Hängt hier der falsche Kalender an der Wand? Flachsend schlendern Herbert Schek und Eddy Hau auf die Maschinen zu, die Helme baumeln in der Hand, ihre Offroad-Kleider leuchten vor den grauen Wänden der Werkstatt. Ihre Robe ist noch im Originalzustand. Die weiße Lederjacke mit den blauen „Schek“-Lederbuchstaben auf dem Rücken aus dem Jahr 1984 genauso wie die feuerrote Teambekleidung der Africa Twin-Piloten der Dakar 1991 von Eddy. Doch niemand hat die Jahrzehnte zurückgedreht. Die beiden haben sich als prominente Begleiter einer Zeitreise in ihre ehemalige Schale geworfen. Einer Zeitreise, auf der die derzeit populärsten Reiseenduros mit ihren Urahnen ein Wiedersehen feiern: die BMW R 1200 GS und die Honda CRF 1000 L Africa Twin.
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BMW Boxer-GS und Honda Africa Twin
Generationen-Vergleich
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Als die Fachwelt bei der Präsentation der BMW R 80 G/S im Jahr 1980 kopfstand, konnte Herbert Schek nur milde lächeln. Er wusste längst um das schlummernde Potenzial des Boxers. Schon ein Jahrzehnt vorher hatte der Allgäuer die kaum geländetaugliche R 75/5 umgebaut und zu drei Enduro-DM-Titeln in Folge chauffiert. G/S – das Kürzel für Gelände und Straße – hatten die Bayern beim Stapellauf nicht zuletzt durch die Offroad-Erfolge Scheks und später einiger weiterer BMW-Mitarbeiter auch ernst genommen. Und so steht sie auch heute noch da, die von Zweiventil-Boxer-Spezialist Siebenrock (www.siebenrock.com) neuwertig restaurierte Ur-GS. Die in der GS von BMW erstmals verbaute Einarmschwinge erlaubte es, den hochgezogenen Auspuff für fahrerische Turnübungen eng an den Hinterbau zu schmiegen, ein 21-Zoll-Vorderrad sollte die Front auf Schotterpässen oder im Sahara-Sand präzise führen. Tat es aber, damals wie heute, vor allem auf den Landstraßen und Autobahnen Mitteleuropas. Trotzdem: Mit der G/S war das Segment der universellen Zweizylinder-Reiseenduros geboren.
Honda Africa Twin schlug 1988 ein wie eine Bombe
Die japanischen Hersteller erwischte der BMW-Vorstoß kalt. Honda konterte mit der wenig beachteten XLV 750 R erst 1983, legte dann mit der Transalp nach. Den Weg zum Erfolg ebnete aber erst die zu jener Zeit die Massen elektrisierende Rallye Paris–Dakar. Nach Siegen des Franzosen Cyril Neveu auf der liebevoll Queen of Africa titulierten Werks-Honda NXR 750 schlug die Africa Twin im Jahr 1988 ein wie eine Bombe – auch wenn deren Technik kaum etwas mit dem Werksbike zu tun hatte, sondern geradewegs von der braven Transalp abstammte. Eine drei Millimeter größere Bohrung hievte zwar den Hubraum des V2 von 583 cm³ auf 647 cm³, hochwertigere Federelemente verliehen dem Fahrwerk mehr Reserven, entscheidend für die enorme Aufmerksamkeit war aber wohl ihre Optik. Ein stilsicherer Rallye-Dress, noch dazu ausschließlich in den Farben der Honda Racing Corporation (HRC) erhältlich. Und diese Kolorierung glänzt an der Maschine von MOTORRAD-Leser Andreas Jaus auch nach 28 Jahren und 112.000 Kilometer Alltagseinsatz fast wie damals.
Der Reiz der ewigen Jugend scheint auch die beiden Stargäste anzuziehen. Schnurstracks steuert das Duo auf die gut konservierten Youngtimer zu, rückt sich auf der Sitzbank zurecht. „Scho mol guat, oin E-Starter“, murmelt Herbert im Allgäuer Dialekt vor sich hin. Elektrostarter gab’s bei den ersten GS-Modellen nämlich nur als Zubehör gegen 150 Mark Aufpreis. Überhaupt galt: Was nicht dran ist, geht auch nicht kaputt. An der rechten Armatur der Starterknopf, links der Blinker, Lichtschalter, Hupe und der Choke. Dazwischen ein bulläugiger Tacho mit ein paar schüchtern glimmenden Warnlampen. Schluss. Der Rest? Schmal – trotz 20-Liter-Tanks. Niedrig – weil Soziusplatz und Gepäckbrücke die Linie des 850 Millimeter hohen und schlanken Fahrersitzes geradlinig fortsetzen.
Standgasdrehzahl kaum höher als ein Schiffsdiesel
Eddy grinst amüsiert: „Genauso wie früher.“ Die Dakar 1991 hatte der Sportsmann mit der Honda Africa Twin ursprünglich in der seriennahen Maschinen vorbehaltenen Marathon-Klasse in Angriff genommen. Nur zwei zusätzliche Hecktanks mit je acht Litern, überarbeitete Federelemente und die Einzelscheibenbremse vorn unterschieden die Africa Twin von der Serienversion. Und doch zu viel. Das 750-cm³-Standardmodell wurde mit zwei Bremsscheiben vorn ausgeliefert. Alle Africa Twin-Fahrer flogen während der Rallye deshalb aus der Marathon-Wertung. Der 19. Platz von Hau im Gesamtklassement hätte in der Marathon-Klasse Platz zwei ergeben. Schade. Und doch Schnee von gestern. Im Gegensatz zum Gefühl auf der Honda Africa Twin. Der im Lauf der Jahre etwas durchgesessene Schaumstoff oder das Spiel in den Hebeln mögen an die Jährchen auf dem Buckel der Japanerin erinnern, ihre Ergonomie nicht. Dort war die Honda mit ihrer schlanken Verkleidung, dem geraden und recht weit vorn montierten Lenker bereits in der Moderne angekommen. Und die beiden unaufgeregten Rundinstrumente beschämen auch heute noch jedes digitale Mäusekino.
Herbert drängt. Das tut er seit 83 Jahren. Und fast so lange schwingt der ewig Geschäftige auch auf zwei Rädern durch das voralpine Hügelland um Wangen. Nicht nur unter dem 1,94-Meter-Mann verwandelt sich die BMW R 80 G/S in ein Minibike. Der optische Unterschied zur hünenhaften aktuellen BMW R 1200 GS könnte größer kaum sein. Das Fahrerlebnis wohl auch nicht. Gummikuh, Fahrstuhl – die G/S zeigt, worüber sich die Spötter jener Zeit auf die Schenkel klopften. Ein kurzer Gasstoß vor dem Start – die längsliegende Kurbelwelle kippt die Bayerin nach rechts. Gas anlegen beim Beschleunigen – der Kardan hebt die Hinterhand an. Gas zu, und das Heck sackt wieder in sich zusammen. Ein beherzter Griff zur Vorderbremse – die Einzelscheibe wringt an der zierlichen 36er-Gabel – zieht die Seniorin nach links. Die BMW R 1200 GS lebt. Wohl auch aus diesem Grund fühlte sich damals wie heute mit dem 50 PS starken Zweiventiler kaum jemand untermotorisiert. Ganz im Gegenteil. Mit einer Standgasdrehzahl kaum höher als ein Schiffsdiesel und einem Leistungseinsatz so zart wie handwarme Schokolade schmeichelt sich der Flat Twin auch heute noch ein. Kein Vergleich zu den raubauzig laufenden Singles von Yamaha XT und Co., auf denen in jener Zeit die Generation Abenteuer von Recklinghausen nach Tamanrasset – oder wenigstens ins Bergische Land – polterte.
BMW R 1200 GS kann alles besser
Noch viel, viel weniger hat die Ur-GS jedoch mit ihrer aktuellen Version zu tun. Kein Schräubchen, an dem man im Lauf der vergangenen 36 Jahre nicht drehte. Kein technischer Kniff, mit dem die GS nicht bei jedem Modellwechsel noch weiter feingeschliffen wurde. Paralever, Telelever, ABS, ASC, Ride-by-Wire oder ESA – die Liste der Zutaten liest sich wie der Beipackzettel eines DVD-Players bei Media Markt. Und seit dem Modell 2013 dreht nicht einmal die Kurbelwelle des – nun wassergekühlten und vertikal durchströmten – Boxers in die gleiche Richtung wie früher. Doch der Zweck heiligt die Mittel. Die Neue beschleunigt, bremst, federt, dämpft, lenkt, spurt, ja kann einfach alles besser. Viel, viel besser. Nur mit der BMW R 80 G/S hat die BMW R 1200 GS nichts mehr zu tun. Gar nichts mehr.
Vielleicht winkt Herbert auch deshalb ab. Fahrerwechsel? Nein, danke. „Koasch sitze bleibe.“ Zu viele Knöpfchen, zu große Dimensionen und zu viele Kilos. Seine selbst gebaute R 75/5-Enduro von 1973 wog 125 Kilogramm. Ziemlich genau die Hälfte der aktuellen BMW R 1200 GS. Für die vermutlich so gar nicht seniorengerechten Ausfahrten mit seinen Motorrad-Freunden benutzt der Haudegen nur die 800er-G/S.
Taugte sogar im Serienzustand für die Dakar
Eddy Hau kommt aus dem Schwärmen für seinen ehemaligen Schwarm immer noch nicht heraus. „Die Africa Twin fühlt sich nicht nur so an wie ein modernes Motorrad, die fährt auch so“, reibt sich der 64-Jährige verwundert das Kinn. „Damals war mir das gar nicht so bewusst, dass dieses Motorrad eigentlich im Serienzustand für die Dakar taugte“, adelt Hau die Honda Africa Twin gewissermaßen posthum. In der Tat wirft sich die Twin auch heute noch in die Brust, lenkt neutral, bremst ordentlich, bleibt stabil auf Kurs, kaschiert geschickt ihre 220 Kilo Lebendgewicht (BMW: 196 kg) und lässt sich ihr Alter einfach nicht im Geringsten anmerken. Selbst die sogar etwas unterlegene Leistung spuckt der 53 PS starke Dreiventiler (zwei Einlassventile, ein Auslassventil je Zylinder) so hellwach aus, wie es sich der Boxer in der Ur-G/S nicht mal zu träumen wagt. Zur Ehrenrettung der Bayerin: In den entwicklungstechnischen Sturm- und Drangphasen jener Zeit bedeuteten acht Jahre Altersunterschied einen Generationswechsel. In Wirklichkeit legte sich die Honda Africa Twin im Jahr 1988 nämlich nicht mit der BMW R 80 G/S, sondern mit der 1987 präsentierten BMW R 100 GS (980 cm³/60 PS) an.
Sei’s drum. Den aufwendig mit 52 Grad Zylinderwinkel und 76 Grad Hubzapfenversatz konfigurierten Vau Zwo der ersten Honda Africa Twin gibt’s in der neuen nicht mehr. In ihr imitiert ein – kostengünstigerer – Paralleltwin mit 270 Grad Hubzapfenversatz den Charakter und Sound eines V2. Doch im Gegensatz zur GS, die sich mit jedem Modell weiter von ihren Ursprüngen entfernte, trägt die Africa Twin ihre DNA noch in sich, dokumentiert sie bereits in den technischen Daten.
"Mit der würde ich wieder nach Dakar fahren"
Bei Radstand, Lenkwinkel und Nachlauf gleichen sich die Geometrien fast bis auf den Millimeter beziehungsweise das Grad genau. Sogar das bei aktuellen Reiseenduros mittlerweile unübliche, offroadaffine 21-Zoll-Vorderrad dreht sich zwischen den Gabelholmen. Und auch den Geist der Ur-Twin konservierten die Modellplaner. Keep it simple, halt’s einfach. ABS und Traktionskontrolle – das reicht. Kein Ride-by-Wire, keine Fahrmodi, kein elektronisches Fahrwerk. Was nicht dran ist, kann nicht kaputtgehen – wie bei der Ur-G/S. Wahrscheinlich sogar einer der Gründe für den Erfolg der neuen Honda CRF 1000 L Africa Twin. Nicht nur Eddy fühlt sich in Sekundenschnelle auf ihr so heimisch wie ein Bayer im Biergarten, vermisst kein Bit, kein Byte und kein Justage-Knöpfchen. Der Knieschluss ist ein wenig schlanker, die Sitzbank etwas kommoder, das Handling durch die gelungene Zentralisierung der Massen müheloser. Die zusätzlichen 13 Kilogramm gegenüber der Alten saugt die Neue damit rückstandslos auf. Bei so viel Glanz verzeiht man ihr den Fauxpas mit dem in größerer Schräglage kippeligen Vorderrad-Pneu (Dunlop Trailmax D 610) großzügig. Und natürlich genießt man auch den zusätzlichen Druck, mit dem die 95 PS starke 1000er die Beschleunigungszeiten ihrer Vorgängerin beinahe halbiert. Doch nicht einmal dabei haut sie auf den Putz, erledigt alles in ihrer zurückhaltenden, unangestrengten Art. Keep it simple. „Mit der würde ich wieder nach Dakar fahren. Von mir aus noch heute“, witzelt Eddy – und bringt damit den Charakter der Africa Twin präzise auf den Punkt.
Denn letztlich demonstriert genau dies die völlig unterschiedlichen Entwicklungsrichtungen, welche die beiden Reiseenduros eingeschlagen haben. Während die Honda CRF 1000 L Africa Twin die Fährte der Vorgängermodelle spurtreu wieder aufnimmt, erfand sich die GS in ihrer ununterbrochenen Evolution im Grunde genommen neu. Mit beiden Konzepten kann man glücklich werden. Das beweist die GS seit 36 Jahren – und die Africa Twin seit dieser Saison. Nach Dakar werden wohl die Wenigsten mit ihnen fahren. Und Eddy und Herbert? Die sollte man besser nicht mehr auf die Idee bringen.
Fazit
Wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch längst nicht dasselbe – der geflügelte Satz trifft punktgenau die Evolution der GS und Africa Twin. Während sich die BMW vom hemdsärmeligen Boxer der Anfangsjahre zum höchst technisierten Allrounder entwickelt hat, konserviert die neue Honda Africa Twin den Geist der Ur-Twin ganz bewusst. Das Erfreuliche dabei: Derzeit führen beide Wege zum Erfolg.
Modellhistorie der GS
- 1980 – BMW R 80 G/S: Die R 80 G/S wird vorgestellt. Technisches Highlight: die Einarmschwinge. Die G/S ist 50 PS stark und wiegt 196 Kilogramm.
- 1987 – BMW R 100 GS: Der Motor wird auf 980 cm³ aufgestockt und leistet 60 PS. Die neue Paralever-Schwinge minimiert die Kardanreaktionen.
- 1994 – BMW R 100 GS: Die GS erhält die Telelever-Vorderradführung und den Vierventil-Boxer (1085 cm³, 80 PS). ABS kostet 2000 Mark Aufpreis.
- 1999 – BMW R 1150 GS: Der Hubraum steigt auf 1130 cm³, die Spitzenleistung auf 85 PS. Ein neues Getriebe (erstmals mit sechs Gängen) wird verbaut.
- 2004 – BMW R 1200 GS: Der neue Boxer besitzt nun 1170 cm³ Hubraum und 98 PS. Die GS wird um 22 Kilogramm leichter (242 kg).
- 2010 – BMW R 1200 GS: Die GS übernimmt den Ventiltrieb der HP2-Modelle (zwei Nockenwellen, Radialventile). Spitzenleistung: 110 PS.
- 2013 – BMW R 1200 GS: Die GS-Technik wird völlig umgekrempelt (neuer Rahmen, Wasserkühlung, Kardan links). Sie leistet jetzt 125 PS.
Modellhistorie der Africa Twin
- 1988 – Honda XRV 650 Africa Twin: Auf der Basis der Transalp entsteht die Africa Twin. Der Hubraum des 583er-Transalp-V2 steigt für die Neue auf 647 cm³.
- 1990 – Honda XRV 750 Africa Twin: Der Hubraum klettert auf 742 cm³, die Leistung bleibt aber auf 50 PS gedrosselt. Das Gewicht steigt um 17 auf 237 Kilogramm.
- 1993–2003 – Honda XRV 750 Africa Twin: Rahmen, Auspuff und Verkleidung sind weitgehend neu und sparen drei Kilo ein. Die Spitzenleistung beträgt nun 60 PS.
Herbert Schek, 83, Offroad-Legende
Arturo Rivas
„Die Dakar brachte der GS den Durchbruch“
Genau 65 Jahre – so lange sitzt Herbert Schek bereits im Sattel von Offroad-Maschinen. Seit 1951 bei Geländesport-Veranstaltungen (elf DM- und zwei EM-Titel, 25 Sixdays), ab dem Jahr 1981 bei der Dakar-Rallye, seit 1993 bei Klassik-Enduros. Vor allem die Wüstenhatz hatte es ihm angetan. Bereits 49 Lenze zählte der Haudegen bei seiner Dakar-Premiere, schlug sich nicht nur als Fahrer (Sieger Marathon-Klasse 1984) brillant, sondern auch als Techniker. Die BMW des Dakar-Siegers 1984, Gaston Rahier, wurde in Scheks Werkstatt in Wangen im Allgäu aufgebaut.
Eddy Hau, 64, Rallye- und Enduro-Ikone
Arturo Rivas
„Würde mit der neuen Honda Africa Twin auch nach Dakar fahren“
Sollte Motorradfahren wirklich jung erhalten, Eddy Hau wäre der Beweis dafür. Körperliche Fitness und eiserne Disziplin zeichneten den 64-Jährigen auch in seiner Zeit im Endurosport (sieben DM- und vier EM-Titel) und Motocross (ein DM-Titel) aus. Seinem professionellen Anspruch gerecht wurde der in Sauerlach bei München wohnende Bayer auch in seiner Karriere im Rallyesport. Als Privatfahrer holte er sich im Jahr 1988 auf einer BMW den Sieg in der Marathon-Klasse. Den Schlusspunkt seiner Motorsport-Laufbahn setzte der gebürtige Franke mit dem Start auf einer Honda Africa Twin bei der Dakar 1991. Hau holte auf der nahezu serienmäßigen Maschine immerhin Platz 19.
Technische Daten
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