Die Ducati Multistrada V4 nimmt im MOTORRAD-Dauertest insgesamt 100.000 Kilometer unter die Räder. Hier erfahrt ihr, wie es der Multi V4 über die Distanz ergeht.
Die Ducati Multistrada V4 nimmt im MOTORRAD-Dauertest insgesamt 100.000 Kilometer unter die Räder. Hier erfahrt ihr, wie es der Multi V4 über die Distanz ergeht.
Seit Januar 2021 ist die Multistrada V4 im Handel. Bis einschließlich November 2021 wurden 1.135 Exemplare in Deutschland "in den Verkehr gebracht", wie es auf Amtsdeutsch heißt. Eines davon weilt seit Kurzem in der Redaktion, um nicht weniger als 100.000 Kilometer abzureißen. "Jetzt sind wir endgültig im Automobilbau angekommen!", entfährt es Werkstattchef Gerry Wagner, als die Ducati den Zustand des Fotos unten erreicht hat. Was hat der Mann vor? Er hat die in diesem Fall ebenso arbeitsintensive wie undankbare Aufgabe, die Dauertest-Eingangsmessungen der High-End-Reiseenduro durchzuführen. Dazu gehören neben dem Verplomben wichtiger Schraubverbindungen auch eine Kompressions- und Druckverlustmessung. Und dafür müssen die Zündkerzen raus. Und wie das heutzutage eben ist, ist die Ducati zum einen sehr kompakt und verschachtelt aufgebaut und zum anderen die Verkleidung weitgehend ohne sichtbare Verschraubungen montiert. So gilt es bei jedem der rund zwei Dutzend zu entfernenden Bauteile erst einmal herauszufinden, wo und wie es verschraubt, verclipst, verzapft oder versonstwast ist.
Auf dem Foto (oben) stehen die Kerzen der hinteren Zylinderbank kurz vor ihrer Entdeckung. Um der vorderen Exemplare ansichtig zu werden, mussten neben diversen Kleinteilen auch Öl- und Wasserkühler weichen. Doch irgendwann konnten die Messungen durchgeführt und die Duc wieder komplettiert werden. Neben der Komplexität der Technik ist auch die Ausstattung auf Pkw-Niveau. So gibt es neben vielen anderen elektronischen Helferlein auch einen adaptiven Tempomat und einen Totwinkel-Warner im Rückspiegel. Connectivitiy und semiaktives Fahrwerk sind da kaum der Erwähnung wert. Fast wie beim Auto sind auch die Service-Intervalle: alle 15.000 Kilometer einen Ölwechsel, Ventilspielcheck alle 60.000 Kilometer. Wie sich das alles über die 100.000er-Distanz schlägt, erfahrt ihr hier.
Exakt 2362,5 Kilometer zeigt der Tripzähler an, als ich die Rase-Enduro aus Bologna nach dem Spätsommerurlaub in der Tiefgarage des Verlags parke. Zustande gekommen sind die vielen Kilometer vor allem im Allgäu mit kurzen Abstechern Richtung Schweiz und Österreich.
Erwartungsgemäß brillierte die redaktionsintern liebevoll Multistrudel genannte Duc auf großer Tour. Die dynamische Güte von Chassis und Motor wurden ja bereits hinlänglich abgefeiert und bekräftigten sich hier erneut. Wahnsinn wie dieser sehr zweizylindrige Vierzylinder vor allem obenrum anreißt, Wahnsinn wie zackig das Raumschiff um die Ecke geht, Wahnsinn wieviel Sprit dabei durchgeht. Trotz plötzlichen Herbstwetters und entsprechender Mäßigung gönnte sich The Big Red höchstens auf schnarchigen Autobahnanfahrten mal weniger als sechs Liter Brennstoff. Nach oben klettert der Durst leichter. Nunja, angesichts von Einstandskurs und großem Tank wohl trotzdem für die meisten ernsthaften Interessenten eher nebensächlich.
Apropos Autobahn
Der jüngst bemängelte Windschutz wurde zwischenzeitlich gepimpt. Ein größeres Windschild von MRA samt witziger Vario-Oberlippe macht hohes Dauertempo deutlich erträglicher. Zumindest wenn man "nur" 1,80 Meter misst. Mit der geringeren Körperlänge als beim geschätzten Vorautor geht eine nicht näher bezifferte Gewichtseinsparung einher, die vielleicht dazu führt, dass ich den Touring-Fahrmodus samt Fahrwerkshärte "mittel" als genau passend für die allermeisten Situationen und Umgebungen halte. Der Sport-Modus mit spürbar mehr Griffigkeit in Gasannahme und Fahrwerk steht einer starken Ducati immer noch ziemlich gut, fügt eine Portion Drama hinzu, die zwar spannend sein kann, selten nötig ist.
Temporadar bekommt Best-Note
Kategorie dramafree ist der bereits gelobte Tempomat mit Abstandsregelung: Gelebte Stressfreiheit bis exakt 160 Sachen, so viel angenehmer macht er das ewige Hin- und Herspiel auf deutschen Autobahnen. Gleiches gilt für den Totwinkel-Warner, der mir nicht nur einmal brenzlige Situationen ersparte. Und wo wir schon beim Thema Sicherheit sind: Für den kleinen Trip gab es einen frischen Satz Sohlen in Form der Trailmax Meridian von Dunlop. Allzeit verlässlicher Klebstoff, der bei angepasster Fahrweise selbst mit Sturzregen und scharf gemachter Elektronik kaum digitale Bevormundung ausgelöst hat. Wenn es doch mal schiefgegangen wäre: no panic, die Multi ist dank SW-Motech mittlerweile umfangreicher bebügelt als ein Fahrschulmotorrad.
Koffer sportlich schlank
Alles eitel Sonnenschein trotz Regenwetter? Fast, aber halt nicht ganz. Das Koffervolumen ist sportlich schlank. Die mordsschicken Fräs-Protektoren am Kurbelgehäuse rauben viel Platz für den rechten Fuß. Auf der linken Seite hingegen zeigt sich die hohe Bedienkraft für den Schalthebel in freudigen Stiefelspitzenverschleiss.
App nur semi-toll
Die Navilösung per Handy-App: Ansatz gut, Ausführung naja. Gut: Brillante Kartendarstellung im großen Cockpit, kein Online-Zwang dank herunterladbarem Kartenmaterial, fixe Streckenberechnung und akzeptables Handling per Joystick am Lenker. Naja: Zwei Apps sind nötig (Telefonanbindung + Kartenmaterial), der Telefonbildschirm muss permanent aktiv bleiben, keine Möglichkeit, Routenpräferenzen bei aktiver Zielführung zu ändern und eine oft launische Verbindung zwischen Telefon und Motorrad.
Und dann frisst das Navigieren den Akku noch ratzfatz leer und kocht zumindest mein Android-Samsung nach ein bis zwei Stunden derart, dass die Navi-Apps mal aus Schutz vorm Hitzetod automatisch beendet werden.Weder ein singuläres noch ein seltenes Problem, wie ein schneller Blick in die App-Bewertungen im Google-Play-Store zeigt. Aber naja, glücklicherweise fängt Motorradspaß ja nicht bei der Routeneingabe an. Und vielleicht erbarmen sich die Signori ja zeitnah mal zu dem, was sie bei der Hardware regelmäßig tun: ein umfangreiches Update. Verbrauch auf der Tour im Schnitt 6,4 Liter auf 100 Kilometer.
Gute 2.000 Kilometer ist Reise-Leister Dentges mit der Multi durch Österreich gekommen. Er lobt den guten Windschutz hinter der neuen Scheibe von MRA, hat allerdings einiges Tadel für zu kleinen Koffer. Weiterhin fällt ihm bei Tempo ab 190 km/h eine ungewohnte Neigung zum Pendeln auf. Er vermutet einen abgefahrenen Vorderreifen, der noch der erste ist. Hinzu kommt ein etwas kippeliges Kurvenverhalten. Zeit den Reifen vorn zu wechseln. Verbrauch auf 2.066 Kilometer bei 6,7 Liter pro 100 Kilometer.
Test-Chef-Vize Jens Möllner-Töllner bemerkt im Pendelbetrieb ab und an einen wandernden Druckpunkte der Vorderradbremse und im unteren Drehzahlbereich mahlende Geräusche aus dem Antrieb. Auffällig für ihn: Selbst bei 16 Grad Außentemperatur immer mindestens 90 Grad Wassertemperatur, Tendenz höher.
Nach knapp 11.000 Kilometer ist der erste Hinterreifen runter. Als Ersatz kommt erneut der Pirelli Scorpion Trail II auf die Felge. Sonst keine Vorkommnisse. Bei der 10.000er Inspektion alles nach Plan mit einigen Software-Updates.
Kollege Hertneck fährt mit der Multi ins Heimatland der Ducati. Er lobt dabei die Abstimmung des Motors, der ab 3.000 Touren geschmeidig zieht. Es stören die lauten mechanischen Geräusche des V4. Lob bekommt der ausreichende Windschutz vom 1,95 Meter großen Fahrer. Tadel hingegen die schlechte Menüführung und der ab und an unwillig wirkende Quickshifter. Ebenfalls dürfte der sechste Gang drehzahl-senkend ausgelegt sein, da Konstantfahrt mit hohen Drehzahlen einher ginge. Aber: In dieser Situation ist der Abstandstempomat und gern genutzes Feature. Verbrauch im Schnitt über 1.889 Kilometer: 6,3 Liter pro 100 Kilometer.
Wenn die sanfte Gewalt des V4 ab gut 7.000 Touren einen cholerischen Anfall bekommt, muss man entweder die Arschbacken zusammenkneifen oder sich das Grinsen verkneifen. Die Multi V4 S lässt einen dieses Muskelspiel in hoher Frequenz wiederholen. Ein Fest. Meist ein sinnloses, aber nicht folgenloses, denn du bist ohne jeden Sinn eigentlich immer zu schnell. Das beherrscht Ducatis Enduro in Perfektion. Man wähnt sich auf einem Power-Naked-Bike, so einfach geht das mit dem (zu) schnell auf der Multi. Dazu ein im Grunde bewegliches Chassis – das semi-aktive Skyhook mit dem Autoleveling ist eine Wucht und die Ausstattung den knapp 22.000 Euro Klimpergeld durchaus würdig. Allein die ersten paar Hundert Kilometer den Abstandstempomaten testen und kennenlernen: kindliche Spielfreude. Randnotiz: Polizeimotorräder mit ihrem breiten Heck erkennt das Radar sogar bei versetzter Fahrt, die Verzögerung nach einem Spurwechsel ist allerdings einen Hauch zu lang. Es klopft von innen an die Hirnrinde: das perfekte Motorrad.
Wo viel Qualm, da viel Sprit
Immer langsam. Es gibt einiges, wo die Multi und ich an gegenseitige Grenzen stoßen. Zunächst: Der V4 säuft. Zumindest bei mir. Landstraße im mehr oder weniger legalen Bereich bekomme ich unter 7,0 Litern nicht hin. Bei konstant 120 km/h auf der flachen Autobahn stürzen 5,6 Liter in die Brennräume. Ducati gibt realistische 6,5 Liter als Normverbrauch an. 22 Liter Tankvolumen reichen so für theoretische 338 Kilometer. Das ist weder Reise noch Enduro noch 2022. Aber nachvollziehbar: Der V4 dreht im 6. Gang mit 4.000 Touren die 100 km/h auf die Straße, volle Brause stehen aber gut 11.000 Touren an. Bei Normalfahrt kann der Hochleistungsmotor gar nicht effizienter laufen, mit so minimal geöffneten Drosselklappen.
Bremse überraschend mau
In die 320er-Scheiben vorn muss ich ordentlich reinlangen, damit der Geschwindigkeitsüberschuss sauber abgebaut wird. Leider wirkt der große Doppel-Kolben-Sattel an einem 265er-Teller hinten etwas zahnlos. Lieber mit der vehementen Motorbremse des hochverdichtenden V4 arbeiten, auch wenn der Quickshifter unter 4.000 Touren besser nicht genutzt werden sollte, da er unter runter unter Last nicht arbeitet. Das Getriebe dürfte es auf Dauer danken. Abhilfe: Reibpaarung ändern.
Serienreifen etwas träge
Ab Werk rollt die Mega-Multi mit dem Scorpion Trail II von Pirelli. Der macht vor allem vorn seinen Job deutlich unter 10 Grad Celsius in Sachen Haftung und Grip sehr gut. Einzig fühlt er sich beim zackigen Einlenken etwas träge an, besonders wenn die Schräglage höher oder erhöht wird und das Autoleveling-System des Fahrwerks aktiviert ist. Das arbeitet für meinen Geschmack grundsätzlich etwas hektisch und erinnert immer mal wieder an eine unterdämpfte Zugstufe, vor allem im Heck. Trotzdem: das semiaktive Fahrwerk ist großartig abgestimmt, selbst forsch genommene Bahnübergänge mit Senke juckt das Skyhook-System nicht einen Moment. Als Solofahrer mit 110 Kilogramm wirkt die statische Vorspannung harmonischer im Fahrwerk. Abhilfe: Reifen wechseln.
Bedienung kann herausfordern
Den größten Kratzer zieht die Ducati beim Thema Bedienung der zahlreichen, guten Features. Beispiel: Zum Einschalten und Einstellen der Griffheizung braucht es einen Fingerdruck des rechten Zeigefingers, mindestens einen Klick mit dem linken Daumen am Joystick, ein Quittierdruck auf und mit diesem und schließlich einen längeren Exit-Druck mit dem Joystick nach links. Unter Umständen alles während der Fahrt.
Für die Sitzheizung muss man hingegen nur mit dem linken Daumen mindestens drei Bewegungen ausführen. Immerhin: Beide Heizungen machen ihrem Namen selbst bei Temperaturen um die null Grad alle Ehre und den Hupenknopf findet der Daumen auf Anhieb blind. Der Rest braucht eher Geduld als Übung, da die Möglichkeiten des Bordcomputers äußerst umfangreich sind. Abhilfe: Merken und sich damit abfinden.
Aber dieser Motor!
Es klang zu Beginn schon an: Der V4 Gran Turismo der Ducati ist ein Gedicht. Untenrum schon saftig, hängt ab 2.500 Touren schön am Kabel, großer Fahrbereich zwischen 4.000 und 7.000 Touren. Darüber: Hölle in den roten Bereich. Dabei weder mechanisch noch akustisch – immerhin eine Duc – anstrengend oder in Sachen Power hinterlistig. Selbst im Touring-Modus – da steht das Mapping auf Mittel – tänzelt die Multi vorn bis in den vierten Gang leicht über die Straße. Wenn nur das mit dem Durste nicht wäre. Im Allgemeinen deckt der Touring-Modus einen sehr breiten Einsatzbereich ab, auch wenn der Chronist die Dämpfung der Gabel erhöht, was die Front noch etwas zackiger macht. Abhilfe: Vielleicht mal über eine längere Sekundär-Untersetzung nachdenken, wenn technisch sicher.
Ergonomie für 1,88 Meter Körpergröße
Großes Mopped für große Menschen. Das passt als Untertitel für die Multi. Mit 1,88 Metern ist üppig Platz da, die Sitzbank ist enorm groß, der Hintern kann in alle Richtungen locker verschoben werden, ohne dabei haltlos zu wirken. Der Lenker steht etwas flach vor einem. Da könnte man mal dran drehen. Leider am Ende ist die Serienscheibe, die sich zwar mechanisch einfach verstellen lässt, aber für besagte Körperlänge zu kurz ist, und zwar genauso minimal, dass der Wind den Helm sehr rüde passiert. Da dürfte der Zubehörmarkt helfen, da könnte man vielleicht auch etwas stabilere Seitenscheiben finden, da die Serienteile ab 130 recht hilflos im Wind flattern und womöglich Grund der vermeintlich hohen Windgeräusche sind. Abhilfe: Zubehör-Tourenscheibe testen (demnächst nachzulesen in MOTORRAD).