Können täten wir jederzeit wenn wir denn wollen
würden. Mobile Freiheit wird heute im Konjunktiv definiert. Etwa durch die vielen martialisch aufgerüsteten Geländewagen, mit denen sich zivilisierte Mitteleuropäer tagtäglich durch die Staus der Großstädte zur Arbeit chauffieren. Riesige Bullfänger, gröbste Bereifung und maximale Bodenfreiheit
suggerieren: Die Welt ist grenzenlos. Barrieren, Hindernisse? Werden einfach weggeräumt, es gibt kein Limit. In Wirklich-
keit setzt aber schon die Stoßstange des Vordermanns die
erste Grenze. Ebenso will uns der Marlboro-Man, der mit
cooler Miene, die Zigarette lässig im Mundwinkel, durch Utahs Canyons reitet, die grenzenlose Freiheit verkaufen. Offensichtlich existiert die nur noch in Werbespots, droht in Illusionen
und Symbolen zu ersticken.
Allerdings hat jeder die Chance, bei diesem Spiel auszusteigen. Nutze die Möglichkeiten, auch das sagt uns die Werbebranche. Genau das tun viele Motorradfahrer, für die ihre
Maschine nicht einfach Statussymbol oder Prestigeobjekt ist.
Ist Motorradfahren nicht grundsätzlich auch eine kleine Flucht? Wobei die Chance zu entkommen etwas mit Entfernung zu tun hat: Je weiter weg, umso leichter kann man den Alltag hinter sich lassen. Weg von den Menschenmassen unserer durchorganisierten Welt, weg von den zubetonierten Städten, raus in die freie Natur. Die jedoch in Mitteleuropa meist ziemlich überlaufen ist. Ruhe und Abgeschiedenheit finden viele in fernen Zielen, gerade die unwirtlichsten, menschenleeren Gebiete üben eine magische Anziehungskraft aus.
Wir stehen auf einem Berg, irgendwo weit im Süden, die
im Zenit stehende Sonne brennt uns gnadenlos auf den Buckel. Mindestens 40 Grad im Schatten, den man vergeblich sucht. Der Blick schweift über eine grandiose Landschaft. Ein überwältigender Anblick. Kein Asphalt, kein Haus, kein Mensch bis zum Horizont. Eine Landschaft voller Magie: die farbenprächtige Monotonie, die ohrenbetäubende Stille, die Vielfalt der
Einöde. Wie wir hier hingekommen sind? Schwamm drüber,
es war eine lange, rastlose Reise. Nun erwartet uns quasi
als Belohnung diese unendliche Weite der Wüste. Platz, Raum. Für Gedanken, Fantasien. Ein Tagesziel ist schnell ausgemacht: Dorthin soll es gehen, zum Horizont, ins Ungewisse.
Unsere Maschinen geben uns diese Freiheit: mit grober
Bereifung, langhubiger Federung und robuster Bauweise für Abenteuertouren bestens präpariert. Belastbares Personal
natürlich vorausgesetzt. Mit von der Partie: der Autor, ohnehin rast- und ruhelos und quasi permanent auf der Flucht. Stefan, als Tester der Schwesterzeitung »Roller Spezial« dankbar
für jede Alternative zu seinen üblicherweise urban beschränkten Testgebieten; und schließlich Norbert, der als hauptamtlicher Chefarzt die mäßig honorierten Aushilfsjobs bei MOTORRAD kaum zur Gehaltsaufbesserung, vielmehr als Gegenpol zum
Alltagsstress nutzt.
Zunächst schlängelt sich der Weg durch ein gigantisches Wadi, ein völlig ausgetrocknetes Flussbett, Richtung Berge. Flache Vollgaspassagen werden von plötzlich auftauchenden Furchen oder Tiefsandeinlagen unterbrochen. Die Energie,
die Lust muss raus. Volle Pulle, hier ist Ex-Crosser Norbert auf der KTM in seinem Element. Unbeirrbar zieht die straff abgestimmte Adventure ihre Bahn, das schmale 21-Zoll-Vorderrad schneidet durch den weichen Untergrund. Wir, die beiden Nachfolgenden, müssen nicht nur die Staubfahne schlucken, sondern kämpfen auch mit den tiefen Rillen, die der aggressive KTM-Motor in Tateinheit mit dem grobstolligen Metzeler Karoo in den Boden gefräst hat. Norbert blinzelt auf den Tacho: mit über 130 km/h durchs Geröll. Auweia, abfliegen sollte man hier mitten im Niemandsland lieber nicht.
Für uns Hinterherfahrer legt sich der Staub allmählich,
Norbert ist Kilometer voraus. Dieses höllische Tempo können Aprilia und BMW nie und nimmer mitgehen. Aber schließlich
ist der Weg das Ziel, trösten wir uns. Das Problem in den
Sandpassagen ist nur: Je langsamer man fährt, umso stärker eiern unsere Fuhren. Zumal beide Maschinen mit beladenen Koffern gut 50 Kilo mehr als die von Transportaufgaben
freigestellte KTM auf die Waage bringen. Stefan trifft es mit
der Aprilia besonders hart. Sie wirkt noch viel behäbiger,
obwohl real leichter als die BMW, außerdem kopflastig, labil.
Das klassische Sandrezept immer Gas, immer Speed
will einfach nicht funktionieren. Das Vorderrad kommt auf der Sandoberfläche partout nicht in eine stabile Gleitphase, wilde Schlingereskapaden sind programmiert. Stefan ist reichlich
gestresst, macht so manchen unfreiwilligen Ausflug in die
Botanik. Das kann die BMW deutlich besser, obwohl sie ebenfalls ein 19-Zoll-Vorderrad hat.
In der Natur solcher Flussbetten liegt es, dass sie in den Bergen sukzessive enger und wilder werden. Schließlich endet das Wadi irgendwo im Nichts, was uns zu einer Trialeinlage zwingt. Große Steinbrocken versperren den Weg. Krrrrgg, ein hässliches Geräusch. Die Aprilia schrappt am Fels entlang.
Der ausladende Koffer rechts bleibt an einem Steinvorsprung hängen und schleudert Stefan aus der Bahn. Besonders
stabil wirkt der Rimowa-Behälter nicht gerade, der kleine Ausrutscher hat ihn arg ramponiert. Überhaupt bekommt gerade
die italienische Maschine reichlich Dellen und Macken. Die Bodenfreiheit ist trotz der langhubigen Federelemente nicht
üppig. Besonders unten baut der Dampfer breit. Da knallt es hier, scheppert es dort. Man sorgt sich um die hinter dem
dünnen Kohlefaserschutz gelegenen Wasser- und Ölbehälter und -leitungen. Meine BMW ist robuster, hält einiges mehr
aus. Beim Boxer ist die Bodenfreiheit ebenfalls begrenzt, aber eine massive Aluplatte schützt die Ölwanne ordentlich. Norbert hat mit der KTM ein völlig anderes Problem: Die Sitzhöhe
ist dermaßen groß, dass er immer nur einseitig Fußeln und Paddeln kann. Schließlich haut es auch ihn, der bis dahin
so souverän aufgetrumpft hat, mehrfach auf die Seite. Doch ohne Folgen. Und es gelingt ihm recht locker, die leichte
Österreicherin wieder in die Vertikale zu bringen.
Wir erreichen eine Hochebene, ein endlos erscheinender Llano mit spärlicher Vegetation. Kakteen, Agaven, verdörrtes Buschwerk wechseln sich ab. Abseits der Pfade sollte man
hier nicht fahren, die dürre Pflanzenwelt ist extrem empfindlich. Wie eine Fata Morgana taucht am Horizont eine Ansammlung stattlicher Palmen auf. Eine Oase? Wasser, Schatten? Als wir näher kommen, sind nur verfallene Gebäudereste zu erkennen. Gottlob haben wir in den Alukoffern der BMW und Aprilia
reichlich Wasservorräte gebunkert. Die Maschinen werden mit der Hitze besser fertig. Bei der KTM surrt zwar permanent der Lüfter, zum Kochen haben aber selbst die Tiefsandpassagen sie nicht gebracht. Kochen kann die luftgekühlte BMW nicht,
sie strahlt ihre ganze Hitze beidseitig ab, grillt bei Schneckentempo meine Beine. Dem Motor machen die Temperaturen
offensichtlich kaum zu schaffen. Ein beißender Geruch von
angebrannten Kupplungsbelägen kündet allerdings davon, dass eine Trockenkupplung nur begrenzt belastbar ist.
Stunden später stoßen wir auf einen mit Schotter und
gelegentlichen Asphaltstreifen befestigten Weg, der sich über einige Höhezüge rauf und runter schlängelt. Wir sind mittlerweile ziemlich erschöpft. Dankbar, dass wir die Maschinen nun mit wenig Körpereinsatz laufen lassen können. Ganz so easy läuft die KTM hier nicht, der Hochsitz erfordert Gewöhnung. Ebenso der aggressive Motor. Enorme Power, jedoch wenig Drehmoment von ganz unten. Wild schleudernd katapultiert sich Norbert aus den Kurven was auch seinen ganz speziellen Reiz hat. Freilich ein teurer Spaß, in null Komma nichts sind
die Stollen des hinteren Reifens wegradiert. Da ist meine BMW von völlig anderem Charakter, packt von unten mit kraftvollem Schub, trotzdem butterweich zu. Fantastisch, mit wohldosierten, sanften Drifts aus den Kehren zu beschleunigen. Die Federung spricht hervorragend an. Wenn sie noch einige Kilo leichter wäre... Obwohl es der Bajuwarin meist gut gelingt, ihre Pfunde zu kaschieren.
So fahren wir bis zum Abend durch eine schier endlose,
karge Wildnis, kommen dem Horizont keinen Meter näher.
Ein unvergessliches Erlebnis. Ist vielleicht alles nur ein Traum,
Einbildung? Nein, die Wüste ist gar nicht so weit entfernt. Wir waren am südöstlichen Zipfel Spaniens nördlich von Almeria, eine der trockensten Gegenden und die einzige Wüste Europas. Die Chance, dort einem dieser aufgemotzten deutschen
Geländewagen zu begegnen, tendiert gegen null.
Aprilia Caponord Rally Raid
Aprilia Caponord Rally RaidMotor: Zweizylinder-60-Grad-V-Motor, 998 cm3, Bohrung x Hub 97,0 x 67,5 mm, Saugrohreinspritzung, Ø 47 mm, 72 kW (98 PS). Fahrwerk: Brückenrahmen aus Aluprofilen, Telegabel, Ø 50 mm, verstellbare Zug- und Druckstufendämpfung, Aluschwinge, Zentralfederbein mit Hebelsystem, verstellbare Federbasis, Zug- und Druckstufendämpfung, Doppelscheibenbremse vorn, Ø 300 mm, Einscheibenbremse hinten, Ø 272 mm, Reifen Metzeler MCE Karoo, 110/80 R 19 vorn, 150/70 R 17 hinten. Radstand 1568 mm, Federweg vorn/hinten 200/200 mm, Gewicht vollgetankt 268 kg. Preis inklusive Nebenkosten: ab 11299 Euro
KTM 950 Adventure S
KTM 950 Adventure SMotor: Zweizylinder-75-Grad-V-Motor, 942 cm3, Bohrung x Hub 100,0 x 60,0 mm, Gleichdruckvergaser, Ø 43 mm, 72 kW (98 PS). Fahrwerk: Gitterrohrrahmen aus Stahl, Telegabel, Ø 48 mm, verstellbare Federbasis, Zug- und Druckstufendämpfung, Zentralfederbein, direkt angelenkt, verstellbare Federbasis, Zug- und Druckstufendämpfung, Aluschwinge, Doppelscheibenbremse vorn, Ø 300 mm, Einscheibenbremse hinten, Ø 240 mm, Reifen Metzeler MCE Karoo, 90/90 R 21 vorn, 140/80 R 18 hinten. Radstand 1570 mm, Federweg vorn/hinten 265/265 mm, Gewicht vollgetankt 224 kg. Preis inklusive Nebenkosten: ab 12690 Euro
BMW R 1150 GS Adventure
BMW R 1150 GS AdventureMotor: Zweizylinder-Boxer-Motor, 1130 cm3, Bohrung x Hub 101,0 x 70,5 mm, Saugrohreinspritzung, Ø 45 mm, 62 kW (84 PS). Fahrwerk: tragende Motor-Getriebe-Einheit, Hilfsrahmen, längslenkergeführte Telegabel, Ø 35 mm, Zentralfederbein, verstellbare Federbasis, Einarmschwinge aus Aluguss, Zentralfederbein, direkt angelenkt, verstellbare Federbasis und Zugstufendämpfung, Doppelscheibenbremse vorn, Ø 305 mm, Einscheibenbremse hinten, Ø 276 mm, Reifen Continental TKC 80 110/80 B 19 vorn, 150/70 B 17 hinten. Radstand 1509 mm, Federweg vorn/hinten 210/220 mm, Gewicht vollgetankt 286 kg. Preis inklusive Nebenkosten: ab 11745 Euro