Dauertest KTM 620 LC 4
Kick und fit

Das vorzeitige Ende des Dauertests ist keine Folge erhöhten Materialverschleißes – die KTM ist fit für weitere Expeditionen, nur die Fahrer sind müde.

Das stille, bewegungslose und völlig vertrocknete Mumiengesicht des Sandmeeres Itan Aubari im libyschen Teil der Sahara nimmt von einer Minute zu anderen beängstigende Züge an. Die Sanddünen glühen in der Mittagshitze. Die einstündige Pause im dürftigen Schatten eines kümmerlichen Tamarisken-Strauchs hat die körperlichen Ressourcen nur unvollständig wiederhergestellt. Und was als fixe Idee im Kopf bereits unauslöschlich gespeichtert ist, bewahrheitet sich erneut: Die KTM springt nicht an.
Die Suche nach dem Grund der Startschwierigkeiten folgt zum x-ten Mal derselben Spur: Kontrolle der Schlüsselstellung im Zündschloß, das mit seinen vier Positionen Verwirrung stiftet und zudem mit Handschuhen umständlich zu erreichen ist. Die imaginäre Checkliste umfaßt weiterhin die Stellung des Killschalters und die des Benzinhahns in Miniaturausführung, dessen Position partout nicht zu erfühlen ist.
Der Erfolg der eigentlichen Startprozedur - der beherzte Tritt auf den ebenso langen wie hoch angeordneten Kickstarterhebel - hängt im wesentlichen von der Konstitution des gestreßten Antreters ab: Tritt er nicht engagiert bis zum Anschlag durch, verpufft die Energie wirkungslos im Kurbelhaus. Es kann aber auch passieren, daß der Rückschlag den Vergaser auf seinem Stutzen nach hinten verschiebt oder - wie bei Kilometerstand 35995 geschehen - der Luftfilter durch die zurückschlagende Flammenfront den Feuertod stirbt.
Die Sympathie für die gewichtssparende Starteinrichtung schwindet vollends, wenn der Kickstarter nicht mehr von der Rückholfeder in seine Ausgangsposition zurückgezogen wird, sondern an der Fußrastenhalterung hängenbleibt.
Angesichts der vielen hundert erfolglosen Startversuche im Laufe der gut zweijährigen Testdauer verwundert es nicht, daß im Fahrtenbuch der Dauertest-KTM auffällig viele Standzeiten verbucht sind. Ihre Akzeptanz litt unter ihrer Launenhaftigkeit: Springt der Motor an oder nicht? Tut er’s nicht, neigt der Fahrer dazu, den Grund seines Mißerfolgs zunächst bei sich zu suchen und ist frustriert. KTM drückt sich diesbezüglich folgendermaßen aus: »Auf das Startverhalten hat die Routine des Fahrers einen sehr großen Einfluß.« Mit anderen Worten: Wer sie nicht ankriegt, ist selber schuld.
Tatsache aber ist, daß der Einzylinder höchst sensibel auf Veränderungen auch in seinem technischen Umfeld reagiert: Insbesondere der Dellorto-Vergaser erweist sich als empfindliches Bauteil mit hohem Anteil an der Fehlerquote. Der zu hohe Schwimmerstand, der von KTM als mögliche Ursache der Startschwierigkeiten geoutet wurde, mag mit ein Grund für die Startproblematik gewesen sein.
Weil das Anspringverhalten aber nie einer Logik folgte, wechselte der Tenor der Kommentare im Fahrtenbuch so schnell wie das Wetter im April, nämlich stündlich: Kurz nach dem Eintrag »Man versenke sie im Neckar«, heißt es: »Springt doch auf den ersten Tritt an!”
Die unangenehme Eigenschaft, den Leerlauf trotz gefühlvoller Suche nur ungern freizugeben und - wenn das geglückt ist - nicht mal durch die grüne Neutralanzeige zuverlässig anzuzeigen, hat durchweg Sympathien gekostet. Ebenso die Eigenart, bei zivilen Drehzahlen im Leerlauf schlagartig abzusterben. Wegen relativ geringer Schwungmassen zeigt der starke Vierventiler im unteren Drehzahlbereich ohnehin einen derart ruppigen Charakter, daß von gepflegten Umgangsformen - trotz Ausgleichswelle - keine Rede sein kann.
Der große Sprung zwischen den ersten beiden Gängen sowie die serienmäßig viel zu lange Sekundärübersetzung (16/40) steigerten den Frust im Stadtverkehr, besonders jedoch abseits befestigter Wege so weit, daß die LC 4 schon bei Kilometerstand 900 eine kürzere Übersetzung (15/45) spendiert bekam.
Diverse Polizeikontrollen und einige Zwangsstopps bei aufkommender Dunkelheit wären der KTM und ihren Reitern erspart geblieben, hätte das Motorrad nicht in fast unverschämter Weise Glühlampen verschlissen. Die dank Ausgleichswelle für den Menschen gerade noch erträglichen Vibrationen gehen offenbar mit Frequenzen einher, die tödliche Wirkung auf die sensible Materie der ohnehin spärlichen Beleuchtungseinrichtung haben.
Daß es keineswegs Freude bereitet, mit dem qualitativ mäßigen Bordwerkzeug Servicearbeiten zu verrichten, sei hier nur am Rande bemerkt. Ohne blutige Fingerknöchel geht beispielsweise ein Kerzenwechsel nicht vonstatten.
Ihre konstruktive Herkunft aus dem Lager der Hardcore-Enduros belegt die KTM 620 LC 4 allerdings nicht nur durch die ständig auftretenden Wehwehchen im alltäglichen Umgang, sondern auch durch höchst professionelle Eigenschaften: Ihre Eignung als Expeditionsgerät in schwerstem Gelände hat sie in wochenlangen Reisen mehrfach bewiesen. Dem Durchhaltevermögen ihrer Fahrwerks- und Antriebskomponenten muß höchster Respekt gezollt werden.
Daß die Rückholfeder der Kickstarterwelle brach, der Bowdenzug des Dekompressionshebels riß und der hohe Hauptständer gegen Ende des Dauertests Anzeichen eines Ermüdungsbruchs zeigte, darf angesichts der vielen Turnübungen, die auf der KTM mit dem bloßen Ziel der Körperertüchtigung veranstaltet werden mußten, nicht verwundern.
Abgesehen von den regelmäßigen Inspektionen alle 10000 Kilometer bleibt die Liste der nötigen Ersatzteile und der außerplanmäßigen Werkstattbesuche überschaubar. Die erste Dämpferüberholung wurde - trotz harter Geländeeinsätze - erst bei Tachostand 28911 notwendig. Lediglich eine Speiche erlitt einen Ermüdungsbruch, und nur zweimal mußten die Simmerringe der Gabel wegen Undichtigkeit ausgetauscht werden. Der zunehmend rupfenden und schlecht trennenden Kupplung wurden bei Kilometerstand 34640 neue Reibscheiben spendiert.
Die Entscheidung, der LC 4 nach 26 Monaten und 40000 statt der sonst üblichen 50000 Kilometer Dauertestdistanz in die Eingeweide zu gucken, ist nicht nur eine Folge der Haßliebe, die sich zwischen Mensch und Machine entwickelt hat. Es ist auch ein Zugeständnis an die ebenso wechselvolle wie zehrende Vita zwischen sandiger Sahara, steinigen Pyrenäen und quälendem Stop-and-go-Verkehr. Fakt ist: Der Motor gab nach 35000 Kilometern Laufleistung erstmals ungewohnte mechanische Geräusche von sich. Auf die Leistungsbereitschaft des österreichischen Eintopfs hatten diese Geräusche allerdings keinen störenden Einfluß. Die Abschlußmessung bei Kilometerstand 40000 bescheinigt sogar eine fülligere Leistungskurve bei gleicher Spitzenleistung.
Die Demontage des Singles nach dem vorzeitigen Ende des Langstreckentests brachte die möglichen Ursachen zum Vorschein: eine eingelaufene Steuerkettenschiene und ein beschädigter Nadelkäfig des unteren Pleuellagers. Ansonsten zeigt sich die KTM 620 LC 4 technisch wie optisch in tadellosem Zustand - bereit für die nächste Weltumrundung.
Das letzte schriftliche Dokument im Fahrtenbuch beschäftigt sich - wie konnte es anders sein - erneut mit dem Thema Antreten: Der Satz »Ein Tritt genügt« darf als versöhnliches Happy-End des KTM-Langstreckentests verstanden werden. Für all diejenigen, die sich auf solche Versprechungen lieber nicht einlassen wollen, sei zum Trost gesagt: Die KTM LC 4 gibt es jetzt auch mit E-Starter und demnächst auch als 640er mit mehr Hubraum.

Unsere Highlights

KTM nimmt Stellung...

...zu den Startschwierigkeiten und dem instabilen Leerlauf:Auf das Startverhalten hat die Routine des Fahrers einen sehr großen Einfluß. Die Startschwierigkeiten einiger Testfahrer sind zum Teil wahrscheinlich auch darauf zurückzuführen. Trotzdem vermuten wir als eine der Ursachen einen zu hohen Schwimmerstand des Dellorto-Vergasers. Daß die Startprobleme nach korrekter Einstellung behoben waren, läßt darauf schließen....zum undichten Tankdeckel:Ist ein bekanntes Problem, wenn der Dichtungsgummi schlecht sitzt. Der Gummi kann mit der Hand wieder korrekt positioniert werden, dann ist der Tankdeckel wieder dicht. Ab Modell 1998 ist das Problem durch einen absperrbaren Tankdeckel gelöst....zum Getriebeabstufungssprung zwischen dem ersten und zweiten Gang:Dies ist bekannt und wurde ab Modell 1997 geändert. Von 16:24 (2. Gang) auf 15:24...zu den defekten Handdekompressorseilzügen:Ein eigentlich unbekanntes Problem. Die Seilqualität wird überprüft. Es könnte auch an der falschen Einstellung des Seils liegen....zur defekten Tachowelle:Die Lebensdauer konnte durch eine Korrektur der Tachoposition deutlich verlängert werden. Beim Reifenwechsel wird die untere Überwurfmutter gelöst und oft nicht mehr korrekt angezogen. Dies führt dann dazu, daß die Tachowelle sich lösen und auch ganz abfallen kann....zum Rupfen der Kupplung:Problem ist bekannt. Ab Modelljahr 1998 wird eine O-Ring-Version verbaut (Service-Mitteilung). Damit ist das Kupplungsrupfen weitgehend verschwunden. Außerdem werden ab dem 1998er Modell zusätzlich verbesserte Reibbeläge verwendet....zum Pendeln bei höheren Geschwindigkeiten:Das Fahrwerk ist in erster Linie für den Enduro-Bereich abgestimmt und natürlich ein Kompromiß zwischen Handlichkeit und Geradeauslauf.Das Pendeln tritt hauptsächlich auf, wenn der Luftdruck nicht stimmt oder wenn die Reifenwahl nicht auf den Straßenbetrieb abgestimmt ist.Empfohlene Reifen sind Metzeler Enduro 3, Metzeler Enduro 4, Michelin T63, Michelin T66. Mit diesen Pneus und mit dem korrekten Luftdruck ist das Pendeln nicht mehr vorhanden.

Lesererfahrungen

Derzeitiger Kilometerstand meiner 1994er Competition: 17000, davon mehr als die Hälfte im Gelände. Probleme bisher: Bei einer Wüstentour wurde die Kupplung verheizt, der dabei überkochende Kühler hatte auf die Motorhaltbarkeit keine Spätfolgen. Was mit gefällt:- stabiles Fahrwerk mit exzellenten Federelementen;- unglaublich spritziger Motor und klasse Fahrleistungen. Was mir nicht gefällt: - Kickstarter nervt, auch wenn der Motor sofort anspringt;- Höllenvibrator (ohne Ausgleichswelle) bei mehr als 110 km/h.Anzumerken ist, daß die KTM für Anfänger im Gelände nicht leicht zu fahren ist.Eduard KrausIch fahre eine KTM LC4 EGS mit Erstzulassung März 1995. Bis auf die verkürzte Übersetzung (15/40) fahre ich im Originalzustand. Ein Five-Stars- Topcase für Givi-Koffer ist dezent auf dem Gpäckträger montiert. Reifenmäßig ist die LC 4 mit Pirelli MT 21 bestückt, die einen guten Kompromiß zwischen Straßentauglichkeit, guter Traktion im Gelände und passabler Haltbarkeit bieten.Bei Kilometerstand 800 klemmte der Schwimmer, mit etwas Feilerei war das Problem für immer behoben. Ansonsten hatte ich keine Probleme. Selbst das Versenken in einer Furt bis zum Tank steckte meine KTM klaglos weg. Ein paar mal durchkicken, und schon lief sie wieder.Die LC 4 ist spurtstark, einigermaßem handlich und durch den 20-Liter-Tank mit hoher Reichweite versehen (Verbrauch im Schnitt 5,7 Liter/100 km). Die Vibrationen sind zwar permanent spürbar, stellen aber nur bei Tempi über 120 km/h eine Belästigung dar.Robustheit und Leidensfähigkeit der LC 4 ist beispielhaft. Da gibt es keine gebrochenen Armaturen und Schalthebel. Manche japanische Enduro wäre schon längst verreckt (ich hatte vorher drei Japaner, weiß also, wovon ich spreche).Roland Merkt

Zustand

Motor: Alle vier Ventile mit leichten Ablagerungen, aber dichtem Sitz.Ventilsitze einlaßseitig leicht eingeschlagen.Nochenwelle wegen der Rollenkipphebel ohne Verschleiß und in in sehr gutem Zustand. Alle Ventilführungen innerhalb der Einbautoleranz.Kolben maßhaltig, mit tadellosem Laufbild und geringen Ölkohlebalagerungen.Oberer Kolbenring mit zu großem Stoßspiel (muß erneuert werden).In der Beschichtung der Zylinderlaufbahn finden sich leichte Riefen, der Verschleiß liegt jedoch innerhalb der Einbautoleranz.Steuerkettenschiene leicht eingelaufen.Die Kupferbeschichtung des Nadelkäfigs am unteren Pleuelauge ist verschlissen, die Folge: leichte Riefen in Pleuellagerbohrung. Pleuel mitsamt Lager und Bolzen müssen erneuert werden.Kraftübertragung: Primärantrieb, Kupplungsscheiben und Kupplungskorb in sehr gutem Zustand und mit geringem Verschleiß. Getrieberäder ohne sichtbaren Verschleiß, kein Pitting, eine Schaltgabel mit leichten seitlichen Anlaufspuren.Rückholfeder der Kickstarterwelle ist gebrochen und muß erneuert werden.Fahrwerk und Ausstattung: Rahmenlackierung überwiegend in sehr gutem Zustand. Nur im Bereich der Fußrasten und den Rahmenunterzügen Lackablösungen.Lackierung des Rahmenhecks im Bereich der Sitzbankauflage abgescheuert.Die sehr gut gedichteten Lagerstellen von Schwinge und Umlenkhebel sind spielfrei und ohne Korrosion.Auspuffstutzen am Zylinder mitsamt Befestigungsschrauben stark korrodiert. Vorschalldämpfer an den Schweißnähten korrodiert, restliche Edelstahl-Auspuffanlage in gutem Zustand.Lagerstellen von Brems- und Kupplungshebel ausgeschlagen.Elektrische Steckverbindungen ohne Korrosionsspuren und mit festem Sitz.

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MOTORRAD 12 / 2023

Erscheinungsdatum 26.05.2023