Es ist immer wieder erstaunlich, wie lange sich ein einmal gefestigtes Image in den Köpfen der Menschen festkrallt. Mit einer KTM biegt man ins Gelände ab, mit einer Ducati auf die Rennstrecke – und Fernreisende sitzen auf einer GS. Letzteres mag nicht ganz falsch sein, ist aber nur die halbe Wahrheit. Denn in diesem Kontext bedeutet GS eben nicht den großen Boxer, sondern die kleine 800er. Unkomplizierte Technik, moderate Dimensionen und das um rund 30 Kilogramm geringere Gewicht als die 1200er, damit wurde die BMW F 800 GS zu Abenteurers Liebling. Seit genau zehn Jahren. Und nun? Bläst die BMW F 850 GS die Kerzen auf der Geburtstagstorte aus.
Beginn einer neuen Ära
Mit ihrer Vorgängerin hat die neue BMW F 850 GS nicht viel gemein. Mit Brücken- statt Gitterrohrrahmen, vorn statt im Rahmenheck platziertem Tank und einem von Grund auf neu konstruierten Zweizylinder schubst die 853er die BMW F 800 GS vom Gabentisch weg. Ihre Geburtstage, die wird die Jubilarin statt im schnieken BMW-Showroom nun für alle Zeiten auf dem tristen Gebrauchtmarkt feiern müssen. Deshalb darf sie noch ein letztes Mal mitfahren. Gemeinsam mit der noch kratzerlosen und makellos neu glänzenden Nachfolgerin auf Abschiedsrunde.

Schon der erste Druck aufs Knöpfchen signalisiert die neue Ära. Der zum Verwechseln ähnlich intonierte Boxer-Sound der BMW 800 GS wird vom unrhythmischen Bass des 853er-Triebwerks überlagert. Mit 90 Grad Hubzapfenversatz übernimmt der beim chinesischen BMW-Partner Loncin gefertigte Twin nicht nur die Charakteristik und den Klang eines 90-Grad-V2, sondern auch die – einzige – Achillesferse des bisherigen Antriebs ins Visier: die Vibrationen. Ab spätestens 6.000 Touren rappelte der mit einem Schwenkpleuel unkonventionell beruhigte Zweizylinder bisher unwirsch, zwiebelte auf längeren Autobahnetappen Hände und Füße zur Gefühllosigkeit. Das ist nun Geschichte. Von zwei gegenläufigen Ausgleichswellen besänftigt, schnurrt der Motor der BMW F 850 GS im Drehzahlkeller bestens erzogen und bleibt auch im obersten Drehzahldrittel mit unkritischen Vibrationen stressfrei.
Viel mehr Zusatzausstattung
Doch gemach, bevor hier am Kabel gezogen wird, gilt es sich einzugewöhnen, den neuen Arbeitsplatz zu erkunden. Der liegt zunächst mal tiefer. Die Sitzhöhe: vier Zentimeter niedriger. Der Lenker: drei Zentimeter tiefer. Der Federweg vorn: 26 Millimeter geringer. Man ahnt, was das alles bedeutet. Von der sportlich-straffen, besonders an der Front hoch thronenden Fahrposition auf der BMW F 800 GS ist auf der BMW F 850 GS kaum noch etwas geblieben. Man sitzt auf der Neuen vorderradorientierter, mehr im als auf dem Motorrad, eher touristisch denn enduristisch, unterm Strich konventioneller. Oder darf man gleich sagen, boxermäßiger? Denn nicht nur die Ergonomie hat sich verändert. Den linken Lenkerschalter mit Handrad? Kennt man von der Flat-Twin-Schwester.

Den E-Gasgriff mit Heizgriff- und Mode-Taster? Ebenfalls. Und dazwischen das TFT-Display? Auch. Vielleicht fällt deshalb das Speckröllchen um die Leibesmitte gar nicht so auf. Immerhin fünf Zentimeter breiter spreizt der nach vorn gewanderte Tank die Schenkel. Insgesamt fühlt sich die 850er gewaltig zur 1200er-GS hingezogen. Schaltassistent, Dynamic ESA, Kurven-ABS, Keyless Ride, LED-Licht sowie besagte Heizgriffe und TFT-Display – im Vergleich zur spartanisch ausgestatteten BMW F 800 GS geht die BMW F 850 GS nun auch in Sachen Zusatzausstattung in die Vollen – sowohl im Umfang als auch finanziell. Jeweils in Maximalausstattung beträgt der Preisunterschied zwischen den beiden immerhin 2.000 Euro.
Weg vom Taschenrechner, zurück auf die Straße
Blitzsauber und souverän hängen beide Motoren am Gas. Dass der neue mit 95 PS zehn Pferde mehr verspricht, ist auf Landsträßchen nicht das Thema. Sehr wohl aber, dass er die dickeren Muckis gleichmäßig über das ganze Drehzahlband spannt. Auf der Stoppuhr mag der zusätzliche Bums gar nicht so sehr ins Gewicht fallen, doch gefühlt drückt der 850er – obwohl er 20 Prozent mehr Schwungmasse besitzt – beim Herausbeschleunigen spritziger und lebendiger an. Schon deshalb, weil er mit seinen guten Manieren ständig animiert, gedreht zu werden. Intuitiv schaltet man später hoch und früher herunter, nutzt das ohnehin größere Potenzial des Twins zusätzlich aus. Apropos Schalten. Mit der elektronischen Motorsteuerung verfügt die BMW F 850 GS auch über einen (aufpreispflichtigen) Schaltassistenten mit Blipper. Eine feine Sache. Auch wenn sich der Tritt auf den Schalthebel durch die zwischengeschaltete Druckdose teigig anfühlt und der Gangwechsel bei Konstantfahrt und in den unteren Gängen etwas ruckig über die Bühne geht. Und wer dennoch die Kupplung zu Hilfe nimmt, dem erspart die Servo-Funktion der Anti-Hopping-Kupplung etwas Handkraft – und besiegelt damit letztlich den Triumphzug des neuen Motors.

Bereits jetzt? Ohne die verschiedenen Mappings überhaupt ins Spiel gebracht zu haben? Korrekt. Denn – wie so oft – benimmt sich ein gut abgestimmter Motor selbst im aggressivsten Mapping noch manierlich. Das trifft sowohl für den 800er-Motor (Rain, Road, Enduro) als auch für das 850er-Pendant (Rain, Road, Dynamic, Enduro) zu. Im Gegensatz zum Vorgänger-Modell rühren die diversen Fahrstufen bei der BMW F 850 GS allerdings deutlich tiefer im Charakter. Von der IMU (Inertial Measurement Unit), die von diversen Sensoren mit Daten über den momentanen Fahrzustand gefüttert wird, werden den vier Modi jeweils passende Abstimmungen des Kurven-ABS, der schräglagenabhängigen Traktionskontrolle und – über das Dynamic ESA – sogar der Dämpfungsabstimmung zugeordnet. Im Gegensatz zur 1200er-GS wirkt die semiaktive Dämpfungsanpassung jedoch nur am Stoßdämpfer. Dort aber ziemlich wirkungsvoll. Im Vergleich zum ESA der BMW F 800 GS fällt die Bandbreite der Zugstufendämpfung erheblich gespreizter aus. Von den im Verborgenen arbeitenden Bits und Bytes merkt der Pilot zunächst jedoch wenig. Eher, wie sich die neue Sitzposition auswirkt.
Satter Druck auf dem Bug
Wir erinnern uns: Weniger Federweg in der Gabel, der vorn platzierte Tank und ein tieferer Lenker bringen mehr Gewicht auf die Front der 850 GS. Das ist messbar. Während auf der MOTORRAD-Waage bei der BMW F 800 GS mit aufsitzendem Fahrer 44 Prozent des Gesamtgewichts auf dem Vorderrad lasten, drücken bei der BMW F 850 GS 46 Prozent auf die Vorderpartie. Das ist auch spürbar. Mit sattem Druck auf dem Bug liefert der 21-Zöller eine klarere Rückmeldung sowie auf Anhieb viel Vertrauen und lässt den flotten Strich auf den gut haftenden Bridgestone A41-Pneus selbstverständlich werden. Selbst der besagt schmale Knieschluss und die aktive Sitzposition können die 800er-GS beim Eckenwetz nicht retten. Das Gefühl für die Front bleibt trotz famoser Metzeler Tourance Next-Bereifung diffus und der Respekt vor dem Grenzbereich größer.

Nicht einmal, dass sich die 850er mit etwas längerem Radstand und Nachlauf sowie stattlichen zwei Grad flacherem Lenkwinkel theoretisch träger als die 800er geben müsste, wirkt sich in der Praxis aus. Die Neue lässt sich genauso flink von einer Schräglage in die nächste werfen, bleibt über Verwerfungen aber spürbar stabiler. Auf der Autobahn profitiert die 850er erst recht von ihrer geänderten Fahrwerksgeometrie. Wie ein Pfeil donnert das spürbar gestreckte Bike über die Bahn, bleibt auch auf maroden Stücken sicher und pendelfrei auf Kurs. Einen Gutteil dazu tragen wohl auch die Federelemente bei. Im Vergleich zur stuckerig arbeitenden WP-Gabel der 800er spricht die Showa-Gabel der 850er viel feinfühliger an. Und auch hinten imponiert der ZF-Dämpfer mit einer weicheren Feder (BMW F 800 GS: 160 N/mm; BMW F 850 GS: 150 N/mm) und der variablen Dämpfung gegenüber dem ebenfalls von ZF stammenden Pendant in der 800 GS mit mehr Komfort. Stichwort Stoßdämpfer. Mit dem Dynamic ESA verabschiedet sich der Monoshock auch vom Handrad zur Federbasis-Einstellung. Ein Druck aufs ESA-Knöpfchen hebt im Passagier- oder Gepäckbetrieb das Heck per Hydraulikpumpe um 35 Millimeter an. Moderne Zeiten.
F 850 GS 18 Kilogramm schwerer
Die auch ihren Tribut fordern. Denn all die Nettigkeiten schlagen auf das Wohlstandsbäuchlein. Mit 241 Kilogramm hat die Neue bedenkliche 18 Kilo zugelegt, wiegt damit letztlich nur noch 15 Kilo weniger als zum Beispiel eine vollgetankte R 1200 GS Rallye. Und das mit bescheidenen 15 Liter Tankvolumen. Man muss sich ohnehin umgewöhnen beim Spritbunkern. Wer sich an den beim Tanken auf dem Seitenständer praktischen seitlichen Einfüllstutzen des 16-Liter-Tanks der BMW F 800 GS gewöhnt hat, dem wird nach der Rückkehr zur Normalität ein lieb gewonnenes Detail fehlen. Wahrscheinlich wird ihn das nun deutliche schlankere Heck der 850er trösten. Das hat freilich ganz profane Gründe. Mit dem auf die rechte Seite verlegten Schalldämpfer lässt sich die BMW F 850 GS erstens nach der Ausfahrt, ohne Angst vom heißen Endtopf gebrandmarkt zu werden, rangieren. Zweitens passen dadurch die pfiffigen Koffer der 1200er-GS an die 850er, welche sich drittens durch die unauffälligen Befestigungsaussparungen rückstandsfrei abnehmen lassen. Schlau.

Unterm Strich also wieder eine Klatsche für die BMW F 800 GS. Die schlanke Sportsfigur bleibt ihr einziger Trost – und der Offroad-Abstecher die letzte Hoffnung. Für Nicht-Extremreisende, also für die allermeisten, sicher nicht die Kernkompetenz einer Mittelklasse-Reiseenduro. Doch lassen wir ihr die Genugtuung. Denn abseits der Straße ist die Welt für die 800er wieder in Ordnung. Allein durch die aktive Sitzposition, flache Sitzbank, schlanke Taille, höhere Bodenfreiheit und drahtige Figur lässt die wackere 800er sich nirgends in die Suppe spucken. So viel feiner das ABS und die Traktionskontrolle der Neuen auch regeln mögen, so leicht sich die Schlauchlos-Reifen bei der Montage auf die Kreuzspeichenräder hebeln lassen, so einfach sich die Stoßdämpferfeder per Knopfdruck vorspannen lässt – wenn’s hart auf hart kommt, zählen die Zivilisations-Features wenig. Denn auch ohne fährt die wendige 800er Kreise um ihre Nachfolgerin.
BMW F 800 GS im Gelände besser
Deshalb bedeutet die Rehabilitation im Gelände für die BMW F 800 GS letztlich viel mehr als nur ein Trostpflaster. Denn damit hatte sie sich ehedem positioniert. Sie war eine vom alten Schlag, besaß ihre Qualitäten. Simpel, effizient, unkompliziert. Wahrscheinlich war sie mit dem aufwendigen Gitterrohrrahmen und viel weniger gemeinsamen Gleichteilen von der großen GS sogar teurer herzustellen als die 850er. Doch gerade damit hatte sie sich eine ganz eigene Identität geschaffen. Dass die Nachfolgerin in fast allen Aspekten – abgesehen vom Gelände – das modernere und klar bessere Motorrad ist, steht außer Frage und wird in der Punktetabelle mit 20 Zählern dann auch objektiv dokumentiert. Und selbst wenn man mutmaßt, dass der BMW F 850 GS in absehbarer Zeit eine Adventure-Variante folgen wird, dürfte feststehen: Bis es so weit ist, wird es auf dem Gebrauchtmarkt alles andere als trist zugehen – zumindest, wenn es um die F 800 GS geht.
MOTORRAD-Testergebnis
1. BMW F 850 GS
Die Baby-GS ist deutlich näher an ihre große Schwester gerückt. Der kultiviertere Motor und das hochwertige Fahrwerk sind der 800er klar überlegen. Doch der Abenteuergeist ging beim Wandel verloren.
2. BMW F 800 GS
Objektiv muss die F 800 GS klein beigeben. Der raue Motor und das etwas hölzerne Fahrwerk können mit der Neuen nicht mithalten. Doch subjektiv reizen simple Technik, Universalität und rustikaler Charme noch immer.