Für die Cross Roads, eine Kreuzung aus Cruiser und Tourer, schlägt im Top-Test die Stunde der Wahrheit: Ist das neue, auf Komfort getrimmte Victory-Modell ein Siegertyp?
Für die Cross Roads, eine Kreuzung aus Cruiser und Tourer, schlägt im Top-Test die Stunde der Wahrheit: Ist das neue, auf Komfort getrimmte Victory-Modell ein Siegertyp?
In Badelatschen auf die Zugspitze? Mit Trekkingstiefeln über den Ostsee-Sandstrand schlurfen? Völliger Unsinn! Was also hat ein über 350 Kilogramm schwerer, ausladender Touren-Cruiser, den man sich eher auf vierspurigen US-Highways vorstellt, auf verwinkelten, meist überfüllten deutschen Straßen zu suchen? Nun, dasselbe wie die Honda Gold Wing, Harley E-Glide und andere schwergewichtige Zweiradschiffe auch. Deren Verkaufszahlen und ihr Kultstatus beweisen, dass diese Bikes hierzulande ihre Berechtigung haben. Ähnliches Ansehen will auch Victory erreichen.
Zunächst einmal erregt sie Aufsehen, erzeugt entweder begeisterten Zuspruch oder offene Ablehnung. Sie polarisiert. Als wolle die Cross Roads damit dem Mutterkonzern Polaris huldigen, unter deren Dach die seit 1997 bestehende Firma Victory beheimatet ist. Doch fürs Aussehen oder die Showmeilen-Tauglichkeit vergibt der Top-Test keine Punkte. Dort lauten die Fragen vielmehr: Kann sie auch Alltag, etwa gar Kurven? Geht sie voran, bremst sie ordentlich, taugt die Ausstattung, bietet sie genügend Komfort? Beginnen wir mit dem Motor, dem vergleichsweise modernen 1700er-V2. Der Einspritz-Vierventiler dient als Standard-Motorisierung in allen Victory-Modellen, so auch in der Dauertest-Hammer S, die zeitweise zum Vergleich mitfuhr. Der Hammer-V2 steht jedoch, wie die Messwerte belegen, etwas besser im Futter, hat zudem weniger Pfunde zu schleppen und keine wuchtige Scheibe durch den Wind zu stemmen, weswegen der Power-Cruiser im Durchzug klar die Nase vorn hat. Der sechste und letzte Gang wird zwar bei der Cross Roads, anders als beim Power-Cruiser, im Cockpit als sechste Fahrstufe und nicht mit dem Kürzel OD für Overdrive ausgewiesen, doch ist er ebenfalls ellenlang übersetzt und sollte nur zum konstanten Dahingleiten mit Geschwindigkeiten jenseits der 100 km/h eingelegt werden, was etwa 2500/min entspricht.
Zwischen 2000 und 3000 Touren fühlt sich der Freedom-V-Twin genannte Motor ohnehin am wohlsten, hier bietet er exzellente Laufkultur, zeigt kaum Vibrationen und wirkt leistungsbereit, aber nicht angestrengt. Ab 3000 Touren kribbelt es schon ein wenig mehr, spätestens ab 4000/min vergisst der V2 seine guten Manieren und setzt die Besatzung auf Dauer unangenehmen Vibrationen aus. Dabei stellt sich das maximale Drehmoment erst bei 4100/min ein, die gemessene Spitzenleistung von 87 PS gar erst bei 5100/min.
Aber die Cross Roads verleitet, passend zur anvisierten Zielgruppe, eben nicht zum Ausreizen der Leistung und zu showträchtigen Zwischensprints, sondern zu entspanntem Gleiten. Eine üppig ausgeformte und gepolsterte Sitzbank, ein angenehm geformter, nicht zu hoch aufragender Lenker und perfekt positionierte Trittbretter, auf denen die Boots lässig geparkt werden, ermöglichen eine bequeme Sitzhaltung, die auch einen Nonstop-Ritt von Los Angeles bis San Francisco zur lässigen Übung geraten ließe.
Nun gut, Tankstopps wären dabei trotz der lobenswerten Reichweite von gut 400 Kilometern unvermeidlich, doch selbst die beste Sozia von allen hätte keinen Grund zu meckern, fällt doch das großzügig bemessene Beifahrer-Sitzkissen ebenfalls einladend weich aus. Die Besatzung darf übrigens, passend zum Bike, ruhig auch etwas üppiger ausfallen, die Zuladung von stolzen 262 Kilogramm setzt hier erst spät Grenzen. Wer vor allem viel Gepäck mit auf die Reise nehmen will, findet zwar bei der getesteten Deluxe-Version zwei lackierte Koffer mit zusammen 79 Litern Stauraum vor (Standard-Modell Cross Roads: 66-Liter-Softbags, keine Scheibe, mit 16990 Euro einen Tausender günstiger), doch darf jeder nur mit maximal 11,3 Kilogramm beladen werden.
Apropos Scheibe, die beim Deluxe-Modell Serie ist: Der hochaufragende Windschild hält zwar recht gut den Druck des Fahrtwinds vom Fahrer fern, verursacht aber schon ab Landstraßentempo etwas lästige Dröhngeräusche am Helm. Nobody‘s perfect. Wobei das amerikanische Tourenschiff mit dem neuen Alu-Brückenrahmen nicht nur stabiler geradeaus läuft, sondern auch abseits schnurgerader Highways positiv überrascht. Für ein Bike ihres Kalibers nimmt sie Kurven erstaunlich zielgenau unter die Räder und gibt sich vergleichsweise handlich. Kein Vergleich zur reichlich störrischen Hammer S mit der breiten 250er-Walze hinten - die Cross Roads rollt auf einem handlingfördernden 180er hinten. Eine weise Entscheidung. Auch wenn kurvige Pisten nach etwas Eingewöhnung durchaus Laune machen, zu doll sollte man es dennoch nicht treiben. Das Gewicht lässt sich in engen Kehren nicht wegdiskutieren, und die früh aufsetzenden Trittbretter schränken die möglichen Schräglagen stark ein.
Verlass ist im Notfall auf die unspektakulär agierende Bremsanlage. Handelsübliche Vierkolben-Festsättel beißen vorn in 300er-Scheiben, ABS wird nicht mal gegen Aufpreis angeboten, hier ist Gefühl in der Bremshand gefragt. Sind die Stopper erst mal eingebremst (die Victory rückte fast jungfräulich mit drei Kilometern auf der Uhr zum Top- Test an) ist das anfangs stumpfe Bremsgefühl weg, die Anlage packt deftig zu, das hohe Gewicht presst den breiten 130er-Vorderreifen auf den Asphalt, der erst spät zu wimmern beginnt und der Victory im Kapitel Bremsen zu neuen Bestwerten im Cruiser-Segment verhilft.
So sammelt die dralle Amerikanerin eifrig Punkte, auch in Kategorien, die keine Cruiser-Domäne sind. Anderswo leistet sie sich jedoch wiederum unnötige Patzer: Die Ausstattung ließe sich mit wenig Aufwand noch optimieren (besseres, umfangreicheres Werkzeug, einstellbarer Kupplungshebel). Außerdem gerät der Eindruck an sich hochwertiger Verarbeitung in Gefahr, wenn offenbar losvibrierte Innereien im linken Auspufftopf beim Gasgeben einen Begleit-Sound erzeugen, als schütte man Schrauben in einen Blecheimer. Aber ein Leisetreter ist ja auch schon das Getriebe nicht: Das lautstarke Klonk-Geräusch beim Einlegen des ersten Gangs oder beim Schalten in den zweiten kann sensible Nachbarn aus dem Tiefschlaf schrecken. Zum grobschlächtig arbeitenden Getriebe passt die Kupplung, die nach einer kräftig zupackenden Metzgerhand verlangt. Überhaupt sollte jedem klar sein, dass der rote Tourenriese (auch in Schwarz erhältlich) eher nichts für zarte Persönchen ist. Gut sieben Zentner wollen geschoben werden, und beim Rangieren hilft im Bedarfsfall kein Rückwärtsgang, wie ihn zum Beispiel die Honda Gold Wing vorweisen kann.
Ob sich die Victory in der Publikumsgunst gegen Letztere, Harley Electra Glide, Kawasaki VN 1700 und Co. durchsetzen kann, wird sich zeigen. Tatsache ist, dass die Cross Roads im intensiven Top-Test-Kreuzverhör zwar einige Schwachpunkte offenbarte, mittlerweile aber wieder zur Bewährung entlassen und auf freien Fuß gesetzt wurde. Auch wurde der Cruiser-Koloss seither weder auf der Zugspitze noch am Ostsee-Sandstrand gesichtet. So viel zum Thema sinnvoller Einsatz. Erfolgte der Freispruch also zu Recht? Motorrad wird den Delinquenten im Auge behalten.
Der amerikanische Mix aus Cruiser und Tourer überzeugt dank starkem Antrieb, großer Reichweite und reichlich Komfort in der wichtigen Kern-Disziplin Reisetauglichkeit und verblüfft mit sehr guter Bremsverzögerung sowie erstaunlich handlichem, stabilem Fahrwerk. Schade nur, dass für diesen tollen Touren-Cruiser kein ABS lieferbar ist.
MOTORRAD-Punktewertung
Kategorie Motor:
Durchzug und Beschleunigung leiden unter dem mäßigen Drehmoment unter 2500/min, dem hohen Fahrzeuggewicht, dem mächtigen Luftwiderstand durch die große Scheibe und der langen Übersetzung. Das Getriebe lässt sich zudem alles andere als leicht und lautlos schalten. Dafür gefallen die Laufkultur des Motors (erst bei hohen Drehzahlen nerven Vibrationen) und das sanfte Ansprechverhalten nebst kaum spürbaren Lastwechselreaktionen.
Punkte: 119 von 250
Kategorie Fahrwerk:
Überraschend agil lässt sich die Cross Roads angesichts ihrer strammen 356 Kilogramm durch Kurven steuern. Ebenso erstaunlich ist die Souveränität, mit der sie dabei auf Kurs bleibt. Dass ein Beifahrer bei der Gesamtmasse kaum ins Gewicht fällt, erklärt das gute Fahrverhalten auch mit Sozius. Die Schräglagenfreiheit ist ebenso bescheiden wie die Einstellmöglichkeiten des Fahrwerks. Dank guter Grundabstimmung vermisst man letztere aber kaum.
Punkte: 115 von 250
Kategorie Alltag:
Ein Cruiser mit Tourer-Ambitionen muss in erster Linie Komfort bieten. Die Victory gibt sich hier keine Blöße und glänzt nicht nur mit üppigen, bequemen Sitzplätzen und entspannter Sitzhaltung, sondern punktet auch in den fürs Reisen so wichtigen Disziplinen wie Zuladung und Reichweite gnadenlos. Das Dauertempo sollte sich bei maximal 120 km/h einpendeln, darüber dröhnen die Luftwirbel hinter der gut schützenden Scheibe doch recht lästig.
Punkte: 134 von 250
Kategorie Sicherheit:
Licht und Schatten bei der Bewertung der Bremsen: Leider bietet Victory noch immer kein ABS an, allerdings zaubern geübte Fahrer mit der Cross Roads sensationelle Bremsverzögerungen auf den Asphalt. Das hohe Gewicht und der breite 130er-Vorderreifen sorgen für die nötige Bodenhaftung.
Punkte: 90 von 150
Kategorie Kosten:
Nach dem Kauf, der mit knapp 18000 Euro zu Buche schlägt, ist das Schlimmste überstanden. Spritverbrauch und Wartungskosten bleiben auf klassenüblichem Niveau.
Punkte: 52 von 100
Gesamtwertung (Max. Punktzahl: 1000): 510
Preis-Leistungs-Note (Bestnote 1,0): 4,0
Die Cross Roads hat viele Talente und punktet in vielen relevanten Disziplinen. Ihr recht hoher Kaufpreis verhagelt ihr jedoch eine bessere Note als die glatte Vier.
Plus
Minus
Motor:
Luftgekühlter Zweizylinder-Viertakt-50-Grad-V-Motor, eine Ausgleichswelle, je eine obenliegende, kettengetriebene Nockenwelle, vier Ventile pro Zylinder, Kipphebel, Nasssumpfschmierung, Einspritzung Ø 45 mm, geregelter Katalysator, Lichtmaschine 450 W , Batterie 12 V/18 Ah, mechanisch betätigte Mehrscheiben-Ölbadkupplung, Sechsganggetriebe, Zahnriemen, Sekundärübersetzung 2,121.
Bohrung x Hub 101,0 x 108,0 mm
Hubraum 1731 cm³
Verdichtungsverhältnis 9,4:1
Nennleistung 66,0 kW (90 PS) bei 4900/min
Max. Drehmoment 140 Nm bei 3250/min
Fahrwerk:
Brückenrahmen aus Aluminium, Upside-down-Gabel, Ø 43 mm, Zweiarmschwinge aus Aluminium, Zentralfederbein, direkt angelenkt, verstellbare Federbasis, Doppelscheibenbremse vorn, Ø 300 mm, Vierkolben-Festsättel, Scheibenbremse hinten, Ø 300 mm, Doppelkolben-Schwimmsattel.
Alu-Gussräder 3.00 x 18; 5.00 x 16
Reifen 130/70R 18; 180/60R 16
Bereifung im Test Dunlop Elite 3
Maße und Gewichte:
Radstand 1669 mm, Lenkkopfwinkel 61,0 Grad, Nachlauf 142 mm, Federweg v/h 130/120 mm, zulässiges Gesamtgewicht 618 kg, Tankinhalt 22,0 Liter.
Service-Daten:
Service-Intervalle alle 8000 km
Öl- und Filterwechsel alle 8000 km 4,0 l
Motoröl SAE 20W40
Leerlaufdrehzahl 900 ± 50/min
Reifenluftdruck solo (mit Sozius) vorn/hinten 2,5/2,7 (2,5/2,7) bar
Gewährleistung zwei Jahre
Mobilitätsgarantie zwei Jahre
Farben Rot/Schwarz
Preis inkl. Nebenkosten:
Cross Roads 16990 Euro
Cross Roads Deluxe 17990 Euro
Leistung und Drehmoment hinken den Werksangaben hinterher. Vor allem beim Drehmoment unter 2500/min schwächelt die Cross Roads im Vergleich zur identisch motorisierten Hammer S. Im sechsten Gang regelt der V2 bei 4500/min ab, die Höchstgeschwindigkeit wird im Fünften bei knapp 5200/min erreicht.
Fahrleistungen:
Höchstgeschwindigkeit: 180 km/h
Beschleunigung:
0-100 km/h 5,5 sek
0-140 km/h 10,5 sek
Durchzug:
60-100 km/h 7,0 sek
100-140 km/h 8,7 sek
Tachometerabweichung:
Effektiv (Anzeige 50/100) 49/97 km/h
Drehzahlmesserabweichung:
Anzeige roter Bereich 5500/min
Effektiv 5400/min
Verbrauch:
Landstraße 5,4 l/100 km
bei 130 km/h 6,1 l/100 km
Theor. Reichweite Landstraße 407 km
Kraftstoffart Normal
Maße und Gewichte:
L/B/H 2640/900/1440 mm
Sitzhöhe 720 mm
Lenkerhöhe 1085 mm
Wendekreis 6500 mm
Gewicht vollgetankt 356 kg
Zuladung 262 kg
Radlastverteilung v/h 46/54 %
Verzögerung: Die fein dosierbare Bremse ermöglicht dank guter Traktion aufgrund des hohen Fahrzeuggewichts sehr gute Verzögerungswerte. Die Vorderradgabel spricht sauber an. Mit leicht wimmerndem Vorderrad kommt die Victory erstaunlich früh zum Stillstand.
Bremsmessung aus 100 km/h:
Bremsweg | 39,8 m |
Referenz Victory Hammer S | 41,0 m |
Fahrdynamik:
Handling-Parcours I (schneller Slalom):
Rundenzeit | 25,1 sek |
Referenz Harley-Davidson V-Rod | 22,3 sek |
Vmax am Messpunkt | 79,3 km/h |
Referenz Harley-Davidson V-Rod | 90 km/h |
Bemerkung: Auch hier vereiteln schleifende Trittbretter höhere Geschwindigkeiten. Die Victory pflügt stabil und lenkpräzise durch den Parcours.
Handling-Parcours II (langsamer Slalom):
Rundenzeit | 34,6 sek |
Referenz Harley-Davidson V-Rod | 34,2 sek |
Vmax am Messpunkt | 42,1 km/h |
Referenz Harley-Davidson V-Rod | 43,8 km/h |
Bemerkung: Stabil und souverän gleitet die Cross Roads durch den schnellen Slalom. Das hohe Gewicht und aufsetzende Trittbretter limitieren die Geschwindigkeit.
Kreisbahn (Durchmesser 46 Meter):
Rundenzeit | 13,4 sek |
Referenz Harley-Davidson V-Rod | 13,3 sek |
Vmax am Messpunkt | 42,4 km/h |
Referenz Harley-Davidson V-Rod | 41,9 km/h |
Bemerkung: Wieder der gleiche Effekt: Aufsetzende Teile bremsen die Victory ein. Das Überfahren der Trennfugen steckt das Fahrwerk souverän weg.