Der Schutz der Halswirbelsäule: bisher eine Lücke in der Fahrerausstattung. Einige Hersteller wollen das ändern und geben nun das Okay für die Markteinführung von interessanten Systemen.
Der Schutz der Halswirbelsäule: bisher eine Lücke in der Fahrerausstattung. Einige Hersteller wollen das ändern und geben nun das Okay für die Markteinführung von interessanten Systemen.
Es war kein Raser-Unfall. Marco R. aus Hamburg fuhr im Sommer 2006 mit Tempo 90 geradeaus auf einer öden Landstraße. Seine mitreisende Partnerin verhakte sich plötzlich mit ihrer Maschine in seiner, Marco flog unvermittelt über den Lenker und prallte mit dem Kopf voraus auf den Asphalt. Weder Helm noch die sorgfältig ausgewählte Kombi mit Protektoren konnten eine Verletzung der ungeschützten Halswirbelsäule verhindern: Genickbruch. Marco überlebte, und nach einer komplizierten Operation ist er um ein paar Titanteile reicher, muss jedoch keinerlei Einbußen in seiner Bewegungsfreiheit hinnehmen.
So viel Glück bei einem so großen, aber nicht seltenen Unglück hat nicht jeder. Grund für einige Hersteller, die Lücke in der Fahrerausstattung zu schließen. Allen voran BMW und KTM, die sich seit zirka zwei Jahren intensiv mit der Materie beschäftigen und hierfür statt zu konkurrieren sogar kooperieren. Bei BMW war es der Kontakt zum südafrikanischen Arzt Dr. Chris Leatt, der seit Jahren nach einem wirksamen Schutz für die Halswirbelsäule forscht. Allerdings konnte Leatt seine Ideen lediglich in handgeschnitzte Prototypen aus Gips umsetzen. Bei BMW fand er ordentliche Laborbedingungen vor, inklusive eines Dummys mit Sensoren, der biomechanische Erkenntnisse lieferte.
Mit den gewonnenen Dummy-Daten fütterte man einen Computer und verglich die Ergebnisse mit virtuellen Simulationen, die ungleich mehr unterschiedliche Unfallsituationen theoretisch durchspielten als der Dummy. Schließlich befand man im Spätsommer 2006 das als »NeckBrace« bezeichnete und patentierte Schutzsystem für marktreif. »Es ist kein Allheilmittel gegen Genickbrüche, aber wir finden es
besser, überhaupt etwas zu unternehmen, als tatenlos zuzuschauen. Hoffentlich fängt das Thema jetzt langsam an zu kochen, und andere Hersteller ziehen nach«, erklärt BMW-Produktmanager Andreas Geisinger.
Bei KTM war es maßgeblich das Engagement der Rennsport-Manager und Ex-Profis Heinz Kinigadner und Pit Beirer. Letzterer ist seit einem Motocross-Unfall im Jahr 2003 querschnittsgelähmt, Kinigadners Bruder sowie Sohn sind es seit schlimmen Unfällen ebenfalls. Nachdem 2004 und 2005 die beiden erfahrenen Rallye-Werksfahrer Richard Sainct und Fabrizio Meoni bei Rennunfällen durch Genickbruch tödlich verunglückt waren, sah man bei KTM Handlungsbedarf. »Als wir auf das bei BMW in Erprobung befindliche Leatt-System gestoßen sind, wurden wir sehr hellhörig«, erklärt Kinigadner den Pakt zwischen Bayern und Österreichern.
Insbesondere die Rallye-Werksfahrer sollen ein regelmäßiges Feedback liefern. Selbstverständlich nicht als Crashtest-Dummys aus Fleisch und Blut, doch die Wahrscheinlichkeit so makaber das auch klingen mag , dass es auf den Rallyes zu entsprechenden Unfallsituationen kommt, ist vergleichsweise hoch. Der französische Star-Pilot Cyril Despres stellte sich jedenfalls bereitwillig als einer der ersten »Neck- Brace«-Tester zur Verfügung. Nicht zuletzt deshalb, weil ihm der Tod seiner Freunde und Teamgefährten Sainct und Meoni besonders nahe ging. Als Despres dann bei einem Training schwer stürzte und ihm nach seiner Einschätzung das neue System buchstäblich den Hals rettete, stand für ihn fest: keinen Meter mehr ohne. »Man gewöhnt sich an das System so schnell wie an einen Helm oder einen Brustpanzer«, fasst Ex-Motocrosser Pit Beirer die Erfahrungsberichte der KTM-Werkspiloten zusammen.
Lediglich minimale Einbußen in der Bewegungsfreiheit verspricht auch Hersteller Dainese für sein Produkt. Die Italiener, Pioniere in Sachen Protektorentechnik, sehen in ihrer neuen Top-Jacke »G. Neck« mit integrierter Nackenabstützung allerdings kein Passiv-Schutzsystem, sondern verweisen auf die ihrer Ansicht nach erhöhte aktive Sicherheit durch eine Entspannung der Nackenmuskulatur.
Anbieter wie Polo setzen hingegen auf preisgünstigere Lösungen und haben einfache Schaumkragen im Programm, die sie ohne eigene Entwicklung von Zulieferern beziehen. »Wir haben uns in Internet-Foren schlau gemacht und dort positive Erfahrungsberichte gefunden«, erklärt man bei Polo und glaubt fest daran, mit dem »Race Collar« die passive Sicherheit des Fahrers zu erhöhen.
Unfallforscher Florian Schueler bezweifelt indes die Wirksamkeit einiger Systeme, die nun verstärkt auf den Markt drängen. »Einfach nur einen Schaumstoff-Ring um den Hals zu hängen reicht natürlich nicht aus. Eine intelligente Konstruktion, die alle potenziellen Verletzungsmechanismen berücksichtigt, muss jedoch nicht teuer sein. Ein gut konstruierter Auto-Kindersitz ist es ja auch nicht«, resümiert er.
Motorradfahrer Marco will nach seinem verheilten Genickbruch mit seiner Maschine wieder zurück auf die Straße und macht sich zum Saisonstart so seine Gedanken über die ideale Fahrerausstattung: »Ich habe lange Zeit einen Rückenprotektor für überflüssig gehalten. Bei dem Unfall war ich nachher froh, doch einen getragen zu haben. Jetzt würde ich zusätzlich noch einen Nackenschutz tragen, um das Verletzungsrisiko zu verringern. Und hoffen, dass es was bringt auch wenn ich es nie mehr am eigenen Leib erfahren möchte.
Anbieter: Polo, Telefon 0211/9796699, www.polo-motorrad.de
Preis: 19,95 Euro
Farbe: Grau/Schwarz
Größe: universal
MOTORRAD hat den preisgünstigen Kragen aus geschäumtem Material mit einer Umhüllung aus Polyester und Druckverschluss vorn in der Praxis ausprobiert. Beim Fahren auf der Rennstrecke schränkt er insbesondere beim Hanging-off mit zur Seite abgewinkeltem Kopf dessen Bewegungsfreiheit stark ein und verschlechtert die Belüftung im Helm (Visier beschlägt schnell). In touristischer, aufrechter Sitzhaltung behindert er den Schulterblick. Polo wirbt, der Race-Kragen
verringere die Verletzungsgefahr, belegt dies jedoch nicht durch Testergebnisse und hat keine gesicherten Informationen darüber, ob die geänderten Hebelkräfte an der Helmkante sich unter Umständen nachteilig auswirken könnten.
Anbieter: KTM, Telefon 09628/92110, www.ktm.com
Preis: 495 Euro (ab März 2007 erhältlich)
Farbe: Orange/Schwarz
Größen: Small, Medium
Die Idee ist, Kopfbewegungen in alle Richtungen bei einem Sturz kontrolliert abzubremsen sowie eine extreme Abwinkelung des Kopfs zu vermeiden. Dadurch sollen die Kräfte, die bei einem Unfall auf die Halswirbelsäule einwirken, minimiert werden. Gleichzeitig werde die Bewegungsfreiheit möglichst wenig eingeschränkt, versprechen die Anbieter. Um diese Ziele zu erreichen, setzen sie auf eine mehrteilige, rund 700 Gramm schwere Konstruktion aus Karbon, Kevlar und Kunststoff, die teilweise mit einem schlagdämpfenden Schaumstoff überzogen ist. Das System umschließt die Halswirbelsäule großflächig, liegt bei normalen Kopfbewegungen jedoch nicht am Helm an und lässt Luft. Zwei Schnellverschlüsse müssen beim An- und Ablegen bedient werden. BMW und KTM konnten zumindest im Labor nachweisen, dass Kraftspitzen um bis zu 40 Prozent verringert werden können.
Anbieter: Dainese, Telefon 089/35396766, www.dainese.com
Preis: 598 Euro
Farbe: Schwarz, Schwarz/Rot
Größen: 44 bis 60
Seit Oktober 2006 werden in Deutschland 150 Vorserien-Jacken mit einem integrierten, viergliedrigen Kunststoff-Nackenschützer angeboten (mit kostenlosem Navigationsgerät als Dreingabe zum Kaufanreiz), der jedoch lediglich Bewegungen nach hinten leicht abbremst und eher eine stützende Funktion besitzt. Käufer der etwas gewöhnungsbedürftigen Jacke können Verbesserungsvorschläge bei Dainese einreichen. Einige sind bereits in die Modelle, die derzeit verkauft werden, eingeflossen. Die Italiener haben außerdem ein Protektorenhemd mit der sogenannten Neck-4-Struktur (siehe Detailbild) im Programm.
Herr Schueler, wie schätzen Sie als Wissenschaftler das aktuelle Engagement einiger Hersteller ein, die Lücke »Nackenschutz« bei der Motorrad-Fahrerausstattung zu schließen?
Jeder Ansatz, den Verletzungsschutz zu steigern, ist begrüßens-
wert. Das gilt natürlich auch für die Halswirbelsäule (HWS), die eine besonders verletzliche Struktur aufweist schließlich sitzt der Kopf oben
drauf! Jedes System des Verletzungsschutzes sollte aber einer komplexen Schutz-Ziel-Analyse unterzogen werden, die unter anderem Fragen an die Unfallstatistik und die Verletzungsmechanik stellt und hoffentlich auch befriedigend beantworten kann.
Wie sieht so eine Analyse aus?
Biomechanische Forschung sollte zunächst die Wirksamkeit des Produkts sicherstellen und kontraproduktive Funktionen ausschließen. Systematische
Unfalluntersuchungen oder auch Einzelfallanalysen mit Verletzungsbefunden, die belegen, dass ein solches Schutzsystem vor HWS-Verletzungen hätte schützen können, sind mir in den vorliegenden Fällen jedoch nicht bekannt. Offensichtlich gab es selbst bei dramatischen Unfällen wie etwa bei der Dakar-Rallye keine
objektiv Aufschluss gebende Analyse der Verletzungsentstehung. Bei derartigen Stürzen ist durch das »Nachschieben« der anteiligen Körpermasse nicht primär der Kopf gefährdet, sondern die Halswirbelsäule sowie Muskeln, Bänder und Sehnen des Kopftrageapparates. Dabei kann es zu Schädelbasisbrüchen inklusive Abriss großer Blutgefäße kommen für die Betroffenen kommt dann häufig jede Hilfe zu spät. Unter Umständen könnte ein System zur relativen Fixierung des Kopfes in der Wüste Leben retten, aber ob es das in der alltäglichen Umgebung von Motorradfahrern in unseren Breiten ebenfalls tut, muss bezweifelt werden. Und auf der Rennstrecke gilt: Sturzraum ist durch nichts zu ersetzen!
Und wie sieht es mit der aktiven Sicherheit aus, dass so ein System unter Umständen die Nackenmuskulatur entlastet und dadurch stressfreiere Etappen ermöglicht?
Ich habe diese Systeme noch nicht erprobt, stelle aber eine Gegenfrage und zwar als Motorradfahrer, nicht als Wissenschaftler: Ist das überhaupt ein
Thema? Ich selbst fahre gelegentlich mehrere hundert Kilometer am Stück. Bei
zügiger Fahrt, die Nadel jedoch nicht am Anschlag, waren für mich die Belastungen im Halsbereich immer im grünen Bereich. Auch von anderen Fahrern habe ich diesbezüglich bisher keine Klagen gehört. Von größerer Bedeutung ist hier meines Erachtens die Aerodynamik des Helms, wie wir jüngst im Auftrag der Bundes-
anstalt für Straßenwesen untersuchen konnten. Außerdem sollte jederzeit ein Schulterblick möglich sein behindert ein System diesen, würde das die aktive
Sicherheit sogar beeinträchtigen.
Bringen die neuen Nackenschutzsysteme also den Herstellern Geld, den Trägern aber keinen Nutzen?
Nein, so möchte ich nicht verstanden werden. Eine gewissenhafte Systementwicklung, eine wissenschaftliche Produktzertifizierung sowie fundierte Infor-
mationen hierzu gäben eine solide Entscheidungsgrundlage. Jeder Motorradfahrer sollte abwägen, ob das angestrebte Schutzpotenzial in einem gesunden Verhältnis zu möglichen Einbußen an aktiver Sicherheit steht. Zu hoffen bleibt außerdem, dass ein solches Schutzsystem die bereits nicht unerheblichen Kosten für die persönliche Schutzausrüstung nicht zu sehr in die Höhe treibt auch wenn Sicherheit ihren Preis hat!