Megatest Reiseenduros 2012
Die Allround-Motorräder auf Reise, Landstrasse und Offroad

Die 1000-Punkte-Wertung haben alle acht aktuellen Reiseenduros bereits hinter sich gebracht. Nun sollen die Allrounder ihre speziellen Fähigkeiten auf der Reise, der Landstraße und im Gelände unter Beweis stellen – auf einer Tour um einen der aktivsten Vulkane Europas, den Ätna.

Die Allround-Motorräder auf Reise, Landstrasse und Offroad
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Bereits der Sprachgebrauch sagt viel über den bisherigen Status quo im Segment der Reiseenduros aus. „GS-Klasse“, so wird die Liga der zweirädrigen SUV im Hersteller-Jargon gelegentlich tituliert. Eine verbale Verbeugung vor der Gründerin und seit Langem regierenden Herrscherin dieses Reichs, der BMW R 1200 GS. Doch in ihrem Reich tut sich etwas. Ducati und Yamaha rütteln bereits seit zwei Jahren recht erfolgreich an den Stadttoren, und mit Honda, Kawasaki und Triumph schicken in diesem Jahr gleich drei Hersteller den Revoluzzern Verstärkung.

Den Machtwechsel konnte die Königin aber noch einmal verhindern. Auch nach dem jüngsten Vergleichstest der großen Reiseenduros bleibt die Bayerin im Amt. Allerdings: Die aufsässigen Konkurrenten rücken ihr immer mehr auf die Pelle. Nur noch in einem Kapitel der MOTORRAD-1000-Punkte-Wertung hat die GS knapp die Nase vorn. Letztlich gewinnt sie durch ihre Ausgeglichenheit.

Doch welche Maschine kann ihr in den speziellen Einsatzbereichen einer Reiseenduro das Wasser reichen? Gibt es die Spezialistin für die lange Reise, den Kurvenspaß auf der Landstraße oder den Ausflug ins Gelände? Und wie viele Zugeständnisse muss dieses Konzept dann in den anderen Bereichen machen?

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Megatest Reiseenduros 2012
Die Allround-Motorräder auf Reise, Landstrasse und Offroad
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Um dies zu eruieren, rüstete MOTORRAD das Achter-Testfeld aus Teil eins des Vergleichstests mit Gepäcksystemen (Ausnahme: Der Koffersatz für die Kawasaki Versys 1000 war noch nicht lieferbar) aus und ging auf große Reise. Insgesamt 2200 Kilometer Autobahn (Hin- und Rückweg) von Süddeutschland zum italienischen Fährhafen Civitavecchia, 1200 Kilometer

auf den gekräuselten Landstraßen Siziliens und ein Offroad-Abstecher am Fuß des Ätna sollten für klare Verhältnisse sorgen. Die Quintessenz dieser Abenteuerreise sind drei getrennte Wertungsblöcke, für welche die Testfahrer jeweils eine komplexe Punktewertung erstellten und so die  jeweiligen Testsieger und die Rangfolge dahinter ermittelten.

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Majestätisch: Nicht nur in den Gassen Siziliens wirken Reiseenduros wuchtig und souverän.

Die extrem wechselnden Fahrbahnverhältnisse, insbesondere die vielen durch Erdrutsche verursachten Verwerfungen, stellen zwar hohe Ansprüche an Mensch und Maschine, schränken den Fahrspaß jedoch des Öfteren erheblich ein.

Als Sondermodell „Rallye“ reist die Titelverteidigerin von BMW gen Süden. Sonderlackierung, Bordcomputer, Heizgriffe, Gelände-ESA und Handschützer sind serienmäßig, Safety-Paket, ABS, Reifenluftkontrolle und Navi treiben den Preis der BMW auf über 18000 Euro. Auch als Sonderedition, der Pikes Peak-Version, geht die Ducati Multistrada ins Rennen. Der Unterschied zur Serie: Dreifarb-Lackierung und diverse Karbon-Anbauteile. Bei der Testmaschine ersetzt die höhenverstellbare Serienscheibe das Racing-Windschild. Mit mehr als 22000 Euro liegt die stärkste Reiseenduro preislich allerdings klar über der Konkurrenz. Die Crosstourer lockt Reiseenduristen mit dem einzigen V4-Motor der Riege und aufgeräumtem Design. Das Comeback im Reiseenduro-Bereich feiert Kawasaki mit der Versys 1000. Wobei das Vierzylinder-Bike mit einem Abstecher ins Grüne kaum etwas am Hut hat. Eine Bereicherung des Segments stellt der Allrounder dennoch dar. Am anderen Ende der Skala rangiert die KTM. Bereits im letzten Jahr erhielt die Offroad-affine Adventure serienmäßige Sturzbügel und den 115 PS starken Motor des R-Modells. Stilsicher vertritt die Moto Guzzi Stelvio die italienische Traditionsschmiede. Im wuchtigen Fahrwerk sitzt der 90-Grad-V2-Motor mit 1151 cm³ Hubraum. Zu einer der meistbeachteten Neuerscheinungen des Jahres 2012 zählt zweifellos die Triumph Explorer. Mit 1215-cm³-Dreizylindermotor, Kardanantrieb, üppiger Ausstattung und sogar optischen Anleihen haben die Briten die GS eindeutig ins Fadenkreuz genommen. In der Edition Worldcrosser – mit Karbon-Seitenteilen und Rahmenschützern – tritt die Yamaha Super Ténéré an. Andiamo – Direzione Sicilia.

Reise

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Erfahren, erleben, den persönlichen Horizont erweitern - auf dem Motorrad erhält Reisen eine ganz besondere Qualität. Reiseenduros stehen großen Tourern in Sachen Langstreckentauglichkeit kaum nach.

Knarzend senkt sich die Ladeklappe der Fähre auf die Kaimauer des Hafens von Palermo. Draußen  sehen wir bereits einen graumelierten Mann in blauer Offroad-Kleidung, der aufgeregt eine Videokamera in Position bringt. Das müsste Fabio sein. Ohne Absprache nehmen wir Aufstellung, rollen in Formation mit den Reiseenduros an der Linse vorbei. Der Herr ist begeistert, reckt beide Daumen nach oben und stürzt auf uns zu. Es ist Fabio. Umarmungen, beidarmiges Händeschütteln, ein unaufhörlicher Redeschwall – Fabio di Giorgi, so sein voller Name, erfüllt bereits in der ersten Minute unserer Bekanntschaft das Klischee des heißblütigen Sizilianers.

Fabio kennt unseren Plan aus vielen E-Mails. Seine Internetseite www.lasiciliainmoto.it, sinngemäß übersetzt „Motorradfahren in Sizilien“, passt haargenau zu unserer Mission. Er wird uns die kommenden Tage begleiten. Er und seine Helmkamera. Fabio filmt alles und jeden, immer und überall. Er gestikuliert, er spricht – und er hupt. Bis wir den Stadtrand von Palermo erreicht haben, dürfte das Horn der Ducati Multistrada öfter getrötet haben als das der MOTORRAD-Dauertest-Maschine nach 50000 Kilometern.

Wir haben alle Mühe, ihm im chaotischen Gewusel zwischen ein-, aus-, um- oder sonstwie parkenden Autos, schleichenden Dreirädern, durchschlängelnden Rollern und lässig über die Straße schlendernden Fußgängern zu folgen. Erst auf der Stadtautobahn wird die Lage übersichtlicher. Vielleicht auch wegen der Gewohnheit. 1100 Kilometer hatten wir gestern zwischen Süddeutschland und dem italienischen Fährhafen Civitavecchia nordwestlich von Rom auf der Autobahn in einem Rutsch zurückgelegt. Fahren, tanken, Cappuccino, Panino, wieder fahren, wieder tanken. Zwölf Stunden lang.

Genug Zeit, um die Reisequalitäten dieser zweirädrigen SUV auszukosten. Und – wenn’s auch kleinlich klingen mag – bereits kurz nach der Abfahrt Erbsen zu zählen. Denn Highspeed-Reisetempo ist in Europa eben nur noch in Deutschland legal und der Verbrauch bei einem Reiseschnitt von 150 km/h deshalb nur dort messbar. Das Ergebnis: Um die zwei Liter Mehrverbrauch verlangte der größte Teil des Reiseachters für das D-Zug-Ticket. Am gierigsten zeigte sich die Ducati (7,4 l), am sparsamsten die BMW, die mit 5,8 Litern nur einen knappen Liter mehr als auf der Landstraße konsumierte. Haarspalterei bei Einstandspreisen der Maschinen von bis zu 22000 Euro? Vielleicht doch nicht. Fabio deutet beim Vorbeifahren auf die Preistafel an der ersten Autobahntankstelle. Super Plus 2,07 Euro.

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Imposant: Abendessen in der Altstadt von Ragusa, einem Weltkulturerbe.

Zurück zu Erfreulicherem. Auch nach der gestrigen Gewalttour sitzt es sich noch immer kuschelig auf den Sitzbänken. So erstklassig wie bei einem Tourer fällt die flauschige, aber nicht zu weiche Yamaha-Sitzgelegenheit aus. Kaum schlechter residiert es sich auf der BMW und Triumph. Nur die KTM lässt sich in dieser Beziehung hängen. Die relativ schmale, einteilige Sitzbank fordert sportliche Askese vom Piloten samt Beifahrer. Apropos Beifahrer, der findet auf der Guzzi das kommodste und geräumigste Plätzchen. BMW und Triumph folgen gleichauf. Und wie bei der KTM muss auch die Sozia auf der Ducati den sportlichen Anlagen des Bikes Tribut zollen. Die hohe, im Fahrtwind exponierte Sitzposition und der enge Kniewinkel sind auf Dauer ungemütlich.

Wir verlassen die Autobahn kurz nach Términi Imerese. Unscheinbar zweigt die Landstraße in Richtung Cerda ab. Mitten in der ersten Kurve weht uns der Hauch der Geschichte entgegen: die verwitterte Boxengasse und die Tribüne des Circuito delle Madonie. Durch das bis ins Jahr 1972 ausgetragene Langstreckenrennen Targa Florio gelangte der 72 Kilometer lange Rundkurs auf öffentlichen Straßen zu Weltruhm. Heute lebt die Historie nur bei Klassik-Wettbewerben gelegentlich wieder auf. Wir steigen ab.

Hochhackige Reiseenduros sind für Kurzbeinige eben nicht geschaffen. Zwar lassen sich die Sitze der BMW, Guzzi, Triumph und Yamaha jeweils in zwei unterschiedlichen Höhen fixieren, 845 Millimeter bleibt dennoch das Mindestmaß in Sachen Sitzhöhe. Beim nächsten Schwung in den Sattel werden die Ducati (840 mm) und die Kawa (830 mm) demonstrieren, wie spürbar wohltuend  sich selbst die kleinsten Unterschiede in dieser Beziehung auswirken.

Ist Fabio bereits im Rennfieber? Wir lassen es auf der alten Piste zunächst ordentlich krachen. Sturzraum? Nicht der geringste. Unseren Mut kühlen allerdings andere Dinge ab. „Frana“, Erdrutsch, warnen Schilder immer wieder vor Verwerfungen. Und keines übertreibt. Wüste Abbrüche, oft über eine Handbreit hoch, ziehen sich in alle Richtungen über die Straße. Wer sie schräg oder zu schnell anfährt, dem bleibt keine Chance.

Gas raus, Genussmodus. Wie schon beim Sitzkomfort orientieren sich die Reiseenduros auch beim Windschutz in Richtung Tourer. Außer der Kawa, Guzzi und Triumph runden alle den Wetterschutz zudem noch mit serienmäßigen Handschalen ab. Erstklassig die mit einem höheren Nachrüstschild (139 Euro) ausgestattete Triumph. Der Fahrer bleibt nahezu komplett vom Fahrtwind verschont. Für die individuelle Anpassung sorgt zudem ein mit zwei Rändelschrauben justierbarer Raster. Technisch fast identisch bleibt die BMW mit einem etwas schmaleren Schild – wieder – knapp dahinter. Ausreichend auch die ebenfalls mit größerer Scheibe (159 Euro) ausgestattete Honda und die Yamaha, deren Schild im Test in der höchsten Stellung montiert wurde. Die schmale Scheibe der Ducati trügt. Durch die tiefe Sitzposition hält auch sie gekonnt den Orkan vom Fahrer fern, während es auf der Kawasaki und KTM etwas stärker windet.

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Sieger Reise - Wertung: Triumph Tiger Explorer.

Die Rennpiste biegt links ab, uns zieht es in Richtung Süden. Kurve folgt auf Kurve. An das Verstauen der Utensilien heute Morgen auf der Fähre denkt keiner mehr. Am allerwenigsten der BMW-Fahrer. Die per Handhebel erweiterbaren Vario-Koffer sind einfach der Hammer. Die Gepäcksysteme der Konkurrenz lassen sich zwar alle weitgehend unkompliziert an- und abbauen, können aber qualitativ kaum mit den BMW-Pendants konkurrieren oder sind schlichtweg wie die Honda- und Triumph-Koffer doppelt so teuer. Übrigens: Die bereits bei der Präsentation im November vorgestellten Koffer an der Kawasaki sind in der Serie bis dato noch nicht lieferbar. Auf einen Hauptständer muss sie wegen des Vorschalldämpfers verzichten. Für den Kettenservice nicht ideal. Immerhin können Ducati-Treiber einen Zentralständer nachrüsten (203 Euro), bei der KTM gehört er zur Serienausstattung. Allerdings: Von allen Maschinen lässt sich nur die BMW mit moderatem Kraftaufwand auf den Mittelständer hieven, während es für den Rest der Liga recht kräftige Arme braucht. In der Zeit, in der das Trio Kette schmiert, darf der Rest der Mannschaft schon die erste Zigarette rauchen gehen. Ein Hoch auf den wartungsfreien Kardanantrieb.

Erst auf der Nationalstraße vor Vallelunga streckt sich das Asphaltband wieder aus. Zurück in den Reisetrott. Wieder tut sich die Triumph hervor. Nahezu vibrationsfrei surrt der Dreizylinder vor sich hin, ergänzt mit seinem geschmeidigen Auftreten den souveränen Eindruck, den die Britin bereits auf der langen Anreise hinterlassen hat. In Sachen Tourentauglichkeit muss sich selbst die GS – trotz ESA-Fahrwerk und aller erwähnten Stärken – der eindeutig auf Langstreckenkomfort fokussierten Triumph knapp geschlagen geben.

Mit Respektabstand folgt ein Duo: zum einen die neue Honda Crosstourer, die trotz eines homogenen Gesamtpakets und eines sehr kultivierten V4-Motors, aber mit ordentlich Pfunden auf den Rippen und für den Soziusbetrieb zu weich abgestimmter Federung Terrain verliert. Zum anderen die wackere Yamaha, deren unbestreitbare Reisequalitäten nur von kleineren Schwächen (Volumen Gepäcksystem, Gewicht) eingebremst werden. Auch nicht schlecht: die Moto Guzzi, die mit riesigem 32-Liter-Tank und tollem Komfort ihr Rekordgewicht von 291 Kilogramm wettmacht und damit auf großer Tour sogar die in Sachen Komfort und Laufkultur des Motors weniger touris¬tisch orientierte Ducati, die etwas farblose Kawasaki oder die zu offroadig ausgerich¬tete KTM in die Schranken weist.

Landstrasse

Fabio blinkt nach rechts. Vor uns liegt eine an die Toskana erinnernde Hügellandschaft. Ein ständiges Bergauf und Bergab. Kein Meter eben, kaum einer geradeaus. Die Vorfreude auf den Kurvenswing vertreibt endgültig die nüchternen Gedanken an Gepäckunterbringung oder Langstreckentauglichkeit. Denn für die Landstraßenwertung zählen vor allem Fahrspaß und Emotionen – und deshalb die Kernkompetenzen eines Motorrads: Motorcharakteristik, Handling, Lenkpräzision, Fahrwerksabstimmung und Bremsen.

Doch bereits nach den ersten Schwüngen bremsen uns diese Schilder wieder ein: „Frana“. Wie heißes Wachs scheinen die Straßen von den Hängen hinabzutropfen. Dass der Asphalt fast überall auf der Insel speckig-glatt schimmert und wenig Grip bietet, macht den Ritt nicht einfacher. Den Moto Guzzi-Piloten ficht das noch am wenigsten an. Denn die Gelassenheit der Stelvio überträgt sich auf das Personal. Unaufgeregt pocht sich der 90-Grad-V-Motor die Drehzahlleiter hoch, legt erst ab 5000/min richtig los. Was soll’s? Guzzisti lassen sich für geräuscharmes Schalten etwas Zeit, freuen sich über das komfortabel abgestimmte Fahrwerk, das neutrale Lenkverhalten und wuchten die mit 291 Kilogramm (alle Angaben vollgetankt mit Gepäckträger, ohne Koffer) stattliche Masse ohne Hektik von Kurve zu Kurve. Auch so kann man glücklich werden.

In der Ruhe liegt auch für die Honda die Kraft. Nicht nur der üppigste Radstand, der längste Nachlauf und mit 283 Kilogramm  das zweithöchste Gewicht der Achtergruppe bremsen den Rhythmus auf der Landstraße. Auch Gabel und Monoshock setzen mit weichen Federraten, schwacher Dämpfung und den mit 145 Millimetern kürzesten Federwegen der Riege auf Holperstrecken frühe Grenzen. Den Kontrapunkt zu dieser Ausrichtung setzt der Motor. Druckvoll und äußerst kultiviert schiebt der 76-Grad-Vau-Zwo an, lässt nur in engen Kurven beim Lastwechsel seinen Kardanantrieb leise klacken. Tadellos:  die fein dosierbare und im Extremfall sensibel regelnde Kombibremse.

Kurz vor Mussomeli ragt das auf einem 80 Meter hohen Felsblock erbaute Castello Manfredonico eindrucksvoll in den Himmel. Fabio, der auf der Yamaha sitzt, präsentiert den Anblick beim Fahren stolz mit ausgebreiteten Armen. Vertrauen ist das Schlagwort für die Super Ténéré. Mit ihr wird jeder schnell warm. Superb abgestimmte Federung und die am besten dosierbaren Bremsen des Testfelds treffen auf ein unaufgeregtes Handling und einen leicht zu beherrschenden Motor. Dennoch: Was für die einen die unkomplizierte Traumpartnerin darstellt, empfinden andere als biedere Hausfrau. Sie wünschen sich mehr Pepp im etwas trägen Motor und weniger Speck auf ihrer Hüfte (Gewicht: 267 Kilogramm).

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Sieger Landstrassen - Wertung: Ducati Multistrada.

Mit einer Wespentaille kann die acht Kilo schwerere Triumph (275 Kilogramm) auch nicht glänzen. Die Britin definiert sich – wie schon auf der Reise – durch ihren bärenstarken Dreizylindermotor. Der 1215-cm³-Drilling schiebt derart souverän und ruckfrei an, als bräuchte es das Sechsganggetriebe nur als Sonderzubehör. Wenig erstaunlich, dass das Fahrwerk im Kurvengeschlängel Mühe hat, mit diesem vortrefflichen Partner Schritt zu halten.

Das Handling zollt der schieren Masse, die Lenkpräzision der deutlich überdämpften Gabel und die Schräglagenfreiheit der breit bauenden Fußrastenanlage Tribut. Das 17 Zoll große Vorderrad – neben der Ducati das einzige im von 19-Zöllern dominierten Testfeld – definiert das Fahrgefühl auf der Kawasaki. Messerscharf biegt die von der Z 1000 zur Versys konvertierte Kawa ab, lässt sich spielerisch von einer Schräglage in die nächste werfen und zeigt unverhohlen ihre sportlichen Gene. Die der einzige Reihenvierzylinder dieser Klasse stilecht ergänzt. Unangestrengt zieht der 1000er vom Drehzahlkeller bis in höchste Touren durchs Drehzahlband, überlässt dem Piloten die Gangart. Einerseits säuselt er selbst im sechsten Gang noch lammfromm durch die Dörfer, andererseits beißt er ab 5000 Touren aggressiv zu und macht die Versys zum Landstraßenfeger. Nur das unterdämpfte Federbein und die mäßig dosierbaren Bremsen spielen gerade hier unter den Extrembedingungen des asphaltierten Wellenbandes den Spaßverderber.

Von diesen Bedingungen lässt sich die KTM am allerwenigsten beeindrucken. Die mit 210 Millimetern längsten Federwege des Oktetts saugen selbst die schärfsten Kanten lässig auf, sind mit riesigen Einstellbereichen zudem optimal auf jeden Geschmack abzustimmen. Wie eine Trennscheibe schneidet sich der schmale und hohe Vorderradreifen (90/90-21) in engen Kehren in den Asphalt, gibt der Österreicherin eine hohe Lenkpräzision. Dass die Front bei tieferen Schräglagen nicht die Haftungsreserven von 19- oder gar 17-Zöllern aufbringen kann, stört beim gutmütigen Charakter des Pirelli Scorpion MT 90 nur in zweiter Linie. Eher, dass das Handling durch den hohen Schwerpunkt etwas träge ausfällt und – vor allem – die Vorderradbremse vom Klassenstandard weit entfernt ist. Teigig im Gefühl und mit mäßiger Wirkung trübt der Stopper den Fahrspaß im Kurvengewürm. Der vom Motor zum Glück wieder aufgefrischt wird. Wer sich mit dem un¬runden Lauf unter 3000 Touren (das raue Hacken früher Modelle ist seit geraumer Zeit besänftigt) arrangieren kann, dem bietet der quicklebendige 75-Grad-V2 einen emotionsstarken Auftritt.

Den hat sich BMW spätestens seit dem Modellwechsel im Jahr 2010 ebenfalls auf die Fahnen geschrieben. Der dohc-Zylinderkopf aus der HP2, größere Drosselklappendurchmesser und eine Auspuffklappe belebten den ohnehin nicht mehr trägen Boxer ein weiteres Mal. Und so drückt der 1170er mit tiefem Bass aus den Haarnadelkurven, lassen sich die Gänge auf den Zwischengeraden lang ziehen.

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Auf die Plätze, fertig, los: Le Mans-Start an der Targa Florio.

Gut, es dauert seine Zeit, bis man sich an die Telelever-Vorderradführung gewöhnt hat, vermisst auch später noch deren Rückmeldung. Doch die satte Straßenlage und vor allem die beim Bremsen kaum eintauchende Front bringt auf der sizilianischen Berg- und Talbahn viel Ruhe ins Fahrwerk. Apropos Fahrwerk. Auch im fünften Modelljahr des 2008 eingeführten ESA- (Electronic Suspension Adjustment) Fahrwerks beeindruckt die Bandbreite der per Knopfdruck einstellbaren Federungsabstimmung.

Trotz all diesen Meriten kann in diesem Feld nur eine zur Königin der Landstraße avancieren: die Multistrada. So sehr die Konstrukteure das Einsatzspektrum der Ducati auch zu erweitern versuchen, zu ihrer Bestimmung findet die Italienerin auf der Landstraße. So direkt wie der bullige 1198-cm³-V2 am Gas hängt, so brachial wie die 150 PS am Kurvenausgang den Allerwertesten gegen die Sitzbankkante drücken, so leicht wie in diesen Momenten plötzlich das Vorderrad wird, diesen Erlebniswert kann keine des Achters auch nur annähernd bieten.

Selbst ruhigere Gemüter als Fabio lockt dieser Testastretta-Motor aus der Reserve. Längst wundert sich keiner mehr, wenn der schwarz-rote Schnabel der Duc die sizilianische Landschaft formatfüllend aus dem Rückspiegel verdrängt. Dass das – ähnlich dem ESA von BMW – elektronisch einstellbare Öhlins-Fahrwerk nicht die enorme Bandbreite des bayerischen Pendants abzudecken vermag, schmerzt vor diesem Hintergrund weniger. Vor allem, weil die Grundabstimmung des Fahrwerks den potenten Auftritt des Motors untermauert. Wie festgesaugt zieht das 17-Zoll-Vorderrad die leistungsstarke Dame aus Bologna präzise um die Kehren, lässt sie mit ihren gerade mal 232 Kilogramm lässig in Schräglage fallen, mit den potenten Stoppern brachial zusammenbremsen – und sich summa summarum auf diesem Terrain von den Kolleginnen absetzen.

Das Valle dei Templi, das Tal der Tempel, in Agrigento signalisiert endgültig das Ende der Achterbahn. Direkt neben der Hauptstraße dokumentieren 2500 Jahre alte griechische Tempel die wechselvolle Besiedelung Siziliens. Uns zieht es weiter. Das Wahrzeichen dieser größten aller Mittelmeerinseln, der 250 Kilometer entfernte, zurzeit ausgesprochen aktive Vulkankegel des Ätna lockt.

Offroad

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Mit moderaten Offroad-Qualitäten erlauben Reiseenduros gelegentlich, die Grenzen der Urlaubs- oder Wochenendtour zu verschieben. Wie viel Offroad-Geist steckt noch in den zweirädrigen SUV?

Zeitsprung. Ragusa mit seiner sehenswerten historischen Altstadt, der Ibla, liegt hinter uns. Wir schwingen Richtung Norden, als sich der Dunst bei Francofonte plötzlich hebt. Als wäre ein imaginärer Schleier von ihm gezogen worden, füllt er den Horizont – der Ätna, das Wahrzeichen Siziliens. 3369 Meter hoch und derzeit in einer eruptiven Phase. Erst im April 2012 brach er letztmals aus. Wenig später schrauben wir uns die Straße zum Rifugio Sapienza hoch. Eine Trasse durch eine Mondlandschaft. Frisch renovierte Asphaltstücke erinnern daran, dass die Lavaströme erst vor Kurzem die Fahrbahn – und alles andere, was sich ihnen in den Weg stellte – wegschmolzen. Kurz darauf die Ernüchterung. Der Ranger blickt düster drein, wiederholt sich immer wieder: „no fuoristrada“, kein Geländeabstecher im Naturpark Ätna. Unser Plan, mit den Enduros auf Schotterwegen bis zur Schneegrenze hinaufzuklettern, ist geplatzt. Fabio tut, was er seit Tagen tut. Er ruft einen Bekannten an. Weiter unten im Tal, in Francavilla, fand im vergangenen Jahr die Enduro-WM statt. Eine halbe Stunde später dürfen wir zumindest dort die Feld- und Waldwege der Gemeinde befahren.

Stellt sich zunächst die Grundsatzfrage: Wie viel Offroad-Affinität steckt überhaupt noch in diesen Reiseenduros? Sind Motorschutzplatten, Sturzbügel, ausreichende Bodenfreiheit, Um- oder Abschaltbarkeit von Traktionskontrolle und ABS sowie  moderates Gewicht überhaupt ein Thema? Allein die relativ feinen Profilierungen  des Pirelli Scorpion Trail oder des Metzeler Tourance EXP demonstrieren den Einsatzschwerpunkt Asphalt. Erst recht den der Kawasaki. Wer mit der ohne jegliche Offroad-Attribute ausgestatteten Versys  ins Gelände geht, ist selbst schuld. Basta. Auch die Abenteuer-Optik der Guzzi täuscht. Mehr als ein geruhsamer Abstecher ins Grüne macht mit der schweren und  für den Einsatz im Rauen viel zu weich gefederten Italienerin wenig Sinn.

Dasselbe gilt auch für die Honda. Trotz artgerechter schlauchloser Speichenräder und abschaltbarer Traktionskontrolle bringt das stattliche Gewicht und die ähnlich der Guzzi außergewöhnlich weiche Federungsabstimmung samt den kurzen Federwegen (vorn 145, hinten 146 mm) die Crosstourer ziemlich früh an ihre Grenzen.

Ernster wird der Ausflug ins Grüne von  der Ducati genommen. Der Enduro-Fahrmodus erhöht die Federvorspannung des Stoßdämpfers, passt die Dämpfung der Federelemente an, lässt mehr Schlupf der Traktionskontrolle zu und kappt die Spitzenleistung von 148 auf 100 PS. Und  weil die Italienerin mit 232 Kilogramm nicht allzu viel Ballast herumschleppen muss, gebärdet sich der Landstraßen-Feger abseits der Straße unerwartet manierlich. Dennoch: Die Sitzhaltung fällt im Gelände inaktiv aus, die Bodenfreiheit ist mit 14 Zentimetern die geringste, Längsrillen werfen den breiten 190er-Hinterradreifen im Gelände schnell aus der Spur, und eine vertrauenerweckende Lenkpräzision ist dem 17-Zoll-Vorderrad fremd.

Den Anschluss zur wirklichen Abenteuerliga schafft erst die Triumph. Technisch besitzt die Tiger mit zweifach justierbarer oder abschaltbarer Traktionskontrolle, abschaltbarem ABS und vor allem einem 19-Zoll-Vorderrad günstige Voraussetzungen. In der Tat lässt sich mit der Britin auch stehend statt sitzend schön entlang Feldwege hetzen, mit dem zarten Motor feinfühlig die Leistung abrufen. Ins Taumeln sollte der Tiger-Pilot allerdings nicht geraten. 275 Kilogramm wollen mit Kraft in der Senkrechten gehalten werden – und Sturzbügel oder Motorschutz kosten Aufpreis.

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Sieger Offroad - Wertung: KTM 990 Adventure.

Die Erfahrung der Konstrukteure in Sachen sportlicher Dickschiff-Bau ist der Yamaha Super Ténéré anzumerken. Zwar auch mit reichlich Pfunden (267 kg) gesegnet, besticht die Yamsel mit viel Bewegungsfreiheit, einer gut austarierten Gewichtsverteilung und vor allem ausreichend progressiv abgestimmten Federelementen, die der 1200er im Groben deutlich mehr Fahrwerksreserven als Tiger und Co verleihen. Dass das ABS der Yamaha nicht abschaltbar ist, muss beim aktuellen Stand der Entwicklung kein Fehler sein. Bereits in Heft 5/2009 bewies MOTORRAD bei Vergleichsmessungen, dass moderne ABS-Technik auch unter schwierigen Bedingungen im Gelände dem Menschen ebenbürtig oder überlegen ist.

Dass jene Messung ausgerechnet mit einer BMW R 1200 GS stattfand, hat seinen Grund: Die Offroad-Qualitäten des legendären Konzepts haben Heerscharen von Weltenbummlern hinlänglich bewiesen. Dafür sorgen nicht nur das erstaunlich gut funktionierende Gelände-ESA und die  ausgesprochen neutrale Fahrposition, sondern auch der tiefe Schwerpunkt dank des flach bauenden Boxermotors. Wie ein Stehaufmännchen scheint die Bayerin nichts so schnell aus der Balance zu bringen. Nur die hart eingreifende Schlupfregelung sollte vor dem Ausflug in die Botanik abgeschaltet werden.

Dennoch: Wie alle anderen muss auch der BMW-Pilot längst den von der KTM aufgewirbelten Staub schlucken. Denn die Adventure spielt im groben Geläuf in einer eigenen Liga. Schlanke Silhouette, 18/21-Zoll-Radsatz, endurosportliche Ergonomie, toll abgestimmte Federung mit reichlich Reserven, dazu ordentlich Bodenfreiheit – die KTM verwandelt jeden Feldweg in eine Dakar-Etappe, wird erst warm, wenn die anderen bereits kochen. Viel besser geht’s kaum.

Der Fahrtwind bläst den letzten Staub aus den Kleidern, als wir auf der Straße nach Norden weiterfahren. Es scheint, als hätte sich der Ätna zum Abschied fein gemacht und seine Rauchfahne im wolkenlosen Himmel extra für uns gehisst. Vielleicht hat das alles auch Fabio arrangiert – er kannte ja unseren Plan.

MOTORRAD-Endwertungen / Fazit

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Am Ende ist der Gesamtsieger die BMW R 1200 GS Rallye: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“, wusste Aristoteles - BMW auch.

Reise – Wertung:
1. Triumph Tiger Explorer
2. BMW R 1200 GS Rallye
3. HONDA Crosstourer
3. YAMAHA XT 1200 Z Super Ténéré Worldcrosser
5. MOTO GUZZI Stelvio 1200 8V
6. Ducati Multistrada 1200 S Pikes Peak
7. KAWASAKI Versys 1000
8. KTM 990 Adventure

Landstrassen – Wertung:
1. Ducati Multistrada
2. BMW R 1200 GS Rallye
3. KTM 990 Adventure
3. KAWASAKI Versys 1000
5. TRIUMPH Tiger Explorer
6. YAMAHA XT 1200 Z Super Ténéré Worldcrosser
7. HONDA Crosstourer
8. MOTO GUZZI Stelvio 1200 8V

Offroad – Wertung:
1. KTM 990 Adventure
2. BMW R 1200 GS Rallye
3. YAMAHA XT 1200 Z Super Ténéré Worldcrosser
4. TRIUMPH Tiger Explorer
5. Ducati Multistrada 1200 S Pikes Peak
6. MOTO GUZZI Stelvio 1200 8V
7. HONDA Crosstourer
8. Kawasaki Versys 1000

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BMW R 1200 GS Rallye.

Gesamtergebnis:

Gesamtsieger: BMW R 1200 GS Rallye
„Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“, wusste Aristoteles – BMW auch

Sieger Reise: Triumph Tiger Explorer
Windschutz, Laufkultur und Ausstattung – die Britin legt die Messlatte für die Tour

Sieger Landstrasse: Ducati Multistrada 1200 S Pikes Peak
Das geringste Gewicht, der stärkste Motor, das handlichste Fahrwerk. Noch Fragen?

Sieger Offroad: KTM 990 Adventure
Wo andere verglühen, wird die KTM erst warm. Ein Traumbike, wenn der Asphalt endet

Fazit
Es hat seinen Grund, dass Reiseenduros seit Jahrzehnten zu den erfolgreichsten Motorrad-Segmenten überhaupt gehören. Während Sportler, Naked Bikes oder Chopper Mut zur konzeptionellen Lücke zeigen müssen, verfolgen die zweirädrigen Multitools den ganzheitlichen Ansatz. Den, die Kernkriterien für lustvolles Motorradfahren (druckvoller und kultivierter Motor, handliches und gut gefedertes Fahrwerk) mit den widerstrebenden Sachzwängen (Windschutz, Reichweite oder Gepäckunterbringung) in Einklang zu bringen. Das tut diese Spezies mit großem Erfolg. Dennoch: Die viel zitierte eierlegende Wollmilchsau wird es nie geben.

Gerade die Siegerinnen der einzelnen Wertungen zeigen dies eindrücklich. Die Triumph Explorer, die neue Chefin auf der großen Tour, zollt ihrem Gewicht und ihren Dimensionen sowohl auf der Landstraße als auch im Gelände Tribut. Die auf der Landstraße so flinke und agile Ducati Multistrada bleibt unter touristischen Aspekten nur noch mit Abstrichen am Ball und verliert im Gelände ohnehin jede Menge Terrain. Und die abseits der Straße so formidable KTM kann sich zwar auf der Landstraße noch auf Augenhöhe mit der Verfolgergruppe halten, bleibt mit ihrer asketischen Ausrichtung auf der Reise aber einiges an Komfort schuldig.

Womit die eierlegende Wollmilchsau doch wieder ins Spiel kommt. Denn nur so viel zur Siegerin der 1000-Punkte-Wertung, der BMW R 1200 GS: Dreimal Platz zwei reicht auch hier wieder für den Gesamtsieg.

Die aktuelle Ausgabe
MOTORRAD 12 / 2023

Erscheinungsdatum 26.05.2023