Test Cagiva Gran Canyon 900
Die Macht der Gefühle

Vergeßt die technischen Daten, denkt nicht in vorgefertigten Mustern, vergeßt Begriffe wie Enduro und Funbike, und vergeßt vor allem die Elefant: Cagiva hat ein völlig neues, sehr emotionales Motorrad gebaut.

Triefnaß steht sie im Büro, auf dem Teppichboden bilden sich langsam kleine Pfützen. Sie nimmt nichts davon wahr, ist komplett durch den Wind, und ihr Redefluß könnte allenfalls von der Silvretta-Staumauer gestoppt werden: »Das ist es. Das ist der maximale Spaß auf zwei Rädern. So etwas hast du noch nicht erlebt. Fegt um die Ecken wie der geölte Blitz, dieses Ding. Und dieser Motor – geht wie eine Steinschleuder. Du spannst den Gashahn, und es katapultiert dich über die Alpen. Hab’ sie alle abgehängt, am San Bernardino und entlang der Via Mala. Die haben später die Zündschlüssel ihrer Superbikes in die Luft geworfen und geschrien: Wer will die Krücken haben?«
Der Einwand, ob sie nicht erst mal ablegen wolle, daß man schon von Leuten gehört habe, denen plötzlich Schwimmhäute gewachsen seien, dringt nicht zu ihr durch. Eva Breutel, Italien-Korrespondentin der Redaktion MOTORRAD, ist bereits infiziert: vom Virus Cagiva Gran Canyon 900.
»Ich wollte nur noch fahr’n. Hab alles um mich herum vergessen, den Regen, den Sturm. Auch das Tanken. Armselige Kontrolleuchte. Einfach übersehen. Und natürlich kein Reservehahn. Aber egal. Das passiert dir nur einmal. Genau 20,6 Liter gehen in den Tank, wenn man beide Seiten befüllt. Sind zwar umständlich, die zwei Einfüllstutzen, sehen aber originell aus. Wie alles an der Canyon.«
Die Frau wird sich ganz fürchterlich erkälten.
»Schau sie dir an. Und vergiß das Topcase. Wurde nur montiert, weil man mit der Gepäckbrücke nix anfangen kann. Rutscht alles runter. Außerdem findest du keinen Ankerplatz für Spannriemen. Zu blöd. Ist an sich nämlich ein gutes Reisemotorrad. Dürftiger Winschutz, ja, aber sonst: sehr komfortabel. Breite, bequeme Sitzbank, keine nervigen Motorvibrationen...«
Sie muß es wissen. Schließlich hat Eva die Strecke Varese-Stuttgart, sprich 600 Kilometer hinter sich. Mit unnachgiebiger Härte leierte sie dem Cagiva-Oberen Claudio Castiglioni eine Gran Canyon zu Testzwecken aus den Rippen, dabei war ursprünglich nur ein Fahrbericht vor Ort geplant.
»Ich sag dir: Mit dieser Maschine ist Cagiva endlich mal wieder ein ganz großer Wurf gelungen. Und die wissen das, sind allerbester Stimmung dort unten, in Varese. Von wegen Cagiva ist tot...«
Kann wohl nur einer italophilen Motorradliebhaberin passieren, daß sie vor lauter Begeisterung über ein neues Tifosi-Bike nicht bemerkt, wie ihre Füße zu Kaulquappen mutieren.
Falsch. Die Gran Canyon nistet sich in allen Herzen ein. Da ist so etwas wie Leidenschaft im Spiel. Und es beginnt schon bei der Sitzposition: Oberkörper leicht nach vorn gebeugt, Knie dynamisch angewinkelt, den hohen, breiten Lenker gut im Griff. Man nimmt nicht einfach so Platz und fährt los: Man stürzt sich ins Leben.
Mittenrein. Schnell, schräg, schön. Mit traumwandlerischer Sicherheit landet man auf der richtigen Linie, kann sich dem freien Spiel der Kräfte anvertrauen und über alternative Bewegungsformen nachdenken. Zum Beispiel: rückwärts fahren. Auf einem Rad. Gasgriff zwischen den Zähnen, einen Finger in der Nase. Jede Wette – die Canyon würde das mitmachen.
In eindrucksvoller Manier demonstriert die 232 Kilogramm schwere Cagiva, daß gutes Handling und hohes Gewicht keine unvereinbaren Gegensätze darstellen müssen. Ihr Fahrverhalten besitzt so etwas – ja... Ganzheitliches. Da stimmt einfach alles: tadelloser Geradeauslauf, präzise Lenkung, haftfreudige Radial-Serienbereifung. Und dann diese nahezu perfekt abgestimmten Federelemente. Marzocchi vorn, Boge hinten. Im Paarlauf meistern sie den dreifachen Rittberger der hohen Fahrwerkskunst, vereinen Stabilität, sensibles Ansprechverhalten und Komfort. Mögen die Straßen mit Frostbeulen überwuchert sein, die Canyon brettert ungerührt drüber. Das einzige, wogegen sie sich wehrt: Bremsen in Schräglage.
Was der modifizierte Ducati 900 SS-Motor in der Cagiva veranstaltet, ist phänomenal. Mit unerhörtem Elan legt der V-Zweizylinder los. Gewaltig und doch so sanft. Wie eine Katze, die zum Sprung ansetzt. Der Hinterreifen verbeißt sich im Asphalt, das Vorderrad strebt himmelwärts. Womit auch die Schlappe beim Sprint von 0 auf 100 km/h erklärt wäre. Man beachte jedoch die Durchzugs-Noten: Da kommt eine Honda VTR 1000 kaum mit, und die 900 SS sieht kein Land mehr.
Klar geht dem kurz übersetzten Twin obenraus die Luft aus, freilich sind gemessene 70 PS nicht die Welt. Wer nach Spitzenleistung trachtet, ist auf dem falschen Trip. Hier geht’s um Spannkraft, um die Lust, am langen Band des Desmos von einer Kurve zur nächsten zu schnalzen.
Laufkultur und Startverhalten der 900er liegen auf höchstem Niveau. Der Spritkonsum hält sich in Grenzen. Daß sie allerdings trotz elektronischer Einspritzung ohne Katalysator daherkommt, ist bitter. Was gibt’s noch? Das Getriebe. Hart, aber exakt. Und die Kupplung verlangt nach einer starken Hand. Dafür ist der Hebel einstellbar. Das hat man ja auch gerne. Überhaupt weiß die Cagiva mit netten Ausstattungsdetails zu gefallen. Obendrein ist sie ordentlich verarbeitet. Wer sein Motorrad jedoch gerne mal auseinanderbaut, nur um es wieder zusammenzubauen, könnte an ihr verzweifeln. Sind so viele kleine Schräubchen. Ist eben eher was fürs Herz, diese Canyon.

Unsere Highlights

Fazit - Cagiva Gran Canyon 900

Individuell – doch alles andere als kapriziös. Gut – aber keinesfalls langweilig: Solche Motorräder braucht die Welt. Die Gran Canyon ist eine echte Fahrmaschine, an der sich Schubladendenker die Zähne ausbeißen werden. Weder Enduro noch Funbike noch sonst was. Einfach nur Motorrad. Und wie: Ein Zweizylinder mit enormem Antritt, ein Fahrwerk zum Reisen, Rasen und Schwärmen, eine Ausstrahlung, die ihresgleichen sucht. Einziger Haken: der Preis. Mit rund 18500 Mark viel zu hoch. Da sollte Cagiva schleunigst neu kalkulieren.

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MOTORRAD 12 / 2023

Erscheinungsdatum 26.05.2023