zwei Sechskolben-Zangen angemessen zu entschleunigen. Da schwillt dem Kollegen auf der Vorgängerin der rechte Popeye-Muskel doch erheblich mehr, um annähernd die gleiche Bremsverzögerung zu erreichen. Die Vierkolben-Anlage wirkt stumpf, und der Druckpunkt ist nicht wirklich transparent. Deshalb sitzt ihr die Neue nun auf der Bremse wieder im Nacken, die paar Meter Vorsprung vom Aus-der-Kurve-Rausfeuern sind futsch.

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Jacek Bilski
Im Tiefflug sind beide nur durch ihre Farbe zu unterscheiden.

Das hat noch einen zweiten Grund: Der Pilot der R1 jüngsten Baujahrs lässt nach dem Stepptanz auf dem Ganghebel die Kupplung einfach auf einen Schlag raus: Die Anti-Hopping-Mechanik funktioniert tadellos. Selbst mehrere Gangstufen abwärts auf einmal nimmt diese R1 regungslos hin, brüllt zwar einen höllischen Kraftschluss-Blues, aber folgt stur der angepeilten Linie und zieht begeistert schwarze Pinselstriche auf die Asphalt-Staffelei.

Jetzt einlenken! Die Präzision, mit der die RN19 einbiegt, ist famos; stabil flitzt sie um den Bogen. Da macht sich der längere Nachlauf klar bemerkbar. Am Kurvenausgang untersteuert sie in dieser langen Links allerdings leicht und fordert mehr Schenkeldruck, um auf Kurs zu bleiben.

Hier wirkt die RN12 handlicher: Sie mag am Kurveneingang wegen der stumpfen Bremse und der fehlenden Anti-Hopping-Kupplung ein wenig im Nachteil sein – obwohl die leicht gezogene Kupplung mit etwas Gefühl in der Hand die schlimmsten Hüpfer abstellt – aber die gewünschte Linie raus aus der Kurve trifft die alte R1 besser und nimmt auch Kurskorrekturen williger an. Dazu vermittelt die Gabel mehr Gefühl für das Vorderrad, insbesondere, wenn die Druckstufe der Gabel für die Rennstrecke maximal gestrafft ist.

Die Handlingsdefizite, die die 07er-R1 in langen Bögen gegenüber der Vorgängerin verzeichnet, erklären sich wohl aus dem Mehrgewicht von gut 6 Kilogramm, das sich wegen der Euro-3-Auspuffanlage hauptsächlich am Heck angesammelt hat. In schnellen Wechselkurven macht es sich dagegen nicht bemerkbar; hier huscht die neue R1 flugs ihrer Wege, das Umlegen fällt leicht.

Wer niedrige Gänge und ein hohes Drehzahlniveau bevorzugt und den Hahn kurvenausgangs voll spannt, wird schnell feststellen, wie gigantisch beide Einsen oben herum abgehen: Wer mit genug Traktion aus dem Eck feuert, blickt schnell in den spanischen Himmel. Die Neue neigt etwas weniger zum Wheelen, was nicht nur an der verlängerten Schwinge liegen dürfte. Auch ihr Federbein mit High- und Lowspeed-Justage der Druckstufe und erheblich mehr Dämpfungsreserven als vormals ist deutlich sportiver. Allerdings entpuppt sich der Lenkungsdämpfer als zu weich. Bei 14000 Euro hätte der ruhig einstellbar sein dürfen – siehe Kawa ZX-10R.

Just als sich das Vorderrad wieder beruhigt hat, fordert die Start/Ziel-Gerade zum Endspurt auf. Jetzt schmettern die Fanfaren das Lied von der neuen R1-Zeit, hier spielt die Drehmomentschwäche in der Mitte keine Rolle mehr. Schnell durchladen, das Getriebe flutscht sauber, die Kupplungshand bleibt dabei fest geschlossen. Kawumm, bei 11000/min explodiert eine Bombe: Die Boxenmauer fliegt im Tornado-Tempo vorbei, und schon ist wieder Zeit für den Anker. Von Ansaugwegen, die sich mitten im Hochdrehen plötzlich verkürzen, ist nichts zu spüren, wohl aber, dass die Leistungsabgabe wie bei der Vorgängerin auch bei der Neuen alles andere als linear ist. Das Prüfstandspapier belegt, was der Fahreindruck vermuten ließ: Die Neue drückt ab etwa 7500/min durchweg mehr Leistung ab.

Jacek Bilski
Die Gasannahme beim 2007er Modell ist deutlich härter.

Für die Rennstrecke bedeutet das, dass die neue R1 in Jerez, Mugello und wohl auch in der Parabolika von Hockenheim der RN12 klar den Rang ablaufen dürfte, aber wenn der Kurs eng ist, wird’s auch eng für die RN19.

Ist das schon der Weisheit letzter Schluss? Nein, es gibt ja noch Landstraßen. Auf ebensolchen schenken sich die beiden zunächst nichts, es sei denn, die StVO ist außer Kraft gesetzt. Doch hoch oben in den Bergen über dem Meer winden sich die Straßen wie der Korkenzieher am Abend zuvor im Riojapfropfen. Hier treten die Defizite der Neuen bei Gasannahme, Leistungseinsatz und Handling noch deutlicher zutage als auf der Rennstrecke. Bremse und Anti-Hopping-Kupplung reißen nicht mehr viel heraus. Yamaha hat das Versprechen, bei der neuen R1 verstärkt auf Alltagstauglichkeit zu achten, nicht eingelöst. Da helfen auch die teuren Technik-Gimmicks nichts – leider!

Fazit: Man muss sich gut überlegen, was man von seiner R1 erwartet, bevor man die 06er in Zahlung gibt: Wer die Kumpels auf schnellen Rennstrecken gründlich bügeln will, der hat das Geld gut angelegt. Wer aber hauptsächlich in Mittelgebirgen durch Kurvenlabyrinthe rauscht, ist auch mit der alten R1 gut oder gar besser aufgestellt.


Daten
Yamaha YZF-R1 2006 (RN12)

Motor: Vierzylinder-Reihenmotor, fünf Ventile/Zylinder, 128,7 kW (175 PS) bei 12500/min*, 107 Nm bei 10500/min*, 998 cm3, Bohrung/Hub: 77,0/53,6 mm, Verdichtungsverhältnis: 12,4:1, Zünd-/Einspritzanlage, 42-mm-Drosselklappen, mechanisch betätigte Mehrscheiben-Ölbadkupplung, Sechsganggetriebe, U-Kat, Sekundärluft-System

Fahrwerk: Leichtmetall-Brückenrahmen, Lenkkopfwinkel: 66,0 Grad, Nachlauf: 97 mm, Radstand: 1415 mm. Upside-down-Gabel, Ø Gabelinnenrohr: 43 mm, einstellbar in Federbasis, Zug- und Druckstufe, Zentralfederbein mit Umlenkung, einstellbar in Federbasis, Zug- und Druckstufe. Federweg v./h.: 120/130 mm

Räder und Bremsen: Leichtmetall-Gussräder, 3.50 x 17"/6.00 x 17", Reifen vorn: 120/70 ZR 17, hinten: 190/50 ZR 17. Testbereifung: Michelin Pilot Power 2CT, 320-mm-Doppelscheibenbremse mit radial verschraubten Vierkolben-Festsätteln und radialer Bremspumpe vorn, 220-mm-Einzelscheibe mit Einkolben-Schwimmsattel hinten

Maße und Gewicht: Länge/Breite/Höhe: 2085/800/
1105 mm, Sitz-/Lenkerhöhe: 805/855 mm, Lenkerbreite: 630 mm, 204 kg vollgetankt, v./h. 52,0/48,0% Hinterradleistung im letzten Gang: 117 kW (159 PS) bei 278 km/h
Fahrleistungen: Beschleunigung 0–100/150/200 km/h: 3,2/5,1/7,5 s, Durchzug 50–100/100–150 km/h: 5,4/3,9 s
Höchstgeschwindigkeit: 285 km/h*
Verbrauch: Kraftstoffart: Super bleifrei, Durchschnittstestverbrauch: 8,4 Liter/100 km, Tankinhalt 18 Liter, Reichweite: 214 km

Preis: 13300 Euro (zzgl. Nebenkosten)

Jacek Bilski
R1 Jahrgang 2007: Besonders das spitzere Heck fällt auf.

Daten:
Yamaha YZF-R1 2007 (RN19)

Motor: Vierzylinder-Reihenmotor, vier Ventile/Zylinder, 132,4 kW (180 PS) bei 12500/min*, 113 Nm bei 10500/min*, 998 cm3, Bohrung/Hub: 77,0/53,6 mm, Verdichtungsverhältnis: 12,7:1, Zünd-/Einspritzanlage, 42-mm-Drosselklappen, mechanisch betätigte Mehrscheiben-Ölbadkupplung, Sechsganggetriebe, G-Kat

Fahrwerk: Leichtmetall-Brückenrahmen, Lenkkopfwinkel: 66,0 Grad, Nachlauf: 102 mm, Radstand: 1415 mm. Upside-down-Gabel, Ø Gabelinnenrohr: 43 mm, einstellbar in Federbasis, Zug- und Druckstufe. Zentralfederbein mit Umlenkung, einstellbar in Federbasis, Zug- und Druckstufe (High-/Lowspeed). Federweg v./h.: 120/130 mm

Räder und Bremsen: Leichtmetall-Gussräder, 3.50 x 17"/6.00 x 17", Reifen vorn: 120/70 ZR 17, hinten: 190/55 ZR 17. Testbereifung: Michelin Pilot Power 2CT, 320-mm-Doppelscheibenbremse mit radial verschraubten Sechskolben-Festsätteln und radialer Bremspumpe vorn, 220-mm-Einzelscheibe mit Einkolben-Schwimmsattel hinten

Maße und Gewicht: Länge/Breite/Höhe: 2060/720/1110 mm, Sitz-/Lenkerhöhe: 820/855 mm, Lenkerbreite: 660 mm, 210 kg vollgetankt, v./h. 50,7/49,3% Hinterradleistung im letzten Gang: 121 kW (165 PS) bei 265 km/h

Fahrleistungen: Beschleunigung 0–100/150/200 km/h: 3,2/4,5/7,4 s, Durchzug 50–100/100–150 km/h: 5,1/4,0 s
Höchstgeschwindigkeit: 285 km/h*
Verbrauch: Kraftstoffart: Super bleifrei, Durchschnittstestverbrauch: 8,1 Liter/100 km, Tankinhalt 18 Liter, Reichweite: 222 km

Preis: 13782 Euro (zzgl. Nebenkosten)



Messungen

Große Ernüchterung stellt sich ein, wenn man die beiden Leistungskurven vergleicht. Dass die alte R1 in mittleren Drehzahlen beim Drehmoment noch über der Nachfolgerin liegt, ist angesichts des Technikaufwands nicht zu fassen, bestätigt aber den Fahreindruck besonders auf der Landstraße. Auch im weiteren Verlauf, wenn die RN19 das Zepter übernimmt – so etwa bei 6500/min – legt sie nicht entscheidend mehr zu, um die 2006er richtig abzuledern. Dazu braucht sie noch mal 1500/min mehr: Ab 8000/min gehen die Punkte eindeutig an die neue R1, da reißt sie doch das eine oder andere Bäumchen mehr aus. Die stehen aber an Rennstrecken und Autobahnen. Um diesen Leistungsverlauf im großem Stil in schnelle Rundenzeiten umzusetzen, bedarf es langer Geraden, schneller Kurven und breiter Pisten. Damit ist die neue R1 eine echte Spezialistin geworden, kaum die Volkswaffe für alle Gelegenheiten.

Jacek Bilski
R1 Jahrgang 2006: Die Verkleidung lässt mehr Einblicke zu.

Bewertung

Yamaha
YZF-R1 2006 (RN12)
(Platz 1, 17 Punkte)

Motor:
Die sanftere Gasannahme und das spontane Umsetzen von Gasbefehlen machen das Weniger an Leistung wett. Eine spitze Motorcharakteristik haben beide.

Fahrwerk:
Das alte R1-Fahrwerk ist etwas weich, dennoch lässt sich die 06er im Allgemeinen besser handeln. Besonders auf der Landstraße wird das sehr deutlich.

Ergonomie:
Von allen Sportlern war die R1 immer einer der bequemsten. Egal ob auf Rennstrecke oder Landstraße, das passt schon.

Fahrspaß:
Die RN12 geht zwar etwas unsanft, aber besser als ihre Nachfolgerin ans Gas und wuselt geschickter um die Kurven. Aber: maue Bremse, keine Anti-Hopping-Kupplung.

Urteil:
Dass die alte R1 ihrer Nachfolgerin so zusetzt, zeigt, wie gut sie ist. Die 1000er-Luft ist sehr dünn, und das 06er-Modell bekommt noch genügend davon ab.



Yamaha
YZF-R1 2007 (RN19)
(Platz 1, 17 Punkte)

Motor:
Die brachialen 179 Prüfstands-PS verhehlen nicht, dass ein neuer Motor mehr Tugenden haben müsste. Ruppige Gasannahme und verzögerter Einsatz stören.

Fahrwerk:
Viele Reserven, straff abgestimmt, dazu die längere Schwinge für bessere Traktion. Aber sie fordert Einsatz vom Fahrer. Die Gabel vermittelt wenig Gefühl fürs Vorderrad.

Ergonomie:
Keine spürbare Veränderung zur alten R1, und deshalb passt es gut. Der Fahrer hat nach hinten Platz, und die Hebeleien sind prima erreichbar.

Fahrspaß:
Anti-Hopping-Kupplung und Bremse sind das ganz große Plus der Neuen. Die Traktionsvorteile sind spürbar. Die Steuerelektronik am Gasgriff enttäuscht.

Urteil:
Nicht missverstehen: Die neue R1 ist kein schlechtes Motorrad. Allerdings hatte Yamaha mit diesem großen Entwicklungsschritt mehr versprochen.

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PS 10 / 2023

Erscheinungsdatum 13.09.2023