Fahrbericht Aprilia ETV 1000 Caponord
Schräger Wohnen

Im Sportbereich stiegen sie mit dem 1000er-Rotax-Motor wie Phönix aus der Asche. Wird Aprilia mit der Caponord denselben Erfolg bei den großen Reiseenduros haben?

Mächtige Worte sind in Aprilias Presseankündigung zu lesen: Caponord – ein völlig neuer Typ von Motorrad hinsichtlich Abmessungen, Merkmalen, Einsatz, Fahrstil und Fahrposition. Klingt fast so, als hätten die Italiener das Rad neu erfunden. Ganz so krass ist’s nicht. Die Konstrukteure aus Noale hatten lediglich die Aufgabe, die neue 1000er im Olymp der Reiseenduros zu positionieren. Und sollten den Göttern bestenfalls das Fürchten lehren. Dort oben, wo die Luft besonders dünn ist, zwischen BMW R 1150 GS, Cagiva Navigator, Honda Varadero und Triumph Tiger. Klare Vorgaben also, und kein leichtes Unterfangen.
Doch die Caponord bringt gute Erbanlagen mit. Schließlich pocht in ihr das Herz der leistungsstarken RSV-Mille. Der von Rotax gebaute Antrieb wurde in wesentlichen Details grundlegend überarbeitet, um ihn der Touren- und Reiseenduro-Fangemeinde schmackhaft zu machen – mit viel Bums von unten heraus und kerniger Leistungsabgabe im mittleren Drehzahlbereich. Um dies zu erreichen, wurden die Kolben neu geformt, das Verdichtungsverhältnis verringert, der Nockenwellenhub vergrößert und der Durchmesser der Ansaugkanäle verkleinert. In Verbindung mit einer neuen elektronischen Einspritzsteuerung sowie -düsen und einer auf viel Drehmoment bei niedrigen Drehzahlen ausgelegten Edelstahl-Auspuffanlage soll der 60-Grad-V-Motor nun genügend Punch und Kultur haben, um auf das Treppchen der Reiseenduro-High Society zu klettern. Ob die 72 kW (98 PS) bei 8250/min und 97 Nm bei 6250/min dazu ausreichen, bleibt abzuwarten.
Doch Leistung ist nicht alles. Sie muss auch beherrschbar sein. Dieses klappt nur, in Verbindung mit einem stabilen Fahrwerk: Eine 50 Millimeter starke, verwindungssteife Marzocchi-Gabel übernimmt die Federung vorn, ein progressiv angelenktes Sachs-Federbein hinten. Die Federwege liegen mit 175 Millimeter vorn und 185 Millimeter hinten ganz auf dem Niveau der Konkurrenz. Ein Brückenrahmen aus Aluminiumprofilen soll – nach Aprilias Angaben – mit der höchsten Verwindungssteifigkeit im Feld der dickschiffigen Reiseenduros aufwarten. Und darüber hinaus den Motor so aufnehmen, dass er optimal im Zentrum des Schwerpunktes liegt. Okay, klingt enorm vielversprechend. Aber kommen wir vom Tiffosi-Traum zur Realität.
Es ist Märzbeginn. Während im wolkenverhangenen Deutschland zaghaft die ersten Krokusse ihren Kopf aus dem Gras stecken, duftet es im sonnendurchfluteten Südsardinien nach Frühling. Und Abenteuer. Die Caponord wird – welch Widerspruch – nahezu am südlichsten Punkt der Insel präsentiert. Doch der Name soll einfach nur Bikerträume wecken, die ETV 1000 hätte auch Capetown oder Gibraltar heißen können.
Der optische Eindruck, den die Maschine hinterlässt, ist zwiespältig. Der gewaltige Scheinwerfer erinnert, zusammen mit den in der Verkleidung integrierten Blinkern, an das Gesicht der kleinen Figuren aus einem Kinofilm: Gremlins. Ein Mix aus Kuscheltier und Fledermaus. Nicht gesehen? Nichts verpasst. Das Styling der Caponord ist durchgängig kantig und schräg, ein ganz eigener Charakter. Mit Ausnahme der Soziusfußrasten. Diese wirken wie ein Fremdkörper, wie selbst gebogen und nachträglich dran geschweißt. Kleine Wartungsarbeiten lassen sich leicht erledigen. Der Ölstand ist anhand eines außen liegenden, durchsichtigen Röhrchens mit schnellem Blick kontrollier-, der Nachfüllstutzen leicht erreichbar. Das gilt ebenso fürs Kühlwasser. Der Scheinwerfer lässt sich relativ leicht verstellen, die Federvorspannung des Federbeins ebenso – per Handrad über eine Hydraulik. Zur Erweiterung des Stauraums ist die Sitzbank geteilt, das Soziuskissen kann, wie bei einigen BMW-R-Modellen, abgenommen werden. Leider fehlen die Gepäckhaken. Ein Hauptständer ist noch nicht, das Koffersystem erst ab Sommer lieferbar. Kostenpunkt: zirka 1000 Mark. Der Grundpreis des Fahrzeugs beläuft sich auf 20999 Mark. Ohne Kat. Tja, Schnäppchenwochen sind vorbei.
Eine alte Volksweisheit ist auch auf den Tourenbereich übertragbar: Wie man sich bettet, so fährt man. Im Fall der Caponord: angenehm und komfortabel. Ja fast sogar wohnlich empfängt einen die Sitzbank, umschmiegt den Fahrer in – für diese Fahrzeugkategorie – erfreulich niedrigen 820 Millimeter Sitzhöhe. Der Lenker ist sehr breit, die Sitzposition – und darauf legten die Konstrukteure besonderen Wert – passt für alle Fahrergrößen. Das kann Kollege Allner, ein 2,03 Meter-Mann, bestätigen. Zum exzellenten Komfort tragen der optimale Knieschluss durch den schmalen Tank, die verstellbaren Brems- und Kupplungshebel sowie die ergonomisch geformte Sitzbank bei.
Das Bollern des 1000er-V-Motors verliert sich leider in dem Auspuff-Geschlängel und den Endschalldämpfern. Die hydraulisch betätigte Kupplung ist sehr sensibel zu dosieren, die Gänge rasten exakt und leicht ein. Leichtfüßig schwingt die Caponord durch die ersten Kurven. Erst bei Wendemanövern, bei denen die 1000er im Stand jongliert werden muss, oder im Rangierbetrieb fallen ihr Gewicht und der hohe Schwerpunkt auf: Aprilia nennt 215 Kilogramm trocken – zirka 245 werden es vollgetankt mit allen Betriebsstoffen sein.
Ab 2500/min schiebt der Motor vehement vorwärts, animiert schon 1000 Umdrehungen später zum Hochschalten. Dann erreicht man gefühlsmäßig Drehmomenthöhen, aus denen man sich fortan nicht mehr entfernt. Mit der Agilität einer Mäuse jagenden Katze spurtet die 1000er aus den Kurven heraus, lässt sich zielgenau einlenken, trifft die gewünschte Linie. Extrem enge Kehren hingegen mag sie nicht so recht, lenkt ein bisschen störrisch ein. Die leicht vorhandenen Lastwechselreaktionen werden im Übergang zum Schiebebetrieb akustisch von einem metallischen Geräusch aus dem Kupplungskorb untermalt: der Anti-Schlupfmechanismus. Doch das wirkt genau sowenig störend wie die Vibrationen des Tausenders. Im Verhältnis zu einer Varadero oder Navigator läuft er, trotz seiner zwei Ausgleichswellen, rauer. Von nervenden Lebensäußerungen kann jedoch keine Rede sein.
Die mitunter recht welligen Straßen Sardiniens bringen das Fahrwerk nicht an seine Grenzen. Auch nicht mit einem Zweizentnermann als Sozius. Die mächtige Gabel spricht sehr sensibel an, arbeitet komfortabel und bietet Reserven. Auch ohne Verstellmöglichkeit. Dasselbe gilt für das Federbein, wenngleich dieses neben der hydraulischen Federvorspannung auch über eine Zugstufeneinstellung verfügt. Auf Schotterwegen mit eimergroßen Löchern hinterlassen die Federelemente im Solobetrieb einen sehr guten Eindruck, bügeln nahezu alles glatt. Allerdings sind fünf Zentner Masse nicht zu kaschieren. Ist der Bug erst mal übersteuert, bricht das Heck zu stark aus, dann ist Ende im Gelände. Ein Lob gibt es für die gut dosierbaren Bremsen – nicht giftig, aber mit dem notwendigen Biss und Steherqualitäten. Nehmerqualitäten muss der Fahrer dagegen mitbringen, wenn es um Verwirbelungen im Kopfbereich geht. Hinter der Scheibe entstehen bei höheren Geschwindigkeiten Turbulenzen, die auf Dauer nerven.
Es ist später Nachmittag, die Uhr im Display des großzügig ausgestatteten Cockpits mahnt zum Rückflug nach Deutschland. Neben Gesamt- und Tageskilometerzähler informiert es übersichtlich über Benzinstand, Kühlwassertemperatur, anstehende Inspektionen und eventuelle Störungen im Einspritzsystem. Der besondere Clou: Wenn die Temperatur unter drei Grad Celsius sinkt, erscheint eine Eiswarnung. Um dies zu überprüfen, hätte MOTORRAD die Testfahrt allerdings tatsächlich Richtung Nordkap verlegen müssen. Die Temperatur auf Sardinien betrug 26 Grad.

Unsere Highlights

Technische Daten - APRILIA ETV 1000 Caponord

Motor: Wassergekühlter Zweizylinder-Viertakt-60-Grad-V-Motor, Kurbelwelle querliegend, zwei Ausgleichswellen, je zwei obenliegende, kettengetriebene Nockenwellen, vier Ventile pro Zylinder, Tassenstößel, Trockensumpfschmierung, elektronische Saugrohreinspritzung, Ø 47 mm, Motormanagement, Doppelzündung, keine Abgasreinigung, E-Starter, Drehstromlichtmaschine 470 W, Batterie 12 V/14 Ah.Bohrung x Hub 97 x 67,5 mmHubraum 998 cm³Verdichtungsverhältnis 10,4 : 1.Nennleistung (ECE) 72 kW (98 PS) bei 8300/minMax. Drehmoment 97 Nm (9,9 kpm) bei 6300/minKraftübertragung: Primärantrieb über Zahnräder, hydraulisch betätigte Mehrscheiben-Ölbadkupplung, Sechsganggetriebe, O-Ring-Kette, Sekundärübersetzung 45:17.Fahrwerk: Brückenrahmen aus Aluprofilen, geschraubtes Rahmenheck, Telegabel, Standrohrdurchmesser 50 mm, Zweiarmschwinge aus Aluprofilen, Zentralfederbein mit Hebelsystem, verstellbare Federbasis, Zugstufendämpfung, Doppelscheibenbremse vorn, Vierkolbensättel, schwimmend gelagerte Bremsscheiben, Ø 300 mm, Scheibenbremse hinten, Zweikolbensattel schwimmend gelagerte Bremsscheibe, Ø 270 mm.Speichenräder 2.50 x 19; 4.00 x 17Reifen 110/80 VR 19; 150/70 VR 17Fahrwerksdaten: Radstand 1560 mm, Lenkkopfwinkel 62 Grad, Nachlauf 129 mm, Federweg v/h 175/185 mm.Maße und GewichteL/B/H* 2310/830/1440 mmSitzhöhe* 820 mmGewicht trocken* 215 kgTankinhalt/Reserve* 25/5 LiterGarantie zwei Jahre ohne KilometerbegrenzungFarben Schwarz, Rot, Silber Preis inkl. MwSt. und Nebenkosten 20 999 Mark* Herstellerangaben

Die aktuelle Ausgabe
MOTORRAD 12 / 2023

Erscheinungsdatum 26.05.2023