Üblicherweise wird um Motorradneuheiten ein munteres Versteckspiel veranstaltet, zu dessen Ende hingemurmelte Sätze aus der Entwicklungsabteilung oder verzerrte Erlkönigfotos noch ein wenig Öl ins Feuer gießen. Ausgerechnet bei einer der bis heute erfolgreichsten Enduros verhielt sich die Sache komplett anders: Alle wussten, dass die Begründerin des Fernreise-Genres, die schon seit 1976 gebaute XT 500, eine Nachfolgerin brauchte. Diese Rolle hatte die deutlich modernere, aber leider verkannte XT 550 zwischen 1981 und 1983 nicht ausfüllen können, und zwar vermutlich deshalb, weil die Konkurrenz den Hubraumstandard auf 600 cm³ angehoben hatte und weil sie dem Trend zum crossigen Hochbau nur maßvoll huldigte. Also schwor alle Welt, dass Yamaha nochmals handeln, alle Welt ahnte, dass man die Paris-Dakar-Erfolge vermarkten würde. Tatsächlich erschienen 1983 das Wüstenschiff Yamaha XT 600 Ténéré sowie der drahtige Sportler TT 600. Und danach wusste alle Welt, dass noch was Normales fehlte.
Für jene nämlich, die weder nach Timbuktu touren noch Yamaha-Ass Eddy Hau den Gelände-Europameistertitel abknöpfen wollten. Sondern einfach mal von der Landstraße abbiegen und ein wenig Schotter fliegen lassen. Aber die Produktionskapazitäten waren aufgrund des Ténéré-Erfolgs erschöpft, erst 1984 konnte der Hersteller gegen Konkurrenzangebote à la Kawasaki KLR 600 und Honda XL 600 R ankämpfen und eine normale Yamaha XT 600 bringen.
Schmal zulaufende Bank für Turnübungen im Gelände
Wie die ganze Reihe nutzt sie den hubraumerweiterten Vierventiler der 550er und besitzt damit einen der gesündesten und kräftigsten Einzylinder seiner Zeit. Das Fahrwerk mit Alu-Schwinge, Umlenksystem zum hinteren Mono-Federbein und stämmiger 43er-Showa-Gabel gleicht jenem der Ténéré fast aufs Haar. Selbstredend musste deren 30-Liter-Spritfass einem schlanken 11,5-Liter-Tank weichen, der aber bei vorsichtiger Fahrweise immer noch für knapp 200 Kilometer reicht. Danach ist‘s auch gut, denn statt des weltberühmten Wüstensofas erhielt die normale Yamaha XT 600 eine schmal zulaufende Bank, die sehr wenig Langstreckenkomfort vermittelt, aber dafür Turnübungen im Gelände entgegenkommt.
Enduros in dieser Verfassung entwickelten sich ab Mitte der 80er-Jahre zu sehr beliebten Allroundern, spielten in der Stadt ihr fixes Handling aus, vor dem Café ihren herben Charme und am Wochenende ihre Vielseitigkeit. Ganz vorn dabei die Yamaha XT 600 mit ihrem kernigen, oberhalb von 5500 Touren sogar zu kernigen, weil hart vibrierenden Motor, dessen um die 42 gemessene und äußerst homogen abgegebene PS mit vollgetankt 154 kg natürlich leichtes Spiel haben. Ein E-Starter wurde selten vermisst, in leidlich gutem Pflegezustand springt eine XT immer gut an. Auf der Straße macht sich ihre Scheibenbremse besser als die Trömmelchen der Vorgängerinnen, und ihre für Asphalt eigentlich überflüssig langen Federwege lehren, dass selbst Knüppeldämme sehr locker und souverän befahrbar sind. Für diese Federelemente gibt es keine schlechten Straßen, deshalb sollten schnelle Leute das tiefe Eintauchen beim Bremsen verzeihen. Und die Treiber heutiger Reise-„Enduros“ sollten endlich aufhören, überheblich zu grinsen. Sonst biegt die XT einfach mal auf einen Schotterweg ab und staubt ihnen was vor.
Technische Daten Yamaha XT 600

Yamaha XT 600 (Modell 43F von 1984)
Luftgekühlter Einzylinder-Viertaktmotor, 595 cm³, 32 kW (44 PS) bei 6500/min, 50 Nm bei 5500/min, Fünfganggetriebe, Einschleifenrahmen aus Stahlrohr mit gegabeltem Unterzug, Gewicht vollgetankt 154 kg, Reifen vorn 3.00 x 21, hinten 4.60 x 18, Tankinhalt 11,5 Liter, Höchstgeschwindigkeit 146 km/h, 0–100 km/h in 5,8 sek.
Szene
In ihrer ersten und zweiten Auflage (von 1984 bis 1990) gilt die Yamaha XT 600 als Prototyp einer kernigen Enduro, die 2 KF (ab 1987) mit im Detail verbessertem Triebwerk, längerer Schwinge (leider Stahl statt Alu), Scheibenbremse auch hinten und 13-Liter-Tank krönt die gesamte Baureihe. Yamaha sieht das wahrscheinlich anders, denn die deutlich veränderten XT ab 1990 verkauften sich noch viel besser. Mit gekürzten Federwegen und E-Starter wurden sie als zünftige Allrounder auch bei Frauen sehr beliebt.
Waren aber auch beleibt: Leergewicht 175 kg. Sämtliche Normal-XT erreichten nie den Kultstatus von TT oder Ténéré, sind aber in der dortigen Szene gern gesehene Gäste. Einschlägig bekannte Spezialisten (www.wunderlich.de; www.kedo.de) umhegen die Yamaha XT 600 bis heute, ebenso sind die Reparaturanleitungen des Bucheli-Verlags noch lieferbar.
Internet
Ein reges Forum trifft sich auf www.xt-foren.de, dort werden auch Treffen organisiert und angekündigt.
Angegliedert ist die informative Website www.xt600.de.
Viel Stoff zum Schmökern – auch zur Normal-XT – gibt’s auf www.rallye-tenere.net.