Harley-Davidson wird nachgesagt, alte Technik zu modernen Preisen zu verkaufen. Ob das stimmt, ist leicht geprüft: auf einer Alt-trifft-Neu-Ausfahrt.
Harley-Davidson wird nachgesagt, alte Technik zu modernen Preisen zu verkaufen. Ob das stimmt, ist leicht geprüft: auf einer Alt-trifft-Neu-Ausfahrt.
Krrr-Plock! Krrr-Plock! So ungefähr klingt es, wenn der Magnetschalter einer 1969er-Harley-Davidson Electra Glide den namensgebenden Anlasser nicht so lange arbeiten lässt, bis der Motor läuft. Glücklicherweise hat ein vorausschauender Mensch zusätzlich einen Kickstarter montieren lassen, sodass das rechte Bein anstelle des rechten Daumens sein Glück versuchen darf. „Kein Choke, den Gasgriff ein Drittel aufziehen, dann kommt sie meistens auf den ersten Tritt.“
Matthias, der du uns die E-Glide freundlicherweise ausgeborgt hast, du hast gut reden: Meistens. Wahrscheinlich dann, wenn ein geübter Fuß am Werk ist. Was heißt das für mich? Ausprobieren: Dieses Riesenschiff, an dem alles mit weichen Federn verbunden scheint, ausbalancieren, den Totpunkt erfühlen und den Kicker Richtung Erdmitte treten.
Drei, zwo, eins - du meine Güte, das klappt ja! Sofort schießt aus den Fishtail-Rohren ein kräftiger, wilder, aber nicht über die Maßen aufdringlicher V2-Klang. Wie ein Flaschengeist, ein Dschinn, muss der sich die vergangenen Tage im Motor gelangweilt haben. Wer den Aladin gibt und ihn befreit, dem erfüllt er bereitwillig Wünsche. Der erste lautet: Lass uns fahren.
Die Harley stimmt zu. Städte haben in ihren Augen genau zwei schöne Arten von Verkehrswegen: Showmeilen und Ausfallstraßen. Für die Showmeile ist es noch deutlich zu früh, mit Publikum ist noch nicht zu rechnen. Also nichts wie raus hier – raus aus der Tiefgarage, raus aus der Stadt, raus aufs Land.
Die linke Hand greift zum Kupplungshebel, der dem Ruf des Heavy-Metal-Motorrads vorzüglich in die Karten spielt. Er verlangt nämlich so viel Kraft, dass sich sogar das Ende des Rohrlenkers verbiegt: Die beiden Bauteile, Hebel und Lenker, arbeiten gewissermaßen aufeinander zu. Das über eine Schaltwippe zu betätigende Getriebe benötigt nicht ganz so viel Überredungskunst, um den ersten Gang bereitzustellen. Der Gasgriff wiederum setzt dem Wunsch nach Vortrieb etwas mehr Widerstand entgegen, was auch an seiner sehr glatten Oberfläche liegen kann: Also kräftig zupacken, nachdrücklich drehen, dann nimmt der Motor Drehzahl auf. Die Kupplung so dosiert wie möglich einrücken lassen, und die Fuhre setzt sich in Fahrt.
Eine moderne Vertreterin der Tourergilde aus dem Hause Harley-Davidson gibt Geleitschutz. Die Electra Glide Ultra Limited ist im Modelljahrgang 2010 die Königin der amerikanischen V2-Tourer, hat von der Stereoanlage über ein Antiblockiersystem, Tempomat, Trittbretter für Fahrer und Sozius, Seitenkoffer, Topcase mit Rückenlehne und Heizgriffe alles an Bord, was man braucht. Und noch viel mehr. Mit einem Kickstarter kann sie allerdings nicht dienen – was keine Schande ist, denn ihr elektrischer Anlasser funktioniert tadellos. Dass der Motor läuft, bestätigt lediglich der Drehzahlmesser; in Gesellschaft der 1969er-E-Glide ist er fast nicht zu hören.
Auf den allerersten Metern wird deutlich, dass Motorradreisen 1969 noch deutlich erlebnisorientierter waren als heute. Und die Menschen müssen in den Handgelenken wesentlich flexibler gewesen sein, legt man die wilde Kröpfung der beiden Lenkerenden zugrunde.
Die serienmäßige Anderthalb-Personen-Sitzbank ist gegen einen sehr komfortabel gefederten Einzelsattel getauscht. Er hält zwar die Schläge, die von Bordsteinkanten, Schlaglöchern und anderen Unebenheiten ausgehen, wirksam von den Bandscheiben fern. Sein Nachschwingen erinnert aber noch einige Sekunden lang daran, welcher wertvollen Aufgabe er vor fünfzig Metern nachgekommen ist.
Die Ballonreifen sind kaum in der Lage, irgendwelche Informationen über den Zustand der Straßendecke in Richtung Fahrer zu schicken. Wenn sie es könnten, würden die wichtigen Mitteilungen wahrscheinlich ohnehin länger in den Federelementen hängen bleiben als Omas Geburtstagskarte im Zustellsystem der Deutschen Post.
In einiger Entfernung verjüngen sich drei Fahrspuren auf zwei, gleichzeitig mündet ein Beschleunigungsstreifen von rechts. Es wäre vielleicht eine gute Idee, den Abstand zum Vordermann etwas zu vergrößern und die E-Glide zu bremsen. Die Trommel im Vorderrad nimmt wahr, was man von ihr verlangt, und quittiert den Wunsch mit einem telepathischen „Das hättest du mir auch mal ein paar Meter früher sagen können“. Zwar legt sie sich nach Kräften ins Zeug, doch sind ihre Kräfte nicht besonders ausgeprägt. Der rechte Fuß tastet sicherheitshalber nach dem Pedal für den Heckstopper. Gleichzeitig biegen sich unter dem Zug der linken Hand wieder Kupplungshebel und Lenker aufeinander zu, und der linke Fuß bittet das Getriebe um eine niedrigere Gangstufe, um die Motorbremse ins Spiel zu bringen.
Summa summarum sind alle vier Extremitäten beschäftigt, und die innigste Verbindung von Fahrer und Fahrzeug besteht zwischen Gesäß und dem besagten Einzelsitz, der offenbar von einer Karriere als Trampolin träumt. Man will ihm da ja keinesfalls im Weg stehen, aber im Moment wäre ein stabiles Seitpferd als Sitzgelegenheit sympathischer.
Irgendwie entschleunigt die E-Glide rechtzeitig. Wahrscheinlich fühlte sich alles spektakulärer an, als es war – der Versuch, sechs Zentner nebst Fahrer von 60 auf 25 km/h einzubremsen. Spontaneität scheint 1969 keine amerikanische Kernkompetenz gewesen zu sein. Neil Armstrongs großer Schritt für die Menschheit und der Abzug der US-Truppen aus Vietnam sind weitere Beispiele.
Man kann, darf und soll ja aus der Geschichte lernen: Ich, als Fahrer dieser E-Glide, gelobe feierlich im Geiste von William S. Harley und Arthur Davidson, fortan die Augen noch vorausschauender schweifen zu lassen und das Schiff nach Kräften um die Untiefen des Asphaltozeans herum zu navigieren. Dabei werde ich mich nicht etwa gerieren wie ein stolzer Admiral auf den Weltmeeren, der eine stählerne Armada unter seinem Kommando hat. Sondern ich werde mich in Demut üben wie ein Bittsteller, der einem mächtigen Metallwesen das eine oder andere Fünkchen Verständnis und Kooperationsgeist abtrotzen will. Gehorsam zu erwarten, wäre vermessen. So wahr mir Captain America helfe, Amen.
Siehe da, schon sind wir Freunde. Vielleicht liegt es auch daran, dass die Stadt hinter uns liegt, die schwäbische Landschaft sich vor uns so weit öffnet, wie sie nur kann, die Pisten gut asphaltiert und die Kurven leicht einsehbar sind. Hier und jetzt steht stressfreies Cruisen auf der Tagesordnung. Was in der Stadt noch ein störrischer Kupplungshebel war, ist ein handfester Kumpel geworden, den man weitgehend in Ruhe lassen kann. Der vierte Gang, der letzte, erledigt die meisten Anwendungen über 40 km/h. Der großzügig bemessene Windschild nimmt möglicherweise ein wenig Druck vom Oberkörper. Man weiß nicht, wie sich das Fahren ohne die große Scheibe anfühlen würde. Und man will es nicht wissen; es ist gut so, wie es ist.
Immer noch dringen genügend Impressionen zum Fahrer vor, um das Gefühl von der großen Welt zu verbreiten. Die Mother Road, die Route 66 mit St. Louis, Tulsa und Albuquerque scheint auf einmal viel näher als Stuttgart, Tübingen und Albaufstieg auf der B 27. Ob das Radio – jawohl, Radio! – Willy Nelson kennt? Nein, aber immerhin Gunter Gabriel. Die Besenwirtschaften, die entlang des Wegs Krautschupfnudeln und Trollinger anpreisen, verschwimmen gedanklich zu Barbeque-Roadhouses mit kühlem Bier im Ausschank. Wie bitte, das ist Klischeereiterei? Vielleicht. Hand aufs Herz – und Sie müssen nicht laut antworten: Gibt es einen besseren Grund, Harley zu fahren, als dieses Gefühl?
Das Unterbewusstsein brummelt mäßig textsicher die letzte Strophe von „On the road again“, als ein schwarz-rotes Koffergebirge überholt. Richtig, der Kollege auf der Electra Glide Ultra Limited; den hatte ich ja vollkommen verdrängt! Wir wollten irgendwann Fahrzeuge tauschen. Schade, er erinnert sich noch an unsere Vereinbarung.
Auf dem Parkplatz erklärt er wortreich, dass er genug davon habe, meinem Donnersound hinterherzuschleichen; ich kratzte ja höchstens einmal an der 80-km/h-Marke. Tatsächlich? So langsam bin ich mir gar nicht vorgekommen; wie man sich doch täuschen kann. Geschwindigkeit ist auf der 1969er-Electra Glide eh keine bestimmende Größe, im Gegenteil: Das Erlebnis beginnt bei Schritttempo, und wer langsamer fährt, hat mehr von jedem Kilometer.
Versprochen ist versprochen, wir tauschen. Beginn der Bestandsaufnahme am neuen Gerät: 45-Grad-ohv-V2: vorhanden. Ausladender Kotflügel vorn: vorhanden. Zwei Nebelscheinwerfer: vorhanden. Koffer: vorhanden. Trittbretter: vorhanden. E-Starter: vorhanden. Muss wohl auch eine E-Glide sein. Aufsitzen.
Hallo, das soll wirklich eine Harley sein? Der Komfort ist immens, und alles funktioniert von leichter Hand. Jedes Kommando an Kupplung, Getriebe, Gasgriff, und Bremse zeitigt unmittelbare Wirkung. Im direkten Kontrast wirkt die Ultra Limited – Boxer- und Harley-Fans bitte mal kurz weghören – näher an einer BMW R 1200 RT als an ihrer 41 Jahre älteren Vorgängerin. Sogar die Trittbretter sind komfortabler positioniert, was beim Fahren natürlich angenehm ist, beim Anfahren mitunter lästig: Einen Fuß, der nicht rechtzeitig die Fuhre ihrer Eigenstabilität anvertraut, schieben sie einfach weg.
Zum Glück ist der V2 noch eindeutig ein solcher, daran ändern auch die Gummilager und die elektronische Einspritzung nichts. Sein „Potato-Potato“-Klangbild lässt keinen Zweifel; nur die Kartoffeln sind über die Jahre kleiner geworden.
Jenseits von 3000/min öffnet sich jedoch die Auspuffklappe, und die Lebensäußerungen entweichen weniger gedämpft. Dann klingen die 1690 cm³ mindestens so souverän, wie sie den Acht-Zentner-Brocken (plus Fahrer) beschleunigen: 6,3 Sekunden für den Standardspurt von null auf 100 km/h, sieben weitere auf 140 km/h. Eine RT lacht sich angesichts solcher Werte wahrscheinlich scheckig, sie braucht von null auf 140 nur 6,1 Sekunden. Schon recht, die Unterschiede sind deutlich messbar. Jedenfalls deutlicher messbar als fühlbar.
Ein Blick in die Bedienungsanleitung wäre hilfreich gewesen, um nicht per Trial-and-Error hinter die Geheimnisse der vielen Knöpfe, Taster und Hebelchen im Cockpit und am Lenker zu gelangen. Glücklicherweise benötigt der moderne Tourer nicht ganz so viel Aufmerksamkeit wie der Klassiker, sodass nach einigen Versuchen ein geeigneter Radiosender gefunden ist. Die Grenzgeschwindigkeit, bei welcher der Wind lauter wird als das Radio, liegt bei 80 km/h, der Tempomat ist leicht darauf eingestellt. Wer schneller fahren und Musik hören will, muss sich das Tonsignal unter den Helm liefern lassen. Die Harley ist darauf vorbereitet, mein Helm nicht.
Neben den vielen Unterschieden, die zwischen den beiden Electra Glides bestehen, findet sich eine weitere Gemeinsamkeit: die parallelogrammförmigen Seitenkoffer. Bestimmt sollen sie eine Art von dynamischer Linienführung bewirken, und so leidlich gelingt ihnen das auch. Aber erstens ist, wie bereits anklang, die Fahrdynamik kein bestimmender Charakterzug einer Harley. Zweitens wären Koffer, in die etwas hineinpasst, deutlich wertvoller. Das reine Fassungsvolumen kann sich sehen lassen, und für eine Wochenendration Wechselkleidung reichen sie allemal aus. Aber sobald größeres, hartes Transportgut unterzubringen ist, zucken beide Harleys mit den Schultern.
Die auf den ersten Blick fehlkonstruierte Verschlusstechnik der Seitenkoffer – die losen Deckel erst an der Fahrzeugseite von unten einhängen, nach außen zuklappen und das Scharnier schließen – gewinnt an der Ultra Limited Sinn: Nur so sind die Koffer auch im Schatten des riesigen und wiederum nicht besonders gut geschnittenen Topcase zu öffnen. Andere Fabrikate lösen dies durch seitlich zu öffnende Koffer. Aber lieber hundertmal Deckel einfädeln – mit etwas Übung geht das zügig – als einmal vor Publikum unkontrolliert Gepäck zu entladen.
Gretchenfrage: Welche E-Glide darf es jetzt sein? Trotz ihres Gewichts und ihrer Ausmaße praktischer ist die moderne; doch fehlt ihr das urwüchsige Charisma der klassischen Schwester. Eine Harley ohne Charisma aber ist wie ein Grill ohne Steak.
Motor | Bauart | Luftgekühlter Zweizylinder-Viertakt-V-Motor, Zylinderwinkel 45 Grad, zwei untenliegende Nockenwellen, zwei Ventile pro Zylinder über Stoßstangen und Kipphebel betätigt |
Bohrung | 87,3 mm | Hub | 100,8 mm |
Hubraum | 1207 cm3 | Verdichtung | 08:01 |
Leistung | ca. 44 kW/60 PS | Gemischaufbereitung | Zentraler Tillotson-Membranvergaser |
Elektrische Anlage | |
Starter | E-Starter, Kickstarter nachgerüstet | Zündung | Batteriezündung |
Kraftübertragung | |
Kupplung | Mechanische betätigte Mehrscheiben-Trockenkupplung | Getriebe | Fußgeschaltetes Vierganggetriebe |
Primärtrieb | Kette | Sekundärantrieb | Kette |
Fahrwerk | |
Rahmenbauart | Rohrrahmen mit zwei Unterzügen aus Stahlrohr | Radführung vorn | Telegabel |
Radführung hinten | Zweiarmschwinge mit zwei Federbeinen | Räder | Drahtspeichenräder, vorn und hinten 5.00 x 16 |
Bremse vorn | Trommelbremse Ø 200 mm | Bremse hinten | Trommelbremse Ø 200 mm |
Maße und Gewichte | |
Gewicht | 313 kg | Tankinhalt | 19 Liter |
Fahrleistungen | |
Höchstgeschwindigkeit | k. A. |
Preis | 10 190 Mark zzgl. Nebenkosten und Mehrwertsteuer (1969) |
Hersteller | Harley-Davidson Motor Company, Milwaukee/Wisconsin, USA |
Motor | Bauart | Luftgekühlter Zweizylinder-Viertakt-V-Motor, Zylinderwinkel 45 Grad, zwei untenliegende Nockenwellen, zwei Ventile pro Zylinder über Stoßstangen und Kipphebel betätigt |
Bohrung | 98,4 mm | Hub | 111,1 mm |
Hubraum | 1690 cm3 | Verdichtung | 9,6 : 1 |
Leistung | 62 kW/84 PS bei 5500/min | Gemischaufbereitung | Elektronische Einspritzanlage |
Elektrische Anlage | |
Starter | E-Starter | Zündung | Elektronische Zündanlage |
Kraftübertragung | |
Kupplung | Hydraulisch betätigte Mehrscheiben-Ölbadkupplung | Getriebe | Fußgeschaltetes Sechsganggetriebe |
Primärtrieb | Kette | Sekundärantrieb | Zahnriemen |
Fahrwerk | |
Rahmenbauart | Doppelschleifenrahmen aus Stahlrohr | Radführung vorn | Telegabel, Ø 41 mm |
Radführung hinten | Zweiarmschwinge, luftunterstütztes Zentralfederbein | Räder | 28-Speichen-LeichtmetallGussräder, vorn 3.00 x 17, hinten 5.00 x 16 |
Bremse vorn | Doppelscheibe mit Vierkolben-Festsätteln, Ø 300 mm, ABS | Bremse hinten | Einzelscheibe mit Vierkolben-Festsattel Ø 300 mm, ABS |
Maße und Gewichte | |
Gewicht | 407 kg | Tankinhalt | 23 Liter |
Fahrleistungen | |
Höchstgeschwindigkeit | 170 km/h |
Preis | 27 995 Euro zzgl. Nebenkosten (2010) |
Hersteller | Harley-Davidson Motor Company, Milwaukee/Wisconsin, USA |