Technik: Federung und Fahrwerk
Neuer Trend: Big Piston Fork

Neuer Trend in der Supersport-Szene: die "Big Piston Fork", eine Upside-down-Gabel, die den altbekannten Dämpfereinsatz überflüssig macht. MOTORRAD zeigt, was in der neuen Showa-Gabel steckt.

Neuer Trend: Big Piston Fork
Foto: fact

Um leichte und effiziente Motorräder zu bauen, führt kein Weg an multifunktionellen Bauteilen vorbei. In modernen Motoren treiben deshalb vibrationskillende Ausgleichswellen als zweite Aufgabe Öl- oder Wasserpumpen an, und Motorgehäuse versteifen im Nebenjob den Rahmenverbund. Je mehr Funktionen einem Bauteil übertragen werden, desto leichter, effizienter und kostengünstiger wird das Gesamtpaket Motorrad. In diesem Sinne ist die Teleskopgabel ein echtes Meisterstück. Sie überträgt die Lenkbewegungen, dient gleichzeitig als Radführung und übernimmt die Federung. Ein paar kluge japanische Köpfe erkannten bei den aktuellen Upside-down-Gabeln nun die Möglichkeit, bereits vorhandene Bauteile mit noch mehr Aufgaben zu betrauen. So dient das Gabeltauchrohr, das bislang maßgeblich zur Radführung und Federung herhalten musste, bei der Big Piston Fork auch noch als Zylinder für die hydraulische Dämpfung. "Halt", rufen da die Technik-Freaks, "das ist doch ein alter Hut aus den 60er und 70er Jahren."

Unsere Highlights
fact
Big Piston Fork, konventionelles Cartridge-System. 1: Cartridge-Zylinder, 2: Dämpferkolben 20 Millimeter Durchmesser, 3: Dämpferstange, 4: Tauchrohr, 5: Dämpferkolben 39 Millimeter Durchmesser.

Im Prinzip ja – aber nur im Prinzip. Der entscheidende Unterschied: Damals bewegte sich bei japanischen Telegabeln ein simpler Dämpferkolben mit unterschiedlich großen Bohrungen im Standrohr auf und ab. Tatsächlich bewirkte dieses System so etwas Ähnliches wie eine kontrollierte, aber nicht einstellbare Dämpfung. Und das auch nur dann, wenn sich dickflüssiges 30er-Gabelöl durch die Bohrungen pressen musste. Bei der aktuellen Big Piston Fork steuert pro Gabelholm ein präzise bearbeiteter, mit fein abgestimmten Ventilplättchen belegter Dämpferkolben den Ölstrom. Bislang wurde unter der Bezeichnung Cartridge, zu Deutsch: Kartusche, ein Dämpfersystem verwendet, das als separates Bauteil in der Gabel Zug- und Druckstufe regelte. Um diese Kartusche in den relativ kleinen Tauchrohrdurchmessern unterzubringen, mussten zierliche und kleine Dämpferkolben und Dämpferplättchen, die sogenannten Shims, verwendet werden. Rund 20 Millimeter kleine Kolben und ein geringes Ölvolumen im Zylinder erschweren speziell bei geringen Federbewegungen eine solide, kontrollierte und sämige Dämpfung.

Vorteile und Entwicklungen

fact
Dämpfersystem: 1: Kolbenring, 2: Dämpferkolben, 3: Dämpferplatten (Zug- und Druckstufe), 4: Zugstufenversteller, 5: Druckstufenversteller.

Der neue, 39 Millimeter grosse Dämpferkolben mit seinen beidseitig montierten Shim-Paketen kann den Ölstrom wesentlich exakter steuern und lässt sich feiner abstimmen. Ein weiterer Vorteil der Big Piston Fork: Der Kolben arbeitet in beide Richtungen, steuert also die Druckstufendämpfung beim Ein- und die Zugstufendämpfung beim Ausfedern. Beide Dämpfungen werden oben am Gabelstopfen eingestellt. Beim konventionellen Cartridge-System hingegen regelt der im Zylinder bewegte Kolben nur die Zugstufe (Ausfedern), während ein zweiter, fest verschraubter Dämpferkolben am Zylinderboden (Bodenventil) die Druckstufendämpfung (Einfedern) übernimmt. Dies erfordert je eine Einstellmechanik oben am Gabelstopfen (Zugstufe) und eine unten am Gabelfuß (Druckstufe). "Aha", sagt sich der kritische Beobachter, "hier wird nun in erster Linie mal gespart." Im Prinzip richtig – aber nur im Prinzip. Zerlegt man die neue Showa-Gabel der Suzuki GSX-R 1000 in ihre Einzelteile, ist von einer massiven Kosteneinsparung nichts zu erkennen. Unzählige Kleinteile, wie zum Beispiel die über einen Konus wirkende Vorspannmechanik der Feder, die jetzt im Gabelfuß sitzt, oder die teleskopartigen, in der Kolbenstange geführten Stangen der Dämpfereinstellung belegen die technisch aufwendige Konstruktion des neuen, rund 300 Gramm leichteren Systems. Was jedoch nichts daran ändert, dass es auch bei der Big Piston Fork noch Potenzial zur Verbesserung gibt. So stellte Fahrwerksspezialist Hubert Hofmann (www.hh-racetec.de) bei Prüfstandsmessungen rund 30 Prozent mehr Reibung als beim konventionellen Cartridge-System fest. Was ganz einfach auf die rund doppelt so große Fläche der Kolbenringe zurückzuführen ist.

Weil aber speziell das feine, sensible Ansprechverhalten der Telegabel ein wichtiger Punkt bei Motorrädern aller Art ist, stehen hinter der Big Piston Fork einige große Fragezeichen. Auch deshalb, weil der nächste logische Entwicklungsschritt in Sachen Federung/Dämpfung, nämlich ein geschlossenes, gas- oder federdruck-unterstütztes Dämpfersystem bereits im Anrollen ist. In der MotoGP und bei vielen käuflichen Serien-Motocross-Maschinen gang und gäbe, wird der Gasdruckstoßdämpfer für die Telegabel nicht mehr lange auf sich warten lassen. Die großen Vorteile: absolut konstante Dämpfung in allen Temperaturbereichen, kein Aufschäumen des Dämpferöls mit damit verbundenem Verlust der Dämpfkraft und noch mehr Einstellungs- und Abstimmungsmöglichkeiten. "Ähhh, noch mehr Schrauben und Schräubchen zum Einstellen, wer soll da noch durchblicken?" Im Prinzip richtig, der Einwand – aber nur im Prinzip. Denn wer sich über 180 PS, 300 km/h Topspeed und jede Menge Racing-Technologie ein Loch in den Bauch freut, wird sich mit Vergnügen auch an Low-, High- und Midspeed-Einstellschräubchen ergötzen – selbst wenn er geflissentlich seine Finger davon lässt.

Die aktuelle Ausgabe
MOTORRAD 20 / 2023

Erscheinungsdatum 15.09.2023