
Es gibt Motorräder, von denen steigt man ab, läuft weg und hat sie schneller vergessen als die Lottozahlen der Mittwochsziehung. Nicht dass solche Motorräder schlecht oder hässlich wären. Nein, um Gottes Willen. Aber irgendwie seelenlos, unbedeutend. Und dann gibt es Stahlrösser, die brennen sich ins Gedächtnis wie das glühende Brandeisen ins Pferdefell. Selbst nach Jahren zuckt man unwillkürlich zusammen, wenn man zufällig auf so ein Krad stößt.
„Hallo, das war doch eine XRV 650!“ Vollbremsung, Kehrtwende. Tatsächlich: „Zu verkaufen“. Zwei Stunden später sollte die Africa Twin 650, Kürzel RD03, per Handschlag und gegen 1000 Euro meinen Fuhrpark erweitern. Anders als der feuerrote Honda CB 450-Renner und ein paar halbfertige Youngtimer-Umbauten sollte die Africa Twin bei mir nicht in Rente gehen. Im Gegenteil: Mit 70 000 Kilometern ist so ein Honda-V2-Motor gerade mal eingefahren. Das Fahrwerk wird mit ein paar Handgriffen und frischem Dämpferöl auf neu getrimmt. Alles andere ist wie gemacht für den tagtäglichen Ritt durch die Innenstadt, genauso wie für den derben Ausflug über Schotter und Geröll. Einfach klasse, die alte XRV 650. Und ein Motorrad von echtem Schrot und Korn, eines mit Seele.
Mein erster Kontakt liegt nun genau 25 Jahre zurück, als die Honda beim MOTORRAD-Vergleichstest gegen die BMW R 80 GS (Heft 13/1988) antreten musste. Japanische Edel-Enduro gegen bodenständig bayerisches Boxer-Konzept. Staub hat sie gefressen, die BMW, aufgewirbelt vom 50-PS-Motor der XRV 650. Im Gelände und auf der Straße wurde der Boxer geradezu weggepustet von einer japanischen Groß-Enduro, deren Erfinder und Konstrukteure Nägel mit Köpfen gemacht hatten. War die BMW R 80 GS ein aus der Not geborenes „Geländemotorrad“ mit dem Asphalt zugeneigten Ahnen, steckten hinter der Honda das Konzept und die Erfahrung eines ehrgeizigen Rallye-Projekts. Dabei war es ausgerechnet BMW, das durch publikumswirksame Siege bei der Paris-Dakar mit speziell aufgebauten R 80 G/S-Maschinen die Japaner auf den Plan rief. Die zögerten nicht lange und stellten die Werks-Rallye-Maschine NXR 750 auf die Räder. Honda eben. Mehr dazu auf Seite 50.
Für die Wüste gemacht, taugte die XRV 650 auch zum Schaulaufen vor der Disco. Selbst wenn bundesdeutsche Enduristen Ende der 80er-Jahre kaum im Höllentempo durch die Wüste wollten, konnte sich die XRV 650-Gemeinde sicher sein, dass ihr hochbeiniges Gefährt fast so viel kann, wie die kämpferische weiß/blau/rote HRC-Lackierung versprach. Und das, obwohl der Antrieb im Grunde genommen ein ganz biederes Stück Motortechnik war. Ursprünglich in der Honda VT 500 E verbaut, zeichnet sich der im 52-Grad-Winkel aufgespreizte V-Twin durch eine grundsolide Technik aus. Die drei Ventile werden über Kipphebel mit wartungsfreundlichen Stellschrauben fürs Ventilspiel betätigt, beide Steuerketten automatisch nachgespannt. Eine robuste Ölbadkupplung und ein nicht minder standfestes Fünfganggetriebe reichen die Kraft ans hintere Drahtspeichenrad weiter. Vorausgesetzt, die empfindliche Verzahnung am Kettenritzel hat sich nicht völlig aufgearbeitet und verweigert die formschlüssige Kraftübertragung.
Um trotz des engen Zylinderwinkels des Motors einen passablen Massenausgleich und damit mehr Laufruhe zu garantieren, laufen die Pleuel auf zwei um 76 Grad versetzte Hubzapfen. Unterm Strich beträgt dadurch der reale Hubzapfenversatz 128 Grad (52 plus 76 Grad), womit der V-Motor klar in Richtung eines laufruhigen 180-Grad-Reihenzweizylinders getrimmt wurde, weil die Kolben nahezu gegenläufig in den Gusslaufbuchsen auf und ab sausen. Mit dem Vorteil, dass der nur minimale Versatz der Zylinder aus der Mittelachse (Pleuelfußbreite plus mittlere Hubscheibe) deutlich geringere Massenmomente erzeugt als ein Reihenzweizylinder. Wodurch Honda eine Ausgleichswelle und damit Gewicht sparen konnte.

Soweit die Theorie, die in der Praxis bestätigt wird. Nimmt man die leicht kribbeligen Vibrationen über 6000/min aus, schnurrt der 650er-Twin tatsächlich wie das viel zitierte Kätzchen. Und dabei bleibt‘s auch. Wildes Fauchen und sprunghafte Dynamik sind der gutmütigen Africa Twin 650 nicht in die Wiege gelegt, denn mit echten 50 PS übertraf die Honda die damals populären Viertakt-Einzylinder-Enduros vom Schlag einer Yamaha XT 600 Ténéré oder Honda XL 600 R um gerade mal sechs PS - bei satten 50 Kilogramm Mehrgewicht. Der viel größere technische Aufwand des V2 erfordert bei Reparaturarbeiten am offenen Herzen außer einem geschickten Mechaniker zudem noch viele Hilfsmittel, um die unzähligen Schrauben, Schräubchen, Schläuche und Leitungen des wassergekühlten Twins ordentlich zu sortieren. Damit war der grundsolide V2 so ziemlich genau das Gegenteil der simplen Einzylinder.
Die luftgekühlten Yamaha-Motoren beispielsweise konnte man praktisch im tiefsten Dschungel und im Kerzenschein mit dem Bordwerkzeug zerlegen - und musste das bisweilen auch. Weil Kolbenklemmer, durchgepfiffene Zylinderkopfdichtungen und ähnliches Ungemach den Abenteurer dazu zwangen. Honda ging dagegen den anderen Weg. Und pflanzte der Africa Twin einen Motor zwischen die Räder, der von Haus aus kaum kaputt zu kriegen war. Die Betonung liegt dabei auf kaum, denn unkaputtbar war auch der 650er-Motor nicht. Dennoch, im Vergleich zu den kapriziösen Einzylindern war der Honda-Antrieb eine sichere Bank für alle Weltenbummler und Wüstenfüchse. Auch deshalb, weil die XRV 650 einige lebenswichtige Bauteile gleich in doppelter Ausführung im Gepäck hatte. Mit zwei Zündkerzen pro Zylinderkopf, jede mit einer eigenen Zündspule und für jeden Zylinder eine eigene Zündbox, schaffte es die Africa Twin im schlechtesten Fall auch mit nur einem Zylinder ins Ziel. Den Beweis für die geradezu legendäre Zuverlässigkeit der Honda XRV-Motoren lieferte die Maschine von Classic-Leser und Honda-Fan Harry Spielvogel, der uns auch seine neuwertige RD 03 für die Fotofahrten überlassen hat. Mit einem Motor der 750er-Baureihe spulte der Schwabe 275 000 Kilometer ab, bei minimalster Wartung und grundsätzlich mit dem billigsten Öl befüllt.

Stichwort Öl: Den Schmierstoff verballern viele XRV-Motoren durch den Auspuff, weil Kolben- und Ölabstreifringe ihre Aufgaben nicht so erledigen, wie sich das die Erfinder dachten. Sei‘s drum, den Zuspruch, den die XRV 650 auch 25 Jahre nach dem Debüt erhält, ist grandios. Und die Fangemeinde der XRV-Baureihe mit großer Leidenschaft dabei.
Fast hätte ich vor lauter Motorentechnik das Chassis vergessen. Vielleicht auch deshalb, weil es so gut und unauffällig funktioniert wie der Motor. Vorn eine Gabel mit soliden 43er-Standrohren hinter den schönen blauen Faltenbälgen, hinten eine sehr feine Alu-Schwinge, die über eine Pro-Link-Hebelei mit käfiglosen Nadellagern das Gasdruck-Federbein mit damals einzigartigem Ausgleichsbehälter beaufschlagt. Dass die Stellschraube der Druckstufe eher einen Placebo-Effekt hat und erst reagiert, wenn man entweder komplett auf- oder zudreht, sei den Honda-Technikern verziehen. Zumal die XRV 650 selbst mit vollem 25-Liter-Tank nicht zum Schaukelpferd mutiert und, je nach Bereifung, ganz flott um die Kurven wetzt.
Kein Wunder, dass die vordere 296er- Bremsscheibe hinter der damals obligatorischen Plastikabdeckung bei voller Zuladung ziemlich ins Schwitzen kommt - schließlich schieben bei maximaler Zuladung über 400 Kilogramm Gesamtgewicht mächtig voran und zwingen zum schonenden Umgang mit der malträtierten Bremsanlage. Doch unterm Strich ziehe ich auch heute noch den Hut vor dem, was Honda vor 25 Jahren für 11350 Mark in den Verkaufsraum gestellt hat.
Kultbike-Video Africa Twin
Womit wir wieder am Anfang der Geschichte angekommen wären und nochmals die Frage stellen: Wie, bitteschön, kann sich ein der reinen Funktion und Sachlichkeit unterworfenes Motorrad wie die XRV 650 so in das Herz leidenschaftlicher Motorradfreaks einbrennen? Das schaffen eigentlich nur Exoten, Außenseiter, kapriziöse und dabei bildschöne Italiener oder eben waschechte Klassiker. Meine Antwort: Genau mit den Eigenschaften der RD 03, die trotz gnadenlos sachlicher Funktion in jedem Detail die Handschrift total motorradverrückter Konstrukteure offenbart. Konstrukteure, die es tatsächlich geschafft haben, dem Mann mit dem Rotstift zwei Zündboxen, zwei Zündspulen, eine blitzsauber geschweißte Alu-Schwinge und feine Schnellverschlüsse für die dreifarbig lackierten Verkleidungsteile heraus zu kitzeln. Danach kann sich der brave Kalkulator eigentlich nur am doppelten Kabelbaum erhängt haben - oder nach der Freigabe für die Serie mit den motorradverrückten Ingenieuren einen hinter die Binde gegossen haben. Wobei wir mit Inbrunst auf die zweite Lösung hoffen. Allein die Tatsache, dass die XRV 650 beim ersten Vergleichstest vor 25 Jahren den großen Rivalen BMW R 80 GS geradezu überrollt hatte, dürfte freilich den hohen Materialaufwand und damit das hoffentlich recht fröhliche - Trinkgelage gerechtfertigt haben.
Dieser Vergleich vor einem Vierteljahrhundert hat bei mir jedenfalls die Leidenschaft für die Africa Twin voll entflammt. Und ich war nicht alleine: Schon Wochen zuvor hatte damals mein sehr geschätzter Redaktions-Kollege Fred Siemer den ersten Test der XRV 650 mit der Frage eingeleitet, ob man nach Einführung der Honda Transalp 600 von 1987 überhaupt noch etwas verbessern könne. Seine Antwort: „Schon nach wenigen Kilometern stand fest: fast alles.“ Und in diesem Sinne möchte ich einen nicht beim Namen genannten KTM-Entwicklungs-Chef zitieren, der mich kürzlich beim Studium der alten Berichte und Dokumente über die XRV 650 „erwischte“ und ungeniert der Honda den Hof machte: „Die Africa Twin war ein echter Meilenstein, da hat wirklich alles gepasst.“ Dem ist wohl nichts mehr hinzuzufügen.
Tipps und Tricks zur XRV 650

So robust die Innereien des Honda-Getriebes, so anfällig ist der kurze, verzahnte Wellenstumpf, auf dem das Kettenritzel mit einer schwimmenden Lagerung montiert ist. Durch die Schrägstellung des lose fixierten Ritzels trägt die Vielverzahnung nur punktuell und arbeitet die Zähne schräg auf. Classic suchte nach einer dauerhaften Lösung und wurde fündig. Eine geteilte Klemmfaust, auf der einfachen Drehbank hergestellt, ersetzt die serienmäßige Sicherung und stützt das Ritzel gegen die Verschränkung auf der Welle ab. Nach über 12000 km Laufleistung zeigte sich die Verzahnung in unverändertem Zustand.
Weitere Fehlerquelle: Die Sitzbank drückt bei der XRV so ungünstig auf die Zündbox, dass es an deren Steckverbindung im Gehäuse zum Bruch der Lötstelle kommen kann. Notdürftig kann man sich durch einen um den Steckkontakt gezurrten Kabelbinder behelfen. Auf Dauer hilft nur der Austausch gegen eine teure Original-Box oder eine kostengünstige Kopie, die mit den Originalanschlüssen versehen ist und daher einfach montiert werden kann.
Im Detail: Honda XRV 650

(1988 - 1989)
Preis 1988: 10750 Mark
Daten (Typ RD 03)
Motor:
Wassergekühlter Zweizylinder-Viertakt-V2-Motor, ohc, drei Ventile pro Zylinder, über Kipphebel betätigt, Hubraum 647 cm³, Leistung 37 kW (50 PS) bei 7000/min. Kraftübertragung: Mehrscheiben-Ölbadkupplung, Fünfganggetriebe, Kettenantrieb
Fahrwerk:
Doppelschleifenrahmen aus Stahlrohr, Telegabel, Ø 43 mm, Aluminium-Schwinge, Zentralfederbein, Drahtspeichenräder mit Alu-Felgen, Reifen 90/90-21 vorn, 130/90-17 hinten, Scheibenbremse vorn, Ø 296 mm, Scheibenbremse hinten, Ø 240 mm
Maße und Gewichte:
Radstand 1555 mm, Gewicht vollgetankt 220 kg
Fahrleistung:
Höchstgeschwindigkeit 168 km/h
Technik
Ursprünglich stammt die Motorbasis der Africa Twin-Baureihe von der Honda VT 500 E (1983). Der kompakte V2 mit seinen Dreiventil-Zylinderköpfen ist von seiner Auslegung der Leistungsteile und Kanalquerschnitte nicht auf Höchstleistung, sondern auf Drehmoment und zahme Drehzahlen getrimmt. Die Federwege des soliden Stahlrohr-Chassis liegen mit 220 und 210 Millimeter auf dem Niveau geländegängiger Enduros, und auch die Reifendimensionen und Radgrößen orientieren sich kompromisslos an der Geländetauglichkeit.
Checkpunkte
Der Motor ist nach der Demontage des riesigen 25-Liter-Tanks aus-reichend gut zugänglich, um die notwendigen Wartungsarbeiten, in der Praxis nur Ventilspielkontrolle, durchzuführen. Bei zu hohem Verbrauch, zwischen 4,5 bis 6,5 Liter je nach Fahrweise sind üblich, sollte die Freigängigkeit der Choke-Züge überprüft werden. Schwachstellen sind zudem die Benzinförderpumpe, die zur Not auch bei ausreichend gefülltem Tank überbrückt werden kann, die bereits erwähnten Zündboxen und das Problem der Verzahnung auf der Getriebe-ausgangswelle. Mit einem erhöhten Ölverbrauch lässt es sich leben, zumal das Symptom in der Regel keine gravierenden Motorschäden ankündigt. Optisch stören sich Original-Fetischisten an den oft durch die Sonne ausgebleichten Schaltereinheiten und kaum mehr sichtbaren Kontrollleuchten im Cockpit. Sehr korrosionsanfällig, bleibt vom Serienschalldämpfer aus lackiertem Stahl nach gut 25 Jahren oft nicht viel übrig. Wobei die Kilometerleistung kaum eine Rolle spielt und viele RD 03 deshalb einen Nachrüstdämpfer tragen. Die Edelstahlkrümmer hingegen sind für die Ewigkeit gemacht. Lediglich in den M6er-Gewinden der Hitzebleche finden sich häufig die abgerissen Überreste der Befestigungsschrauben.
Markt
Je nach Zustand muss man zwischen 1200 und knapp 4000 Euro für eine der selten gewordenen XRV 650 rechnen. Viele Africa Twin der ersten Baureihe sind noch im Erstbesitz oder wurden von RD 03-Fahrern der ersten Stunde aufgekauft. Diese pflegen und hegen das gute Stück mit viel Hingabe, wobei auch schon mal das eine oder andere Bauteil durch besseres Zubehör (Sitzbank, Windschutzscheibe) oder reisetauglichere Ausstattung aufgemöbelt wurde.
Spezialisten
African Queens, Holledaustraße 10, 85301 Geisenhausen-Schweitenkirchen,
Telefon 084 41/18442 (Zubehör, Umbauteile, Fahrwerke, Tuning)
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An der Jägerhütte 14, 31020 Salzhemmendorf, Telefon 051 53/963001 (Motortuning, Hubraumerweiterungen)
Internet
Infos, Szene, Treffen rund um die Africa Twin-Modelle: Freunde der Africa Twin,
www.africatwin.de