Cruiser mit Apehanger-Lenker im Vergleichstest
Harley Sportster Seventy-Two gegen Victory Vegas High Ball

Es ist wie immer. Sie sind nicht einer Meinung. „Wie kann man mit diesen Wünschelruten nur halbwegs lenken?“, knurrt Kaschel. Brummt Henniges: „Erstens kann man damit ganz normal lenken, und zweitens ist es cool.“ Kaschel macht die Probe.

Harley Sportster Seventy-Two gegen Victory Vegas High Ball
Foto: jkuenstle.de

Henniges Genau das hab ich mir gedacht! Der Kaschel hat wirklich keine Ahnung. Hockt die ganze Zeit zusammengefaltet auf seinen Wuthockern, fliegt mehr, als dass er fährt, und kann sich überhaupt nicht vorstellen, dass sich ein Motorrad mit Apehanger eigentlich ganz normal lenken lässt. Neulich hat er sich schlapp gelacht. Fünf Minuten am Stück. Sah aus wie ein Streichholz. Kalkweiß mit rotem Kopf. Und das nur, weil ich nach der Präsentation einiger Bikes der italienischen Manufaktur Headbanger gesagt habe, dass sich von sechs Motorrädern ausgerechnet die beiden mit Apehanger am einfachsten lenken ließen. Eins muss man dem sturen Ostwestfalen aber lassen: Er will es ausprobieren. In ein paar Minuten wird er hier mit einer Victory Vegas High Ball am Treffpunkt eintrudeln. Der 1200er-Motor meiner Harley Sportster Seventy-Two tickert bereits genüsslich vor sich hin. Ich hol mir am besten noch nen Kaffee, denn der Kaschel ist meist spät dran. Und das, obwohl er angeblich immer Vollgas fährt.

Kaschel Apehanger! Ich weiß genau, warum das so heißt. Da reichen mir ein paar Meter. Genau genommen brauche ich nicht mal die. Ich muss nur sehen, wie der Henniges da vorn am Rastplatz auf seiner Harley hockt, die Hände zum Himmel. Gibt es in Deutschland keine Promillegrenze mehr? So, genau so macht man sich zum Affen. Aber das habe ich ja jetzt auch hinbekommen. Ich trage eine Fransenjacke. Habe sie mir von Henniges aufquatschen lassen. Von wegen „gefühlsecht“ und so. Ich weiß jetzt schon, wie der grinsen wird. Oh Mann! Das Schlimmste aber ist: Gerade habe ich mich dabei ertappt, es sogar ein wenig gut zu finden. Lümmelte da wie auf einer römischen Orgienliege, während der wummernde 1700er mir den Schritt massiert - da kann man schon mal kontemplativ werden. Habe auf der dreispurigen Schnellstraße vor mich hin meditiert und darüber nachgedacht, was der Typ wohl geraucht hat, der diesen Lenker erfunden hat. Und, was ist passiert? Irgendwann hat der 30-Tonner hinter mir sein Alphorn ausgepackt. Der Fahrer hat rausgebrüllt, was zum Teufel ich da mache, während er mich rechts überholt. Im Ernst: Ich bin so erschrocken, dass es mir trotz Apehanger den Schweiß in die Achselhaare trieb. Dann hab ich natürlich zurückgebrüllt. Ob er denn so rasen müsse und er schon mal versucht habe, mit einem viereckigen Lenkrad zu lenken. Der hat nur den Kopf geschüttelt. So, da steht der Henniges. Ohne Fransenjacke natürlich. Und grinst über beide Backen.

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Henniges Er hat sie an! Er hat sie wirklich an! Diesmal lach ICH mich tot. Sieht aus wie Batman für Arme! Hab nie gedacht, dass er die Sache ernst nimmt. Oder vielleicht doch? Beim Aussuchen der Bikes war ich mir gar nicht so sicher, denn eigentlich haben weder die Victory noch die Harley so richtige Apehanger - die Arme sind nur waagerecht gestreckt, nicht in die Höhe gereckt. Mit echten Apehangern kann selbst ich mich nicht anfreunden - wenn ich Klimmzüge machen will, gehe ich in den Fitnessraum. Aber das hier geht durchaus. Da, wie wild fuchtelt er jetzt mit den Armen, deutet mir, gleich hinterherzufahren. Will sich hier an der Tankstelle wahrscheinlich mit der Fransenjacke nicht sehen lassen und zum Affen machen. Na schön, dann aufsitzen und los. Nur noch zehn Kilometer, dann treffen wir uns mit dem Fotografen. An einem Platz, wo kaum Menschen sind, die sich über die Fransenjacke kaputtlachen würden …

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„Und, geht doch, oder?“ „Ja, irgendwie schon. Ist aber wie ein viereckiges Lenkrad beim Auto“ .

Kaschel So, jetzt abbiegen, nur nichts falsch machen. Aber, um bei der Wahrheit zu bleiben: Man kommt selbst mit diesem 314-Kilogramm-Trumm und diesem Lenker um die Ecke, nur eben anders. Die Vegas High Ball (was für ein Name!) wirft man nicht in die Kurve, man redet ihr gut zu. So wie der fransenbejackte Sam Hawkins damals seinem Maultier Mary. Man muss nur den richtigen Zugang finden. Zum 130er-Vorderreifen, zu knapp 1,70 Meter Radstand, zu einer Schräglagenfreiheit, die schon im überhöhten Kreisverkehr an ihre Grenzen kommt, zu einem Getriebe, das bei jedem Gangwechsel knallt wie eine 45er. Aber ich krieg den Bogen schon noch raus! Sauber auch beim Hochschalten kuppeln, mehr hinten als vorne bremsen, Schräglagen auf Teufel komm raus vermeiden. Und immer glücklich grinsen, so wie Henniges. So, da steht schon der Fotograf. Warum lacht der sich jetzt schlapp? Ach ja, die Fransenjacke! Aber egal. Besser Fransenjacke und mattschwarze Lackierung als drei Tonnen Chrom plus eine Lackierung in „Hard Candy Big Red Flake“. Ganz ohne Quatsch, so heißt die alberne Lackierung der Harley. Das muss man sich mal geben. Hat sich wahrscheinlich derselbe Typ ausgedacht, der auch die Apehanger erfand.

Henniges Meine Güte, wie dieser Ostwestfale flucht! Was kann ich dafür, wenn er sich von einem Lkw überholen lässt? Hab das Ding gesehen, war sogar ein echter Schwertransport. Und dafür macht er jetzt sein Bike verantwortlich. Blödsinn! Seine High Ball hat 90 PS, drückt schon bei 3250/min fette 140 Nm und läuft locker 180 km/h. Das Gas ist rechts, Junge! Und dann die Nummer mit der Fransenjacke. Hat er mir tatsächlich abgekauft und ist in diesem Outfit durch ganz Stuttgart gegondelt, hähähä. Und da ist ja jetzt Christopher Street Day. Aber wir haben eine Lederjacke als Ersatz dabei. Zur Erlösung quasi. Und wie er sich über die Schaltung aufregt … So, als wäre er sein ganzes Leben nur Automatikgetriebe gefahren. Natürlich muss man beim Schalten kuppeln, Mann. Das ist ein Stück Erlebnis und gehört dazu. Motorräder dieses Kalibers lassen dich nämlich stets an allen Aktionen teilhaben. Sie berichten dir von erfolgreichen Gangwechseln, lassen dich spüren, wenn ihre riesigen Kolben durch die Behausungen sausen, und die niedrigen Umdrehungen in Verbindung mit der großen Schwungmasse wirken relaxend auf den Fahrer. Dass es beim Kaschel derart gut funktioniert und er sich von einem 30-Tonner abledern lässt, hätte ich nicht gedacht. Aber da, jetzt hat er schon was Neues zum Meckern, flucht über den Jethelm. Zeit, dass wir weiterfahren.

Kaschel Dieses Dauergrinsen geht mir echt mächtig auf den Zünder. Habe ich immer noch Fliegen zwischen den Zähnen? Wahrscheinlich hat der Typ mit dem Apehanger auch den Jethelm erfunden. Gibt es in Amerika keine Mücken, Fliegen, Käfer? Vermutlich doch, aber irgendwie verlaufen die sich in diesen Weiten. Aber hier ist Europa, verdammt! Käfer dicht an dicht, Fliegen, Wespen, das ganze Gesummsel. Und immer dann, wenn ich gerade angekommen bin im Cruising-Modus, suggestiv vor mich hin tucker, dann - platsch - hängt mir wieder so ein Vieh in der Maske. Sogar im Auge. Und ich frage ich mich ernsthaft: Ist es das wert, dieses sporadische Gefühl von Freiheit, dieses Unmittelbare, dieses Zwanglose? Ich verstehe schon, was der Henniges meint. Aber wenn der Preis dafür ein Käferfriedhof im Gesicht ist, dann ist der ganz schön hoch. Genauso wie der für diese Victory. 14 290 Euro. Da geht die Harley mit 11 670 Euro ja glatt als Schnäppchen durch

Henniges Ich melde ihn an! Echt jetzt. Bei dieser Sendung, die „Welt der Wunder“ heißt. Stefan Kaschel, Vater von vier Kindern, bekennender Schnellfahrer und Testredakteur, ist der einzige Mensch auf diesem Planeten, den Fliegen mitten ins Auge treffen, obwohl er eine Sonnenbrille trägt. Damit wir uns richtig verstehen: Die Sonnenbrille ist heil. Aus irgendeinem Grund - Magnetfeld, Echolot, Magie - gelingt es den Viechern, durchs Glas ins kaschelige Auge zu gelangen. Die, denen es nicht gelingt, zerschellen auf seiner Gesichtshaut. Na ja, vielleicht gewinnt er mit diesem Trick Preise, wer weiß das schon … Gottlob sind wir jetzt endlich unterwegs. Vorher hat er wieder rumgenölt, wegen der Preise dieser Bikes. Für das Geld bekäme man eigentlich locker 180 PS, meinte er. Sicher, sicher. Recht hat er. Aber kauf dir doch heute mal ’ne 1000er-GXY-RR für 14 790 Euro und verkauf sie in zwei Jahren. Kriegt man noch die Hälfte für. Und mach dasselbe mal mit ner Harley oder Victory - der Wertverlust ist ungleich geringer. Aber das interessiert ihn nicht. Ich weiß schon, was als Nächstes kommt, denn da vor dem Lenker reihen sich Wechselkurven aneinander. Weite Radien und auch ein paar ganz enge. Ein Paradies für die Kurvenflitzer. Auf diesen Böcken nur spaßig für erfahrene Piloten. Denn man muss die weiten Regenlinien fahren, und das im Trockenen. Ich befürchte, der Kaschel wird hier auf 14 Kilometern seine Fußrasten wegraspeln. Und wieder fluchen wie ein Rohrspatz…

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Die Victory mit ihren 90 PS fährt vorne weg.

Kaschel Aha, Wertverlust! Das trifft sich gut, darüber einmal nachzudenken. Warum haben diese Dinger keinen Wertverlust? Na? Ist doch ganz klar: So eine Sportster Seventy-Two oder eine Vegas High Ball kannst du in zehn Jahren locker wieder verkaufen, weil die Geräte dann todsicher immer noch auf dem technischen Stand von 2012 sind. So sicher, wie die aktuellen auf dem von achtzehnhundert Windsturm. Marketingtechnisch ein Konzept für die Ewigkeit. Und dann traut man sich auch noch, „Freedom V-Twin“ auf die Motordeckel zu schreiben. Was heißt das überhaupt? Freiheit für den V2? Oder auf der anderen Seite: „6 speed overdrive“. Aha, doch sagenhafte sechs Gänge. Na ja, gemessen daran, dass die Harley mit „5 gear“ hausieren gehen muss, ist das ja schon was. Und dann diese albernen Hubraumangaben allenthalben. Man möchte sich gar nicht vorstellen, was wäre, wenn mal richtig was abginge. „Significant power output“ würde dann in großen Lettern auf dem Tank prangen, oder „well working gear box“ oder „one channel ABS“. Oh Mann, und jetzt geht es auch noch in die Berge. Mit echten Kurven - und die Straße wird schlechter. Am schlimmsten ist, dass dir dieser Möchtegern-Apehanger das Kreuz so durchdrückt, dass trotz der halbwegs akzeptablen Federung der Victory jede Querfuge die Bandscheiben zusammentrümmert. Ich weiß schon, wie ich mich heute Abend fühle. Jetzt gibt der Henniges auch noch Gas …

Henniges Sooo! Frühzeitig bremsen, den Speed mit in die Kurve nehmen, vorsichtig abtauchen und am Scheitelpunkt wieder ran ans Gas. Siehst du, Kaschel, alles genau so wie bei den Sportbikes. Nur dass man hier wegen der Schalldämpfer in Rechtskurven besonders weite Linien fahren muss. Und mal ehrlich: Lenken mit gemäßigten Apehangern ist gar nicht so ungenau wie gemeinhin vermutet wird. Das müsste sich selbst dieser Sturkopf eingestehen. Vor allem die Harley mit ihrem schmalen 21er-Vorderrad läuft wie von selbst ums Eck. Trotzdem bin ich froh, dass er Victory fährt. Denn Kaschel, bekennender Leistungsfetischist, würde bei 67 PS und sechs Zentnern Gewicht beim Überholen höchstwahrscheinlich derart ins Schwitzen kommen, dass der nachfolgende Verkehr Aquaplaning-Probleme bekommt.

Kaschel So, jetzt gehts ab. Rechts schraddelts, links schraddelts und in der Mitte vermutlich auch. Ein Glück, dass der dicke 1700erHigh-Ball-V2 viel besser geht als dieses Harley-Schüttelmonster. Da kann ich auf den Geraden einiges gutmachen. Oder an der Ampel, wie vorhin. Da freut sich Henniges wie ein Kind über die „good vibrations“, über den pulsierenden Luftfilterdeckel und eine Hupe, die dir ständig die linke Wade massiert. Und dann? Steht er förmlich, während die High Ball ordentlich losschmettert. Jetzt mal ganz im Ernst: Wenn ich schon mit so einem Ding rumcruise, dann muss beim Gasgeben auch was passieren. Aber bitte das Richtige. Bei der Seventy-Two hab ich eher Angst vor dem, was da wahrscheinlich passiert: nämlich, dass der Sportster-V2 seine Innereien von sich wirft. Platz habe ich auf diesem Sitzbrötchen auch nicht, rutsche fast hinten runter. Ist eher was für kleine Menschen. Oder ganz kleine, wie der da vor mir. Da passt dann auch der Winz-Tank mit lächerlichen 7,9 Litern zum Fahrer.

Henniges Ich ahne es schon. Kollege Kaschel lässt sich wie immer nur von Mess- und Beschleunigungswerten überzeugen. 7,9 Liter Tankvolumen? Muss man halt früher tanken. Schlechte Bremsen? Früher reinlangen! Lieber Stefan, Cruiser fahren diejenigen, die niemandem mehr etwas beweisen müssen. Der Apehanger ist nicht nur Ausdruck eines Lebensgefühls und Stilmittel im Custombike-Bau, mit ihm kann man sogar einigermaßen zielgenau lenken. Übrigens, Kaschel: Hast du eigentlich schon mal in die Runde deiner Supersportler-Kumpels gefragt, wem die Handgelenke nach einem Tag Quetsching auf dem Wuthocker nicht wehtun?

Technische Daten

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Der Weg ist das Ziel? Quatsch! Das Ziel bestimmt den Weg.

Harley Sportster Seventy-Two:
Zweizylinder-Viertakt-45-Grad-V-Motor, 1202 cm³, 67 PS, 96 Nm, 253 kg, 11 670 Euro (inkl. NK)

Victory Vegas High ball:
Zweizylinder-Viertakt-50-Grad-V-Motor, 1731 cm³, 90 PS, 140 Nm, 314 kg, 14 290 Euro (inkl. NK)

Ähnliche Fahrzeugkonzepte, aber zwei völlig unterschiedliche Motoren: hier der 1,2-Liter-Sportster-V2 mit simpler Stoßstangen-/Zweiventil-Technik, der einen sauberen Drehmomentverlauf bei moderater Spitzenleistung produziert. Dort der ohc-Vierventiler der Victory mit über 1,7 Liter Hubvolumen, der ein wahrhaft gewaltiges Drehmoment ans Hinterrad stemmt.

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Erscheinungsdatum 15.09.2023