Wie man die Sache auch betrachtet, es wird nicht besser. Von vorne ein Rad zu viel unter der ausladenden Frontpartie, aus der Fahrerperspektive die breite Verkleidung wie ein mächtiger Stiernacken zwischen den Beinen und von hinten der proportionale Supergau aus schlanker Heckpartie und riesigem Vorbau. Nein, eine klassische Schönheit wird die neue Yamaha Niken niemals werden. Aber das wäre angesichts der technischen Voraussetzungen dieser ganz besonderen Vorderradführung, die unseren Sehgewohnheiten derart widerspricht, auch ein Wunder gewesen. Dieses Wunder blieb also aus. Und es ist an dieser Stelle eigentlich auch mehr als müßig, darüber zu diskutieren, ob die Niken ein schönes Motorrad ist.
Ein Motorrad oder nicht?
Die derzeit am meisten gestellte Frage ist vielmehr, ob die Yamaha Niken überhaupt ein Motorrad ist. Zu artfremd wirkt dieses hochbeinige Zwillingsreifen-Arrangement unter der insektoiden Scheinwerferpartie, zu undurchschaubar das, was sich dahinter verbirgt, als dass man dieses Konstrukt sofort und vorbehaltlos in die große Motorrad-Familie aufnehmen würde. Es nützt nichts, da hilft nur eins: Die Schablonen im Kopf rigoros beiseiteschieben und der Niken eine Chance geben. Am besten, indem man es selbst einmal ausprobiert. Eins ist gewiss: Danach sieht die Niken zwar keinen Deut vertrauter aus, aber die ganz persönliche Motorradwelt ist um ein Rad reicher geworden. Wer selber fährt, für den ist klar: Die Niken ist fraglos ein Motorrad.

So ging es bislang jedenfalls allen aus der MOTORRAD-Redaktion, die sich auf und an der Yamaha Niken versuchten. Und noch etwas war erstaunlich. Ausnahmslos alle sprachen von „Vertrauen“, wenn es darum ging, zu beschreiben, welches Gefühl ihnen die beiden kleinen, mit Bridgestone A 41 bereiften 15-Zoll-Vorderräder vermittelten, und zwar vom ersten Meter an. Erstaunlich deshalb, weil es ja eine komplexe, schwer zu durchschauende Mimik ist, die das, was die Vorderräder machen, irgendwie zu den Lenkerenden transportieren muss. Und noch etwas ist bemerkenswert: Diese Signale werden je nach fahrerischem Können unterschiedlich interpretiert. Erfahrene Piloten, die über die Jahre zu einer innigen Beziehung mit ihrem Vorderrad gefunden haben, empfinden den vermeintlichen Haftungsvorteil zwar auch, aber doch deutlich weniger intensiv als diejenigen, die in der Regel mit gehörigem Respektabstand zu den Grenzen der Fahrphysik unterwegs sind. Das gilt zudem umso mehr, je weiter sich die äußeren Bedingungen vom Motorradfahrer-Ideal entfernen. Zum Beispiel auf Schlechtwegstrecken, im Regen oder auch morgens, auf dem Weg zur Arbeit.
Die Stunde der Yamaha Niken
Wer kennt das nicht: die Straße von den kalten, nebeligen Herbstnächten noch nass, dazu Straßenbahnschienen, Gullydeckel und anderes Ungemach, die Reifen durchgefroren und stocksteif. Das ist die Stunde der Yamaha Niken, dann läuft sie zu großer Form auf. Während auf herkömmlichen Motorrädern dann spitze Finger die Lenkerenden führen und der Bremshebel nur gestreichelt wird, greift man auf der Yamaha Niken beherzt zu, hat volles Vertrauen in die doppelte Führungskraft. Wenn hier jetzt was verrutscht, dann rutscht es eben – sagt der Kopf. Geborstenes, zerkratztes Plastik und verbogene Gabelholme kommen in dieser Szenerie nicht vor. Die Frage steht jedoch im Raum: Ist die Niken mit ihren zwei Vorderrädern tatsächlich mit diesem Sicherheitsplus unterwegs? Oder, anders gefragt: Wie weit halten wir mit nur einem Vorderrad in diesen Situationen denn wirklich Abstand zu dem, was möglich wäre?

Ortswechsel, Neuhausen ob Eck, ein ehemaliger Militärflughafen, MOTORRAD Top-Test-Revier. Die Yamaha Niken in Aktion, sie wedelt trotz ihrer Körperfülle erstaunlich leichtfüßig durch den schnellen Slalom-Parcours. Testfahrer Karsten zeigt sich nach seinem Niken-Erstkontakt auch einigermaßen erstaunt.„Das fährt wirklich ganz normal. Ich hätte nicht gedacht, dass so etwas so gut funktionieren kann. Respekt vor den Yamaha-Ingenieuren, die dieses Konzept so umgesetzt haben.“ Eingewöhnungszeit null also, wie schon bei allen anderen, die die Niken fuhren. Und das, obgleich unter der Verkleidung so viel in Bewegung ist. Kippt die Yamaha von einer Schräglage in die andere, verschieben sich die Gabelholme nämlich wie in einem Parallelogramm synchron zueinander. Das kurveninnere Rad nach oben, das kurvenäußere um die gleiche Wegstrecke nach unten gedrückt, und zwar je schräger, desto mehr. Der Bodenkontakt beider Räder ist so jederzeit gewährleistet, ohne zunächst die 110 Millimeter Federweg der Doppel-Gabel jenseits der fahrdynamischen Kräfte zu beanspruchen. 45 Grad mögliche Schräglage verspricht Yamaha, und das scheint eher tiefgestapelt.
Wie schlägt sich das Dreirad auf dem Test-Parcours?
An der Schräglagenfreiheit wird es also auch hier nicht scheitern.„Aber natürlich ist zu vermuten, dass die Yamaha Niken keine Bäume ausreißen wird, auch wenn sie dank der doppelten Reifenaufstandsfläche beim Anbremsen und in Schräglage deutliche Vorteile haben sollte.“ Karsten dämpft schon vorab die Erwartungen, und weshalb, liegt auf der Hand. Der MOTORRAD Top-Test-Parcours, das ist eine fahrdynamische Herausforderung auf hohem Niveau. Schneller Slalom, langsamer Slalom, Kreisbahn, Bremsen aus 100 km/h bis zum Stillstand – hier geht es nicht um Gefühle oder Biker-Romantik, sondern um Sekundenbruchteile. Wer ganz vorne dabei sein will, bei dem muss alles passen. Die Haftung der Vorderräder ist daher nur ein Aspekt unter vielen, geht es mindestens im gleichen Maß um Handling, Bremsen, Präzision und Stabilität.„Die breite Spur der Niken wird besonders im schnellen Slalom auch ein Problem sein“, vermutet Karsten.„Ich muss weitere Bögen fahren als mit einem normalen Bike, kann wegen der beiden Räder nicht so haarscharf wie gewohnt an den Pylonen vorbeizirkeln. Dazu kommt das stattliche Gewicht von 265 Kilogramm. Das sind fast 70 Kilo mehr als bei der MT-09, die ja die Basis für das Niken-Konzept ist. Damit wird selbst der kräftige Yamaha-Triple trotz der kürzeren Sekundärübersetzung ganz ordentlich zu schaffen haben, wenn es darum geht, nach den Wendepunkten wieder zu beschleunigen.“

Apropos MT-09: Natürlich hätte MOTORRAD den Mittelklasse-Bestseller als Referenz gerne dabeigehabt, zumal es direkte Konkurrenz in diesem Fall nicht gibt. Yamaha jedoch hat das abgelehnt. Weil Testen jedoch immer und vor allem auch Vergleichen bedeutet, durfte deshalb eine andere ran. Die KTM 790 Duke aus dem Dauertestfuhrpark, natürlich umbereift auf die Niken-Serienreifen, soll die ReferenzWerte zu liefern. Schließlich kommt sie der MT-09 von ihren Anlagen her sehr nahe und kann zeigen, was ein konventionelles Motorradkonzept gegen den numerischen Räder-Überhang der Niken ausrichten kann. Yamaha Niken gegen die Duke also: Das ist angesichts der Daten und Abmessungen ein wenig wie Reisedampfer gegen Speedboot, denn die MT-09 hat auf ihrem Weg zum dritten Rad und der neuen Identität in jeder Hinsicht zulegt. Kann das zweite Vorderrad diese Nachteile ausgleichen? Um es kurz zu machen – nein.
790 Duke glänzt mit Top-Werten
Die Yamaha Niken wahrt in jeder Hinsicht Respektabstand zur eiligen Österreicherin, die allerdings auch mit Top-Werten glänzt und mit ihrer Kombination aus kompakten Abmessungen, geringem Gewicht und quicklebendigem Reihen-Twin die Messlatte sehr hoch legt. Das heißt jedoch nicht, dass die Niken langsam wäre. Im Gegenteil: Gerade in der Kreisbahn beweist sie, dass diese komplexe Konstruktion auch in großen Schräglagen nicht klein beigibt, sondern sich auf Augenhöhe mit so arrivierten Größen wie der Ducati Multistrada 1200 S befindet. Im schnellen Slalom bietet sie einer neuen BMW F 750 GS die Stirn und hält im langsamen Handlingparcours eine BMW R 1200 RT oder die neue 1100er-Scrambler von Ducati in Schach. Das ist ehrenwert, reicht aber nicht, um die Überlegenheit des neuen Konzepts zu beweisen. Deutlich wird aber auch etwas anderes: Es sind in erster Linie nicht funktionelle Nachteile der neuen Vorderradführung (die bei BMW übrigens längst einen imageträchtigen Namen mit der Endung„-lever“ erhalten hätte), sondern eher nachgeordnete Begleiterscheinungen, die bessere Resultate verhindern. Allen voran die Gewichtsverteilung, die sich aus der aufwendigen Lenkmechanik und der Dopplung vieler Bauteile ergibt.

Fette 152 Kilogramm lasten ohne Fahrer auf den Vorderrädern, nur 113 Kilo sind es hinten. Das entspricht einer Gewichtsverteilung von rund 57 zu 43 Prozent und äußert sich in einer ausgeprägten Kopflastigkeit, zumal die zusätzlichen Pfunde vor dem Lenkkopf und damit sehr hoch und sehr weit vorne platziert sind.„Das bedeutet zweierlei“, referiert Karsten anschaulich. „Mir wird beim Slalom an den Umkehrpunkten das Heck leicht, während die Front stabil hält. Dieses leichte Heck ist es auch, das bei den Bremsmessungen aus 100 km/h bessere Werte verhindert. Ständig steigt die Hinterhand, das ABS muss regeln. Und außerdem regelt es nicht eben feinfühlig.“ Das bedeutet: Nach 41,5 Metern steht die Duke, nach 43,5 Metern die Niken. Anders ausgedrückt: Stünde bei 41,5 Metern ein Hindernis, würde sie mit gut 20 km/h einschlagen.
Vorteile messtechnisch nicht darstellbar
Ernüchterung macht sich breit, betretene Gesichter. Eins steht fest: Hier, im Top-Test-Parcours, lassen sich die Vorteile, die die zwei Vorderräder subjektiv vermitteln, messtechnisch nicht darstellen. Doch was tun, sie sind ja irgendwie vorhanden, aber eben nicht unter Idealbedingungen, auf bekanntem Terrain, mit sattem Grip und tausendfach geübten Radien, markierten Bremspunkten. Am physikalischen Limit eben. Die Lösung könnte sein, dahin zu gehen, wo es richtig kribbelig wird. Das Pirelli-Testgelände vor den Toren Mailands ist so ein Ort. Er hat nicht nur eine trickreiche Handlingstrecke, sondern auch verschiedene Beläge mit unterschiedlichen Reibwerten, und – ganz wichtig – er lässt sich fluten. Da sollte das Konzept der Yamaha Niken seine Vorteile auch auf der Stoppuhr ausspielen können.

Der aufmerksame Leser ahnt, was kommen muss. Die alte Lebensweisheit, dass Probleme nicht kleiner werden, wenn die Schwierigkeiten größer werden, gilt auch für die Causa Niken. Auf nasser Piste ist es nicht die vorbildlich abgestimmte, extrovertierte Frontpartie, die die Tour vermasselt, sondern das konventionelle Heck der MT-09. Auf der Bremse steigt es, beim Einlenken will es die stabil auf Kurs bleibende Front rechts und links überholen, und unter Zug findet es selbst auf der Geraden keinen Grip, weil der übliche Gewichtstransfer zum Hinterrad wegen der schweren Front nicht wie gewohnt stattfindet. Was bleibt nun unter dem Strich? Die Erkenntnis, dass Revolutionen etwas länger dauern. Dass jede neue Technik ihre Tücken hat. Und dass es trotzdem lohnt, Neues auszuprobieren. Denn wer einmal Yamaha Niken fuhr, bekommt sie trotz aller Vorbehalte nicht mehr aus dem Kopf.
Nässetest - Erschwerte Bedingungen
Gerade wenn es schwierig wird, soll die Yamaha Niken es mit ihren beiden Vorderrädern leichter machen. Wir haben es ausprobiert – auf der Nassstrecke und in den Alpen. Man musste kein Experte sein, um zu ahnen, was kommen würde. Allein die Eckdaten der ausladenden und vor allem schweren Niken sprachen gegen neue Rekordwerte in der Fahrdynamik-Prüfung, solange die äußeren Bedingungen auch den konventionellen, aber leichteren Konzepten den Balanceakt am Grenzbereich erlaubten. Also dann: Pirelli-Testgelände vor den Toren Mailands, Nassstrecke mit Mini-Reibwerten (0,4 und 0,7 µ) Kopfsteinpflaster, das ganze Gruselkabinett. Und unterwegs noch der Splügen-Pass, schlechter Asphalt, engste Kehren – hier sollte der Niken-Doppelwhopper zeigen, was er wirklich kann. Und tut es auch, jedenfalls, was die Vor- derhand betrifft. Glänzt mit erlesenem Ansprechverhalten, hält stabil die Spur, bügelt alles glatt, und das, ohne es an Feedback vermissen zu lassen oder beim Bremsen über Gebühr abzutauchen.

Im Gegenteil, die Anti-dive-Funktion ist deutlich spürbar, das Bremsgefühl trotz der eher stumpfen Beläge gut. Doch auch hier kommt man an den Einschränkungen einfach nicht vorbei. Am Splügen mit seinen engen Kehren sind es die schiere Masse, die Abmessungen und der hohe Schwerpunkt, die der Niken in die Parade pfuschen. Wo die springlebendige KTM in den engen Kehren verschiedene und vor allem enge Linien anbietet, gibt es auf der dicken Niken – beinahe wie beim Auto – oft nur eine Option. Da hilft auch alles Vertrauen in die Vorderräder nicht, das hier dank komfortabler Abstimmung und feinem Ansprechverhalten, aber auch wegen der geringen Empfindlichkeit auf Rillen und Frostaufbrüche glänzt. Dazu gesellt sich leider eine weniger gut abgestimmte Heckpartie, die im Gegensatz zur Niken-Front zumindest im Solo-Betrieb deftige Schläge austeilt. Diese Abstimmung praktisch ohne Negativfederweg offenbart bei den Bremsmessungen im Nassen eindeutig ihre Schwäche. Ein leicht werdendes Heck nämlich, das unter ABS-Einfluss schnell aus der Spur läuft. Ein weiteres Problem offenbart sich in der Beschleunigungsphase am Kurvenausgang. Während die Front stoisch auf der gewünschten Linie bleibt, findet der Hinterreifen einfach keinen Grip und übersteuert nachhaltig. Das setzt sich bis auf die Geraden fort, die KTM nimmt der Yamaha Niken Meter um Meter ab. Die vermutete Ursache: Wegen der kopflastigen Frontpartie wandert zu wenig Achslast auf das Hinterrad. Die Traktionskontrolle ist bei diesen Messungen stets ausgeschaltet, weil sie zu früh regelt.
Kommentar von Stefan Kaschel
So, da stehe ich nun mit meinem Talent. Zuerst habe ich die neue Yamaha Niken und ihr zweites Vorderrad bei der Präsentation über den grünen Klee gelobt, jetzt muss ich erklären, warum sich das messtechnisch nicht niederschlägt. Kann ich aber. Weil es eben zwei Paar Schuhe sind, der MOTORRAD Top-Test und der kritische Selbst-Test. Beim Top-Test rückt ein Profi auf ihm bekanntem Terrain unter idealen Bedingungen aus, um das Limit des Materials zu definieren. Beim Selbst-Test reflektiert jeder zunächst die eigenen Möglichkeiten und sucht dann den dazu passenden Untersatz. Anders ausgedrückt: Karsten bewegt Motorräder an den Grenzen des Materials. Andere stoßen zuverlässig zuerst an ihre eigenen. Und denen wird es – ich bleibe dabei – dank des zweiten Vorderrads leichter fallen, neue Grenzbereiche zu erfahren. Kopfsache eben.
MOTORRAD-Fazit
Wird Valentino Rossi demnächst mit zwei Vorderrädern ausrücken? Nein, gewiss nicht. Aber darum geht es auch nicht. Sondern darum, dass ein so ungewöhnliches Fahrzeugkonzept unsere Motorradwelt bereichert, denn das tut die Yamaha Niken zweifellos. Hoffentlich hat Yamaha einen langen Atem – die Niken hat es verdient.