Vollbremsung auf Rollsplit? Kein Grund zur Panik, sofern elektronische Helfer an Bord sind. Diese Assistenzsysteme können das Motorradfahren sicherer machen. Von herausragender Bedeutung ist dabei das Antiblockiersystem.
Vollbremsung auf Rollsplit? Kein Grund zur Panik, sofern elektronische Helfer an Bord sind. Diese Assistenzsysteme können das Motorradfahren sicherer machen. Von herausragender Bedeutung ist dabei das Antiblockiersystem.
Die zehn meistverkauften Modelle der vergangenen beiden Jahre in Deutschland sind mit ABS ausgerüstet. Die Orderquote bei optional angebotener ABS-Ausstattung beträgt nahezu 100 Prozent.
Deshalb beleuchtet auch der aktuelle ABS-Vergleich die komplette Bandbreite des Motorrad-Spektrums. Als Pionier von ABS in Cruisern machte sich ausgerechnet Harley-Davidson einen Namen, vertritt deshalb mit der Night Rod Special die Chopper-Liga. Die Flagge der Touring-Fraktion schwenkt die in diesem Jahr aufpolierte Kawasaki 1400 GTR, die neue Yamaha Super Ténéré und der Evergreen BMW R 1200 GS vertreten die Reiseenduros. Das Segment der Sporttourer repräsentiert die neu konstruierte Honda VFR 1200 F, der Klassiker Suzuki Bandit 1250 das der Allrounder. In den Fokus rückt das Duell der Supersportler. Schließlich folgte der Honda Fireblade nun die ebenfalls mit rennstreckentauglichem ABS ausgestattete BMW S 1000 RR.
Wer fehlt? Leider die Ducati Multistrada. Nach der Kritik von MOTORRAD an deren ABS-Regelverhalten (Heft 10/2010), überarbeiten die Italiener derzeit die Software - die auch bei den bereits verkauften Multistrada aktualisiert werden soll. MOTORRAD wird das Update baldmöglichst unter die Lupe nehmen.
Nicht zuletzt wegen des Supersport-Duos verschärfte MOTORRAD gegenüber den bisherigen ABS-Vergleichen (Heft 19/2006 und 14/2009) die Testbedingungen auf dem Continental-Prüfgelände in Jeversen nahe Hannover. Sandfelder simulierten plötzlich wechselnde Untergründe, ein welliges Asphaltstück täuschte Verwerfungen oder Frostaufbrüche vor. Allerdings: Die Ergebnisse der Standard-Messungen auf trockener oder nasser Fahrbahn lassen durch den weniger griffigen Asphalt des Contidroms keine Vergleiche mit den Messungen früherer Tests zu. Was nichts daran ändert, dass die Resultate innerhalb des Testfelds uneingeschränkt miteinander vergleichbar sind. Ob und wie ABS in Schräglage funktioniert, welchen Einfluss die Reifen auf die Verzögerungsleistung haben und was die weitere Zukunft in Sachen ABS-Entwicklung bringen wird.
Hier geht's zum Assistenzsystem-Test - Teil 2: Traktionskontrolle
SUPERSPORTLER
BMW S 1000 RR
ABS-Hersteller: Bosch
Bremssystem: teilintegral
Betätigung Handhebel: Bremse vorn/hinten
Betätigung Pedal: Bremse hinten
Basispreis/Aufpreis ABS: 15500/915 Euro
Honda Fireblade
ABS-Hersteller: Nissin
Bremssystem: vollintegral
Betätigung Handhebel: Bremse vorn/hinten
Betätigung Pedal: Bremse vorn/hinten
Basispreis/Aufpreis ABS: 14990 Euro/1000 Euro
SPORTTOURER
Honda VFR 1200 F
ABS-Hersteller: Nissin
Bremssystem: vollintegral
Betätigung Handhebel: Bremse vorn/hinten
Betätigung Pedal: Bremse vorn/hinten
Basispreis/Aufpreis ABS: 14900 Euro/Serie
TOURER
Kawasaki 1400 GTR
ABS-Hersteller: Bosch
Bremssystem: vollintegral
Betätigung Handhebel: Bremse vorn/hinten
Betätigung Pedal: Bremse vorn/hinten
Basispreis/Aufpreis ABS: 16995 Euro/Serie
ALLROUNDER
Suzuki Bandit 1250
ABS-Hersteller: Nissin
Bremssystem: vorn/hinten getrennt
Betätigung Handhebel: Bremse vorn
Betätigung Pedal: Bremse hinten
Basispreis/Aufpreis ABS: 9190 Euro/Serie
CRUISER
Harley-Davidson Night Rod Special
ABS-Hersteller: Delphi
Bremssystem: vorn/hinten getrennt
Betätigung Handhebel: Bremse vorn
Betätigung Pedal: Bremse hinten
Basispreis/Aufpreis ABS: 18355 Euro/Serie
REISEENDUROS
BMW R 1200 GS
ABS-Hersteller: Continental
Bremssystem: teilintegral
Betätigung Handhebel: Bremse vorn/hinten
Betätigung Pedal: Bremse hinten
Basispreis/Aufpreis ABS: 13000 Euro/1080 Euro
Yamaha XT 1200 Z Super Ténéré
ABS-Hersteller: Continental
Bremssystem: teilintegral
Betätigung Handhebel: Bremse vorn/hinten
Betätigung Pedal: Bremse hinten
Basispreis/Aufpreis ABS: 14965 Euro/Serie
Auf trockener Strecke müssen die einzelnen Konzepte ihr maximales Verzögerungsvermögen unter Beweis stellen. Eine Jagd nach individuellen Rekorden.
Rennstreckentaugliches ABS. Allein diese Charakterisierung räumt für den Laien alle Zweifel beiseite. Welche anderen Maschinen als die beiden Supersportler von BMW und Honda sollten beim Antiblockiersystem die Messlatte legen? Weit gefehlt. Neben der Regelqualität des ABS beeinflusst nämlich das ganze Fahrzeugkonzept maßgeblich das Bremsverhalten eines Motorrads. Schließlich gilt es, beim Bremsvorgang nicht nur die Räder möglichst nah an der Blockiergrenze entlang zu regeln, sondern auch unter allen Umständen einen Überschlag zu vermeiden. Technisch gelöst wird diese Gratwanderung durch eine so genannte Plausibilitätsabfrage. Dabei ermittelt der ABS-Rechner aus der Verzögerung und dem Schlupfabgleich der beiden Räder, ob das Hinterrad gerade abhebt, und verringert nötigenfalls den Bremsdruck. Sind Cruiser und Tourer durch einen langen Radstand und vergleichsweise tiefe Sitzpositionen vor dem Vorwärtssalto weitgehend gefeit, werden hochbeinige Enduros und kurze Sportler durch ihren hohen Schwerpunkt latent mit dem Überschlagsproblem konfrontiert.
Mit ein Grund, weshalb die BMW S 1000 RR über insgesamt vier ABS-Modi verfügt. Während Rain-, Sport- und Race-Modi ein abhebendes Hinterrad weitgehend vermeiden, erlaubt die Slick-Abstimmung eine extremere Verzögerung - mit dem Risiko, dass auf griffigem oder holprigem Belag ein Überschlag im Bereich des Möglichen liegt. Weshalb sämtliche Messungen dieses ABS-Tests mit der BMW in dem für den Alltagsbetrieb vorgesehenen Sport-Modus stattfanden. Die Honda-Techniker belassen es in der hochkomplexen Brake-by-Wire-Bremsanlage der Fireblade bei einer im Rechner fixierten und vom Piloten nicht einstellbaren ABS-Abstimmung. Im Gegensatz zur BMW kann das System auch nicht komplett abgeschaltet werden. Trotz allen technischen Aufwands - in der Trockenbremsung muss sich die kippelige Sportabteilung mit identischen 41,5 Metern Bremsweg dem Gros ihrer Kolleginnen geschlagen geben. Steht selbst die sich als Enduro beim Bremsen tief verneigende Yamaha Super Ténéré einen halben Meter früher als die Supersportler, überrascht das Spitzentrio noch mehr.
Mit der Harley-Davidson, der Suzuki Bandit und der BMW R 1200 GS markieren drei völlig unterschiedliche Konzepte gleichauf den Bestwert von 39,8 Metern. Während der Night Rod Special in dieser Wertung das bei einem Cruiser effektiv mitbremsende Hinterrad zu Hilfe kommt, erreicht die GS diesen Paradeauftritt mit Unterstützung eines fahrwerkstechnischen Kniffs. Der Nickausgleich der Telelever-Vorderradführung verhindert beim Bremsen das Abtauchen der Front, reduziert damit nicht nur die Überschlagsneigung sondern erlaubt durch die reduzierte dynamische Radlastverlagerung ein relativ stark zur Verzögerungsleistung beitragendes Hinterrad. Ein Sonderlob erhält die Suzuki, die zeigt, welche Bremsleistung unter diesen für die Regelung relativ unkomplizierten Bedingungen mit konventioneller Technik im preisaggressiven Allrounder-Segment erreicht werden kann. Ganz im Gegensatz zum unauffälligen (Honda VFR 1200 F) oder gar enttäuschenden (Kawasaki 1400 GTR) Auftritt der teuren Konkurrenz.
Reibwertsprung - der Fachausdruck für eine sich plötzlich ändernde Griffigkeit der Fahrbahn - stellt an die ABS-Regelqualitäten hohe Ansprüche.
Szenenwechsel. Drei im Abstand von drei Metern aufeinander folgende, jeweils 1,5 Meter breite Sandfelder lauern den Testmaschinen auf. Ohne ABS der pure Alptraum. Müsste der Fahrer für eine möglichst optimale Verzögerung schließlich auf den griffigen Zwischenräumen in Sekundenbruchteilen (im konkreten Versuchsaufbau etwa 0,2 Sekunden) Bremsdruck aufbauen und - vor allem - rechtzeitig vor dem nächsten Sandfeld die Bremse wieder lösen. Ein Ding der Unmöglichkeit. Was die menschliche Motorik vor unlösbare Aufgaben stellt, bewältigen moderne ABS-Regelungen problemlos. Das Diagramm eines Bremsvorgangs mit der BMW S 1000 RR auf der gegenüberliegenden Seite demonstriert dies eindrücklich. Nach der fast ungebremsten Durchfahrt durch das Sandfeld, erkennbar an der nahezu identischen Geschwindigkeit des Vorderrads (rote Linie) am Beginn und Ende der Sandstrecke, schafft es die ABS-Regelung in den besagten 0,2 Sekunden Bremsdruck aufzubauen und die Geschwindigkeit der BMW innerhalb drei Metern um sieben (erstes Asphaltstück) beziehungsweise vier km/h (zweites Asphaltstück) zu reduzieren.
Dass mit der Fireblade ausgerechnet ein Supersportler diesen schwierigen Job mit einem Bremsweg von 47 Metern am besten erledigt, erstaunt in höchstem Maß. Schließlich droht gerade solchen Sportbikes beim Belagwechsel nach dem letzten Sandfeld akute Stoppie- oder Überschlagsgefahr. In diesem Fall profitiert die Honda eindeutig von der auf relativ moderate 9,3 m/s² (siehe Ergebnisse der Trockenbremsung) begrenzten Verzögerungsleistung und einem exzellenten Regelverhalten in den Reibwertsprüngen. Eine Anmerkung am Rande: Die ABS-Abstimmung der im Rennsport eingesetzten Fireblade unterscheidet sich ganz erheblich von derjenigen der Serienmaschine. BMW verzichtet im Rennsport in der S 1000 RR derzeit sogar noch ganz auf das ABS.
Gemeinsam mit der in der Bremsleistung als Referenz im Reiseenduro-Segment bekannten BMW R 1200 GS schiebt sich die VFR 1200 F auf Rang zwei. Und damit noch vor die BMW S 1000 RR. Im Vergleich zur Honda Fireblade regelt die BMW gröber, packt nach den Belagwechseln jedoch bissiger zu. Am Ende benötigt sie gegenüber der Fireblade dennoch einen 1,8 Meter längeren Bremsweg - und verhält sich während des Bremsvorgangs durch die harten Lastwechsel deutlich nervöser.
Während die bei den Trockenbremsungen noch überraschende Suzuki Bandit sich mit 49,5 Metern Bremsweg wieder zurück meldet, hätte man der subjektiv fein regelnden Super Ténéré gerade hier mehr zugetraut als nur mit dem preisgünstigen Allrounder gleichauf zu ziehen. Zumindest deutlich mehr als dem auf dem Zebramuster äußerst grob regelnden Harley-ABS, das den 310-Kilo-Brummer trotz allem nur 60 Zentimeter später parkt. Opfer ihrer auch vom Fahrer jederzeit spürbaren hemdsärmeligen Regelung wird einmal mehr die Kawasaki 1400 GTR. Über den letzten Platz tröstet auch nicht das in diesem Jahr bei dem Tourer neu ins Programm genommene Verbundbremssystem hinweg.
Schlimmer wirds nimmer - nach Trockenbremsung und Reibwertsprüngen bringt eine üble Wellblechpiste die Regelsysteme endgültig an ihre Grenzen.
Es ist nicht leicht, modernen Antiblockiersystemen ihre Grenzen aufzuzeigen. Wenn es gelingt, dann meist beim heftigen Verzögern auf holprigen Straßen. Der Grund: Wenn sich das Motorrad beim Bremsen aufschaukelt, kann ein auf den Wellen abhebendes Hinterrad der ABS-Software eine Überschlagsgefahr suggerieren. Der Rechner reagiert mit reduziertem Bremsdruck - und das eventuell schon weit vor der Blockiergrenze der Räder. In der Tat entwickelt sich die mit mehreren, bis zu fünf Zentimeter hohen Asphaltrunzeln durchzogene, höchst anspruchsvolle Schlechtwegstrecke des Contidrom zum ultimativen Prüfstein für die ABS-Regelungen. Nach der Trockenbremsung und dem Reibwertsprung fallen die Bremswege als Indikatoren für den Anspruch an die Regeltechnik mit Abstand am längsten aus.
Wobei sich in dieser Disziplin der nächste Überraschungssieger hervortut, die BMW S 1000 RR. Trotz des konzeptionellen Nachteils eines Supersportlers fällt die Bayerin regelrecht über die Rumpelpiste her, kämpft mit ihrer aggressiven ABS-Regelung um jeden Zentimeter. Nach 52,8 Metern steht das Superbike.
Auf gleicher Augenhöhe kann ihr dabei höchstens noch die Yamaha begegnen, deren sensible ABS-Abstimmung hier endlich Früchte trägt. Erst mit Respektabstand folgt der Rest des Felds, inklusive der BMW R 1200 GS. Dass das ABS des Boxers beim Bremsen auf Holperstrecken Schwächen zeigt, hat MOTORRAD schon des Öfteren moniert. Subjektiv reduziert die GS auch auf der Schlechtwegstrecke im Contidrom die Bremsleistung nach groben Wellen auffällig lange, rettet die Gesamtbilanz letztlich aber durch den äußerst beherzten Eingriff der Bremse nach der Schwächephase. Apropos Schwächeanfall. Den leistet sich mit 65,4 Metern Bremsweg die Fireblade, deren ABS-Software im Geholper offensichtlich auf Nummer sicher gehen will. Die formidablen Werte der Honda beim Reibwertsprung lassen vermuten, dass die Nissin-Techniker bei der Applikation auf diese Art von Rumpelpisten wohl etwas zu sehr auf die Vermeidung eines Überschlags schielten.
Vollbremsung auf vor Nässe spiegelnder Strecke? Ohne Blockierverhinderer ein Grund für ungewollte Schweißausbrüche - mit ABS ein Kinderspiel.
Auf der Nassteststrecke verschieben sich die Relationen - und dies im wahrsten Sinne des Wortes. Ruhte der Großteil der Bremsverantwortung durch die dynamische Radlastverschiebung (das Heck wird bei der Verzögerung ent-, die Front belastet) bei den bisherigen Messungen auf dem Vorderrad, ändert der Nässeparcours die Arbeitsteilung. Durch die geringere mögliche maximale Verzögerung verbleibt wesentlich mehr Gewicht auf dem Hinterrad, das deshalb etwa 15 bis 20 Prozent der gesamten Verzögerungsleistung erbringen kann.
Die integralen Bremssysteme an den beiden BMW- und Honda-Modellen sowie der Yamaha Super Ténéré bleiben bei Messungen - bei denen grundsätzlich mit beiden Bremsen verzögert wird - ohne Einfluss auf den Bremsweg. Dies träfe nur zu, wenn, wie im Alltag oft der Fall, lediglich mit einer Bremse (Handhebel oder Bremspedal) verzögert wird.
Quasi ein gefundenes Fressen ist die besagte reduzierte Radlastverschiebung auf der Nassstrecke für das BMW-Superbike. Ohne die lauernde Gefahr des Überschlags einkalkulieren zu müssen, distanziert die S 1000 RR mit 48,8 Metern Bremsweg alle anderen Konzepte - und die Sportskollegin Fireblade obendrein. Allein die Tatsache, dass sowohl die GTR als auch die Super Ténéré der Honda Paroli bieten, beweist einmal mehr die konservative, mit reichlich Sicherheitsreserven gewählte Abstimmung des Fireblade-ABS. Zumal sich auch die eher touristisch ausgerichteten BMW R 1200 GS und die Honda VFR 1200 F von ihr kaum distanzieren lassen. Während die Bandit im Nassen nur noch verzögerungstechnische Hausmannskost bietet, lässt sich die Harley einmal mehr hängen. Ein über 13 Meter längerer Bremsweg bedeutet, dass der US-Chopper an dem zum Stillstand abgebremsten BMW-Superbike mit 46 km/h vorbeirauschen würde. Als schwacher Trost bleibt, dass selbst versierte Piloten mit einem ABS-losen Cruiser auf diesem kritischen Untergrund wohl schwerlich bessere Werte erreichen würden.
Dass es mit der BMW S 1000 RR und der Super Ténéré gleich zwei Spitzenreiter aus dem aktuellen Modelljahr gibt, bestätigt: Auch ABS entwickelt sich weiter.
Vier verschiedene Test-Module, dazu eine deutlich anspruchsvollere Versuchsanordnung in den Kriterien Reibwertsprung und Schlechtwegstrecke - der ABS-Vergleich des Jahrgangs 2010 von MOTORRAD hat die Messlatte nochmals höher gelegt. Dass sogar die Gesamtsiegerin, die BMW S 1000 RR neben zwei brillanten Auftritten (Schlechtweg und Nässe) in den beiden weiteren Kriterien sich mit dem Verzögerungsniveau von Reiseenduros und Allroundern begnügen muss und letztlich kein einziges Konzept durchgängig in allen Disziplinen im Vorderfeld landen kann, beweist vor allem eins: Die Abstimmung der ABS-Regeltechnik im Motorrad bleibt nach wie vor eine höchst komplizierte Angelegenheit.
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ABS an Bord - und alles wird gut? Stimmt nicht ganz. MOTORRAD klärt, wie der Blockadeschutz bei Schräglage und mit angejahrten Reifen funktioniert, erläutert den Bremsvorgang und schaut in die Zukunft der ABS-Technik.
Fritz Fröhlich genießt den lauen Herbsttag, schwingt seine neue Yamaha Super Ténéré lustvoll von Kurve zu Kurve. Er fühlt sich sicher, schließlich besitzt die 1200er ABS. Und damit bringt er, so hat er gelesen, seinen Untersatz bei Landstraßentempo in knapp 41 Metern gefahrlos zum Stehen. Verständlich, dass ihn das aus dem etwa 50 Meter entfernten Waldweg trippelnde Reh kalt lässt. Geistesgegenwärtig steigt er voll in die Eisen - und pfeift haarscharf am verdutzten Rotwild vorbei. Dem sorglosen Fritz schlottern die Knie. Denn der Yamaha-Pilot hat etwas vergessen: Bremsweg bedeutet nicht Anhalteweg.
Während im ABS-Vergleich die Differenz zwischen dem kürzesten und längsten Bremsweg in einer Kategorie auf bis zu drei Meter schrumpft, spielt der Mensch eine immer noch wichtige Rolle.
Um auf den mit 100 km/h dahinschwingenden Fritz zurückzukommen: Gemeinhin dauert es 0,1 Sekunden, bis der Kradler das Reh überhaupt als Gefahr erkennt, weitere 0,8 Sekunden bis Hand und Fuß die Bremsen betätigen. In dieser Schrecksekunde rollt Fritzchen schon knappe 25 Meter dahin - ungebremst. Dafür drückt er nun machtvoll zu. Den Handhebel mit ungefähr 140 Nm (zirka 14 Kilogramm), das Pedal mit etwa 30 Kilogramm. Bis der Druck in den Bremsleitungen auf etwa 20 bar (vorn) und 28 bar (hinten) ansteigt und die Bremsbeläge plan an den Scheiben anliegen, vergehen nochmal 0,2 Sekunden. Weitere 5,6 Meter Bremsweg sind verschenkt.
Endlich ist es soweit. Nach nunmehr 30 Metern beißen die Stopper zu. Lasten die 267 Kilogramm der XTZ im Stand genau zur Hälfte auf den beiden Rädern, verschiebt sich das Gewicht beim extremen Verzögern durch die Massenträgheit nahezu vollständig auf das Vorderrad. Der Fachmann spricht in diesem Fall von einer dynamischen Radlastverschiebung. Eine Kraft, welche die Upside-down-Gabel um gut zwei Drittel ihres 190 Millimeter langen Federwegs in die Knie zwingt. In diesem Moment quetscht der enorme Anpressdruck die Reifenaufstandsfläche von etwa 30 cm² auf das Dreifache auseinander.
Bleibt unser Fritz nun unvermindert auf der Bremse, beginnt die Arbeit des ABS. Die wichtigste Information dafür erhält das System von Sensoren, welche über eine Lochscheibe an der Nabe die Drehzahl von Vorder- und Hinterrad abnehmen. Durch deren Abgleich erkennt der ABS-Rechner einen Blockadezustand der Räder und gibt dem Druckmodulator die Anweisung, über ein Ventil den Bremsdruck abzubauen. Sobald die Räder wieder Fahrt aufnehmen, steigt der Bremsdruck an, und das Spiel beginnt von vorn. Für eine maximale Verzögerung erlaubt die ABS-Regelung, dass sich die Räder im Trockenen mit 90 Prozent (zehn Prozent Schlupf) beziehungsweise bei Nässe mit 75 Prozent der Fahrzeuggeschwindigkeit (25 Prozent Schlupf) drehen. Drei Sekunden später steht die Yamaha - nach insgesamt 71,6 Metern. Fritz hat Glück gehabt. Das Reh auch.
Regelt ein Antiblockiersystem auch in Schräglage? Oder anders gefragt: Kann man auch in Schräglage voll in die Eisen steigen? MOTORRAD probierte es aus.
Die Unsicherheit unter Motorradfahrern ist nach wie vor groß. Kann ein ABS das Blockieren der Räder auch in Schräglage verhindern? Es also ermöglichen, dass selbst in Kurven mit voller Kraft in die Bremsen gestiegen werden kann, ohne sofort auf der Nase zu liegen? Zweifel sind angebracht. Ein flaues Gefühl, dies auszuprobieren, erst recht. Der Versuchsaufbau soll die Risiken so weit wie möglich minimieren. Die Honda VFR 1200 F zirkelt mit konstanten 50 km/h auf einer weitläufigen Kreisbahn. Cheftester Karsten Schwers wählt den Radius nach der auf dem Tank montierten Schräglagenanzeige, soll bei 30 und 35 Grad Schräglage jeweils mit voller Kraft abbremsen. Zur Orientierung: Auf der Landstraße gelten 40 Grad Schräglage als vertretbares Maximum. Und noch ein Referenzwert: Bei der Vollbremsung aus 50 km/h in der Geradeausfahrt steht die VFR nach 10,4 Metern.
Helm auf. Nach zwei Runden hat Kollege Schwers die Honda auf 30 Grad Neigung eingependelt - und steigt voll in die Eisen. Was passiert? Die Maschine richtet sich blitz- artig auf, kommt nach sensationellen 10,6 Metern zum Stehen. Nächster Versuch bei 35 Grad Schräglage. Wieder Vollbremsung, die VFR stoppt nach 12,7 Metern. Ein Wert, der dem Bremsweg bei Nässe entspricht.
Viel wichtiger aber ist, dass bei diesen Schreckbremsungen weder Vorder- noch Hinterrad auch nur ansatz- weise zum Blockieren neigten, also nie eine Sturzgefahr bestand. Was nichts anderes bedeutet, als dass moderne ABS-Systeme bis zu einer gewissen Grenze durchaus schräglagentauglich sind. Doch Vorsicht: Erstens nimmt die maximal übertragbare Bremskraft nach der 35-Grad-Marke überproportional ab, zweitens wird das Fahrzeug durch das Aufstellmoment beim Bremsen auf einen größeren Kurvenradius gezwungen.
Über zwei Jahrzehnte ist es her, seit BMW im Jahr 1988 in den K 100-Modellen das erste Antiblockiersystem im Serienmotorradbau anbot. Trotz elf Kilogramm Mehrgewicht und 1800 Mark Aufpreis läutete diese Pioniertat den Siegeszug des ABS ein. Die beeindruckende Weiterentwicklung der ABS-Technik spiegelt sich neben enorm gestiegener Rechnerleistung vor allem in der reduzierten Größe der Bauteile wider. So schlägt das ABS in der BMW S 1000 RR mittlerweile mit nur noch 2,5 Kilogramm Zusatzgewicht zu Buche, der Druckmodulator als mechanisches Herzstück eines Antiblockiersystems wiegt gerade mal 700 Gramm.Doch der Grundstein zum nächsten Entwicklungsschub ist bereits gelegt. Mikrotechnisch hergestellte Gyrosensoren werden in der Lage sein, exakt den Fahrzustand des Motorrads zu erkennen und die ABS-Regelung darauf anzupassen. Das lang ersehnte Ziel könnte damit Wirklichkeit werden: das voll schräglagentaugliche ABS.
Beeinflusst die Reifenwahl das Bremsverhalten mit ABS? MOTORRAD machte die Probe - mit einem Sport-, einem Touren- und einem acht Jahre alten Allroundreifen.
Die Reifenwahl - in Motorradfahrerkreisen ist sie immer ein wichtiges Thema. Seltsam nur, dass bei Diskussionen über das Thema ABS Reifen kaum eine Rolle spielen. Schließlich könnte ein sportlich-griffiger Reifen einen kürzeren Bremsweg ermöglichen als ein harter Tourenreifen.
Doch gilt das auch beim Einsatz mit ABS? MOTORRAD machte die Probe und verzögerte die BMW S 1000 RR (ABS im Sport-Modus) auf drei verschiedenen Vorderradreifen: dem supersportlichen Conti Race Attack, dem Tourensportreifen Conti Road Attack und - als Kontrastprogramm - einem acht Jahre alten Exemplar des Allrounders Bridgestone BT 019.
Das Ergebnis: Keine messbaren Unterschiede zwischen den Sport- und Tourenreifen, die mit 41,5 Metern den gleichen Bremsweg erreichten wie die originalbereifte BMW (Metzeler Racetec K3). Der abgenudelte Oldie musste mit 44,9 Metern dagegen ganz deutlich Federn lassen. Interessant: Beim erweiterten Test im aggressiver abgestimmten Slick-Modus ergab sich dasselbe Bild. Die beiden Race- und Touring-Pneus erreichten mit 39,6 Metern abermals den identischen Bremsweg, die Differenz zum angejahrten Reifen betrug einmal mehr gute drei Meter (42,9 Meter).
Reifenvergleich S 1000 RR (Sportmodus) | Verzögerung | Bremsweg |
Conti Race Attack | 9,3 m/s² | 41,5 m | Conti Road Attack | 9,3 m/s² | 41,5 m |
ältere Allroundreifen | 8,6 m/² | 44,9 m |